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Inhaltsverzeichnis
Dritter Band
Fünfter Abschnitt 7
[Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes] 14
Die Brautwahl 28
Der unheimliche Gast 112
Sechster Abschnitt 164
Das Fräulein von Scudéri 171
Spielerglück 249
[Der Baron von B.] 288
Vierter Band
Siebenter Abschnitt 305
Signor Formica 317
[Zacharias Werner] 418
Erscheinungen 434
Achter Abschnitt 450
Der Zusammenhang der Dinge 451
[Vampirismus] 516
[Die ästhetische Teegesellschaft] 532
Die Königsbraut 535
Anmerkungen 599

E.T.A. HOFFMANN Gesammelte Werke in Einzelausgaben 5


E.T.A. HOFFMANN


Die Serapionsbrüder


Gesammelte Erzählungen und Märchen


Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann II



AUFBAU-VERLAG

Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse Redaktion Rudolf Mingau



Dritter Band


Fünfter Abschnitt

Aufs neue hatte das Leben in seiner stets wechselnden Gestaltung die Freunde auseinandergeworfen. Sylvester war zurückgegangen aufs Land, Ottmar in Geschäften verreiset, Cyprian desgleichen, Vinzenz zwar am Orte, aber wieder einmal nach seiner gewöhnlichen Weise im Gewühl verschwunden und nicht aufzufinden. Nur Lothar pflegte den kranken Theodor, den ein lange bekämpftes Übel doch zuletzt auf das Lager gebracht, das er nun so bald nicht wieder verlassen durfte.

Mehrere Monate waren vergangen, da kehrte Ottmar, der eigentlich durch seine schnelle unerwartete Abreise die Zerstörung des Klubs begonnen, zurück und fand, statt, wie er gehofft, die Serapionsbrüderschaft in vollem Flor anzutreffen, einen kaum genesenen Freund, der die Spuren harter Krankheit noch im bleichen Antlitz trug und den die Brüder verlassen, bis auf einen, der ihm mit allen Ergießungen einer mürrischen Laune gar hart zusetzte.

Lothar befand sich nämlich wieder indes seltsamen Seelenstimmung, in der er überzeugt war, das ganze Leben werde schal und ungenießbar durch die ewigen moralischen Foppereien des feindlichen Dämons, den die Natur dem Menschen, den sie behandle wie ein unmündiges Kind, zur Seite gestellt als pedantischen Hofmeister und der nun wie dieser die süßen Makronen versetze mit bittrer Arzenei, da-

mit der Junker einen Ekel davor empfinde, nicht mehr davon genieße und so den guten Magen konserviere.

"Was für eine heillose Idee", so rief Lothar, als Ottmar ihn bei Theodor traf, im höchsten Unmut aus, "was für eine heillose Idee war es, uns, jede Kluft, die die Zeit geschaffen, schnell überspringend, so nahe wieder aneinander, ineinander, möcht ich sagen, zu rücken. Dem Cyprian verdanken wir den Grundstein des heiligen Serapion, auf den wir ein Gebäude stützten, das für das Leben gebaut schien und zusammenstürzte in wenig Monden. Man soll sein Herz an nichts hängen, sein Gemüt nicht hingeben dem Eindruck fremder Erregung, und ich war ein Narr, daß ich es tat. Denn gestehen muß ich euch, daß die Art, wie wir an unsern Serapionsabenden zusammenkamen, mein ganzes Innres, mein ganzes Wesen so in Anspruch genommen hatte, daß, als die würdigen Brüder sich so plötzlich zerstreut in alle Welt, mir wirklich das Leben ohne unsere Brüderschaft ebenso erschien wie dem melancholischen Prinzen Hamlet, nämlich ekel, schal und oberflächlich!"

"Da", nahm Ottmar lachend das Wort, "da kein Geist aus dem Grabe gestiegen ist und dich in mitternächtlicher Weile zur Rache gemahnt hat, da du keine Geliebte ins Kloster schicken, keinen meuchelmörderischen König mit einem vergifteten Rapier niederstoßen darfst, so magst du auch die Melancholie des Prinzen Hamlet aufgeben und bedenken, daß es der gröbste Egoismus sein würde, jedem Bunde, den in Herz und Gemüt gleichgestimmte Seelen schließen, deshalb zu entsagen, weil der Sturm des Lebens ihn zerstören kann. Der Mensch darf nicht bei jeder leisesten unsanften Berührung die Fühlhörner einziehen wie ein schüchternes überempfindliches Käferlein. Und gilt dir die Erinnerung an in froher herrlicher Gemütlichkeit verlebte Stunden denn für gar nichts? Stets auf meiner ganzen Reise habe ich an euch gedacht. An den Abenden des Serapionsklubs, den ich in vollem Flor glaubte, habe ich mich unter euch versetzt, allerlei buntes Ergötzliches vernommen und

euch auch wohl mit manchem erfreut, was mir gerade der Geist gegeben. — Doch was schwatze ich! — was schwatze ich! — Ist denn wohl in Lothars Seele nur das mindeste von dem, was der augenblickliche Unmut aus ihm spricht? — Sagt er nicht selbst, daß nur unsere Trennung ihn verstimmt hat?"

"Theodors Krankheit", fiel Lothar dem Ottmar ins Wort, "die ihn dem Grabe nahe brachte, war eben auch nicht dazu geeignet, mich in eine fröhliche Stimmung zu versetzen."

"Nun", sprach Ottmar, "Theodor ist genesen, und was den Serapionsklub betrifft, so weiß ich gar nicht, warum er nicht für schön und vollständig geachtet werden sollte, wenn drei würdige Brüder sich versammeln und so die Brüderschaft aufrechterhalten?"

"Ottmar", sprach Theodor, "hat vollkommen recht, es ist ganz unumgänglich notwendig, daß wir nächstens uns versammeln auf serapiontische Weise. Was gilt's, dem wackern Keim, den wir bilden, entkeimt wieder ein lebensfrischer Baum mit Blüten und Früchten. Ich meine, der Zugvögel Cyprian kehrt wieder heim, dem Sylvester wird es draußen bange, und er sehnt sich, wenn die Nachtigallen schweigen, nach anderer Musik, und Vinzenz taucht auch wohl wieder auf aus den Wogen und gackert sein Liedchen

"Tut", sprach Lothar etwas sanfter als zuvor, "tut, was ihr wollt, nur verlangt nicht, daß ich etwas damit zu schaffen haben soll. Dabei will ich aber sein, wenn ihr euch serapiontischt versammelt, und ich schlage vor, daß, da Freund Theodor soviel als möglich in der freien Luft sein soll, dies im Freien geschehe."

Die Freunde bestimmten den letzten Mai, der in wenigen Tagen einfiel, als die Zeit, einen schönen, beinahe gar nicht besuchten Gastgarten aber als den Ort ihrer nächsten serapiontischen Zusammenkunft.



Ein Gewitter hatte, schnell vorüberziehend und Baum und Gebüsch nur mit einigen schweren Tropfen Himmels- balsams besprengend, die drückende Schwüle des Tages abgekühlt. Im herrlichsten Glanz stand der schöne Garten, den der liebliche Wohlgeruch des Laubes, der Blumen durchströmte, und fröhlich zwitschernd und trillerierend rauschten die bunten Vögel durch die Büsche und badeten sich in den benetzten Zweigen.

"Wie", rief Theodor, nachdem er mit den Freunden in dem Schatten dickbelaubter Linden Platz genommen, "wie fühle ich mich so durch und durch erquickt, jede Spur des leisesten Übelbefindens ist verschwunden, es ist, als sei mir ein doppeltes Leben aufgegangen, das in reger Wechselwirkung sich selbst erst recht faßt und empfindet. In der Tat, man muß so krank gewesen sein als ich, um dieses Gefühis fähig zu werden, das, Geist und Gemüt stärkend, die eigentliche Lebensarzenei scheint, welche die ewige Macht, der waltende Weltgeist uns selbst unmittelbar spendet. — Aus meiner eigenen Brust weht der belebende Hauch der Natur, es ist mir, als schwämme ich, aller Last entnommen, in dem herrlichen Himmelsblau, das über uns sich wölbt!" — "Diese Begeisterung", nahm Ottmar das Wort, "zeigt, daß du vollkommen genesen bist, mein lieber teurer Freund, und Dank der ewigen Macht, die dich mit einem Organism ausstattete, stark genug, dergleichen Krankheit, wie sie dich überfiel, zu überstehen. Schon daß du überhaupt genesen, ist zu verwundern, noch mehr aber, daß dies so schnell geschah."

"Was mich betrifft", sprach Lothar, "so verwundere ich mich über Theodors schnelle Herstellung ganz und gar nicht, da ich auch nicht einen Augenblick daran gezweifelt. Du kannst es mir glauben, Ottmar, so erbärmlich es auch mit Theodors physischem Zustande aussehen mochte, psychisch ist er niemals recht krank gewesen, und solange der Geist sich aufrechterhält - nun, es war eigentlich zum Totärgern, daß der kranke Theodor sich immer in viel besserer Stimmung befand als ich kerngesunder Mensch und daß er oft, war nur der Schmerz vorüber, sich in tollen Späßen erlustigte,

wie er denn auch die seltene geistige Kraft besaß, sich manchmal seiner Fieberphantasien zu erinnern. — Viel zu sprechen, das hatte ihm der Arzt verboten; wollt ich ihm aber dieses, jenes erzählen in ruhigen Stunden, so winkte er mir Stillschweigen zu, meinte auch wohl, ich solle ihn seinen Gedanken überlassen, er arbeite an einer großen Komposition oder sonst."

"Ja", rief Theodor lachend, "ja, mit Lothars Erzählen, da hatte es eine ganz besondere Bewandtnis! — Daß Lothar gleich, nachdem die Serapionsbrüder sich zerstreut hatten, von dem Dämon der bösen Laune gepackt wurde, weißt du, unmöglich kannst du aber erraten, welchen besonderen Gedanken er in dieser Zeit des Unmuts faßte. — Eines Tages trat er an mein Bett (ich lag schon darnieder) und sprach: ,Die schönsten reichsten Fundgruben für Erzählungen, Märchen, Novellen, Dramen sind alte Chroniken. Cyprian hat das längst gesagt, und er hat recht.' .—Gleich den andern Tag bemerkte ich, unerachtet mir die Krankheit hart zusetzte, doch sehr gut, daß Lothar dasaß, in einen alten Folianten vertieft. Genug, er lief jeden Tag nach der öffentlichen Bibliothek und schleppte alle Chroniken zusammen, deren er nur habhaft werden konnte. Mochte das nun sein, aber seine ganze Phantasie wurde erfüllt von den seltsamen tollen Mären jener verjährten Bücher, und ich bekam, mühte er sich, mir in ruhigeren Stunden aufheiternde Dinge zu erzählen, von nichts anderm zu hören als von Krieg und Pestilenz, von Mißgeburten, Stürmen, Kometen, Feuer- und Wassersnot, Hexen-Autodafés, Zaubereien, Wundern, vorzüglich aber von den mannigfachen Taten des Gottseibeiuns, der bekanntlich in allen alten Chroniken eine starke bedeutende Rolle spielt, so daß man gar nicht begreifen kann, warum er sich jetzt so still verhält, hat er vielleicht nicht ein anderes Kostüm angelegt, das ihn zur Zeit unkendtlich macht. Nun sage mir, Ottmar, sind solche Gespräche wohl für einen Kranken meiner Art geeignet?"

"Ihr möget", nahm Lothar das Wort, "ihr möget mich

nicht ungehört verdammen. Wahr ist es und keck, zu behaupten, daß in alten Chroniken viel Herrliches steckt für schreiblustige Novellisten, aber ihr wißt es, niemals hab ich mich darum sonderlich bekümmert und am wenigsten um Teufeleien nebst ihrem Anhang, ohne die eine kurze Zeit hindurch kein Novellist fertig werden konnte. Nun geriet ich aber mit Cyprian den Abend vorher, ehe er uns verließ, in großen Streit darüber, daß er es eben zu viel mit dem Teufel und seiner Familie zu tun habe, und gestand ihm offenherzig, daß ich seine Erzählung ,Der Kampf der Sänger', die ich damals, als er sie uns vorlas, mit allerlei Scheingründen schützte, für ein durchaus verfehltes Machwerk halte. Da fuhr er aber auf mich los, machte den wahrhaftigen Advocatum diaboli und erzählte mir so viel aus alten Chroniken und andern verschollenen Büchern, daß ich ganz wirr wurde im Kopf. Als nun Theodor erkrankte, als mich gerechter bittrer Unmut ergriff, da kam mir, selbst weiß ich nicht, wie es geschah, Cyprians ,Kampf der Sänger' wieder in den Sinn, ja der Teufel selbst erschien mir in schlafloser Nacht, und indem mir entsetzlich vor dem bösen Kerl graute, konnt ich ihm doch als stets bereitern Aide de camp hülfsbedürftiger Novellisten meine Achtung nicht versagen. Ich beschloß, euch allen zum Tort, im Grauenhaften und Entsetzlichen unsern Cyprianus noch zu überbieten."

"Du", rief Ottmar lachend, "du, Lothar, wolltest grauenhaft sein und entsetzlich? —Du, dessen grelle skurrile Phantasie nur den Jokusstab zu schwingen vermag?"

"Ja", erwiderte Lothar, "so hatt ich es im Sinn, und der erste Schritt, den ich dazu tat, war, daß ich in den alten Chroniken nachstöberte, die Cyprian als wahre Schatzkästlein der Teufelei gepriesen. Aber ich will euch's nur gestehen, daß mir unter der Hand alles ganz anders wurde, als ich es gewollt, gedacht." — "Das kann", rief Theodor lebhaft, "das kann ich bezeugen. Oh, es ist herrlich, wie der Teufel, wie der greulichste Hexenprozeß sich gefügt hat der Laune des Schöpfers von ,Nußknacker und Mausekönig'!

— Vernimm, o mein Ottmar, wie ich zu einem kleinen Teufeisprobestücklein unseres wackern Lothar gekommen! — Lothar hatte mich eines Tages eben verlassen, als ich, der ich, schon ziemlich bei Kräften, in der Stube auf und ab zu wandeln vermochte, auf seinem Schreibtisch das in der Tat sehr merkwürdige Buch ,Hafftitii Microchronicon berolinense' und gerade das Blatt aufgeschlagen fand, auf dem unter andern steht:

,In diesem Jahr wandelte auch der Deuvel öffentlich auf den Straßen von Berlin, folgte den Leichenbegängnissen und gebärdete sich traurig' etc.

Du wirst glauben, mein Ottmar, daß mich diese kurze erbauliche Nachricht sehr erfreute, noch mehr aber zogen mich einige von Lothars Hand beschriebene Blätter an, die daneben lagen und in denen Lothar, wie ich mich bei schneller Durchsicht überzeugte, jene seltsame Laune des Teufels oder Deuvels mit einer greulichen Mißgeburt und einem noch greulicheren Hexenprozeß in die angenehmste artigste Verbindung gesetzt hat. Hier sind diese Blätter, ich habe sie mitgebracht, dir, mein Ottmar, zur Ergötzlichkeit."

Theodor zog ein paar Blätter aus der Seitentasche und reichte sie Ottmarn hin.

"Was", rief Lothar heftig, "was, die ,Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes', die ich längst vernichtet glaubte als mißlungenes Produkt einer schillernden Laune, die hast du mir maliziöserweise entwendet und aufbewahrt, um mich in Mißkredit zu setzen bei verständigen Leuten von Bildung und Geschmack? — Her damit! — her mit dem unseligen Geschreibsel, damit ich es in hunderttausend kleine Stückchen zerreiße und preisgebe dem Spiel der Winde!"

"Mitnichten", sprach Theodor, "vielmehr sollst du mir, den du in böser Krankheit hinlänglich gequält mit dem Teufelsspuk deiner Chroniken, zu einiger Genugtuung, deine Nachricht unserm Ottmar vorlesen, indem ich dagegen die-

sem aufgebe, nichts anders darin zu suchen und zu finden als einen tollen Schwank."

"Kann ich dir", sprach Lothar, indem ein seltsames Lächeln auf seinem Gesicht vibrierte, "kann ich dir denn etwas abschlagen, o mein Theodor? Du willst, daß ich mich vor diesem ungemein ernsten und sittsamen Mann was weniges blamiere. —Wohlan, es geschehe also

Lothar nahm die Blätter und las:



"Im Jahr eintausendfünfhundertundeinundfünfzig ließ sich, zumal in der Abenddämmerung und des Nachts, auf den Gassen von Berlin ein Mann blicken von feinem stattlichen Ansehen. Er trug ein schönes Wams, mit Zobel verbrämt, weite Pluderhosen und geschlitzte Schuhe, auf dem Kopf aber ein bauschichtes Samtbarett mit einer roten Feder. Seine Gebärden waren angenehm und sittig, er grüßte höflich jedermann, vorzüglich aber die Frauen und Mädchen, pflegte auch wohl diese mit verbindlichen wohlgesetzten Reden auf anmutige Weise anzusprechen. ,Donna, gebietet doch nur über Euern untertänigen Diener, wenn Ihr in Euerm Herzen einen Wunsch traget, damit er seine geringen Kräfte dazu verwende, Euch ganz zu Willen zu sein!' So sprach er zu den vornehmen Weibern. Und dann zu den Jungfrauen: ,Der Himmel möge Euch doch einen Eheliebsten bescheren, der Eurer Schönheit und Tugend ganz würdig!' Ebenso artig bezeigte er sich gegen die Männer, und so war es kein Wunder, daß jeder den Fremden liebgewann und ihm gern zu Hülfe kam, wenn er verlegen an einer breiten Gosse stand und nicht wußte, wie hinüberkommen. Denn unerachtet er sonst groß und schön gewachsen, hatte er doch einen lahmen Fuß und mußte sich auf einen Krückstock stützen. Reichte ihm nun einer die Hand, so sprang er mit ihm wohl an die sechs Ellen hoch in die Luft und kam über die Gosse hinweg zwölf Schritte davon auf die Erde nieder. Das verwunderte denn die Leute wohl ein wenig, und mancher verstauchte sich hin und wieder auch wohl das Bein, der Fremde entschuldigte sich aber damit, daß er sonst, als noch sein Fuß nicht lahm, an dem Hofe des Königs von Ungarn Vortänzer gewesen, daß ihn daher, verhelfe man ihm nur zu einigem Springen, gleich die alte arge Lust anwandle und daß er wider seinen Willen dann erklecklich in die Luft fahren müsse, als tanze er noch zu selbiger Zeit. Dabei beruhigten sich die Leute und ergötzten sich zuletzt daran, wenn bald ein Ratsherr, bald ein Pfaff, bald ein anderer ehrenwerter Mann mit dem Fremden hopste. So lustig und guter Laune aber auch der Fremde schien, so änderte sich doch sein Betragen manchmal auf ganz verwunderliche Weise. Denn es begab sich, daß er nachts umherging auf den Gassen und an die Türen klopfte. Und öffneten die Leute, so stand er vor ihnen in weißen Totenkleidern und erhob ein jämmerliches Geheul und Geschrei, worüber sie sich gar sehr entsetzten. Andern Tages entschuldigte er sich aber und versicherte, er sei genötigt, das zu tun, um sich und die guten Bürger an den sterblichen Leib zu erinnern und an ihre unsterbliche Seele, zu deren Besten sie auf ihrer Hut sein müßten. Dabei pflegte er ein wenig zu weinen, welches die Leute ungemein rührte. Bei jedem Begräbnis fand sich der Fremde ein, folgte der Leiche mit ehrbaren Schritten und gebärdete sich gar traurig, so daß er vor lauter Wehklagen und Schluchzen nicht vermochte, in die geistlichen Lieder einzustimmen. So wie er sich aber bei solcher Gelegenheit ganz dem Mitleiden überließ und dem Gram, so war er auch ganz Vergnügen und Lust bei den Hochzeiten der Bürger, die damals gar stattlich auf dem Rathause ausgerichtet wurden. Da sang er mit lauter anmutiger Stimme die unterschiedlichsten Weisen, spielte auf der Zither, tanzte wohl stundenlang mit der Braut und den Jungfrauen auf dem gesunden Beine, das lahme geschickt an sich ziehend, und betrug sich dabei sehr ehrbar und sittig. Das beste und weshalb die Brautleute den Fremden gar gern sahen, war aber, daß er bei jeder Hochzeit dem Brautpaar die schönsten Verehrungen machte von güldenen Ketten und Spangen und anderm köstlichen Gerät. Es konnte nicht fehlen, daß die Frömmigkeit, Tugend, Freigebigkeit, Sittlichkeit des Fremden inder ganzen Stadt Berlin bekannt wurde und selbst dem Kurfürsten zu Ohren kam. Der meinte, ein solcher ehrenwerter Mann wie der Fremde müsse seinen Hof gar sehr schmücken, und ließ ihn fragen, ob er nicht eine Hofbedienung annehmen wolle. Der Fremde schrieb aber mit zinnoberroten Buchstaben auf einem Pergamentblättlein von anderthalb Ellen in der Breite und ebensoviel in der Länge zurück, er danke unterwürfig für die ihm angebotene Ehre, bitte aber den Hochwürdigen Durchlauchtigsten Herrn, ihn das ruhige Bürgerleben, welches seinem Gemüt ganz und gar zusage, in Frieden genießen zu lassen. Berlin habe er vor vielen andern Städten zu seinem Aufenthalt gewählt, weil er nirgends so liebe Menschen gefunden und so viel Treue und Aufrichtigkeit, so viel Sinn für feine anmutige Sitten, wie sie ganz in seiner eignen Art und Weise lägen. Der Kurfürst und mit ihm der ganze Hof bewunderte höchlich die schönen Redensarten, in denen das Schreiben des Fremden verfaßt, und dabei behielt es sein Bewenden.

Es begab sich, daß zur selben Zeit des Ratsherrn Walther Lütkens Ehefrau zum erstenmal gesegneten Leibes war. Die alte Wehmütter Barbara Roloffin prophezeite, daß die hübsche gesunde Frau gewiß eines holden Knäbleins genesen würde, und so war Herr Walther Lütkens ganz Freude und Hoffnung.

Der Fremde, der auf Herrn Lütkens Hochzeit gewesen, pflegte dann und wann bei ihm einzusprechen, und so kam es denn, daß er einmal in der Abenddämmerung unvermutet eintrat, als eben die Barbara Rolof fin zugegen.

Sowie die alte Barbara den Fremden erblickte, erhob sie ein lautes helles Freudengeschrei, und es war, als wenn plötzlich die tiefen Runzeln ihres Angesichts sich ausglätteten, als wenn die weißen Lippen und Wangen sich röteten, kurz,

als wenn Jugend und Schönheit, der sie längst Valet gegeben, noch einmal wiederkehren wolle. ,Ach, ach, Herr Junker, seh ich Euch denn wirklich hier zur Stelle? Ei! — seid mir doch schönstens gegrüßt!' — so rief die Barbara Rolof fin und wäre beinahe dem Fremden zu Füßen gesunken. Der fuhr sie aber an mit zornigen Worten, indem Feuerflammen aus seinen Augen sprühten. Doch niemand verstand, was er mit der Alten sprach, die, bleich und runzlicht wie vorher, sich leise wimmernd in ein Winkelchen zurückzog.

,Lieber Herr Lütkens', sprach nun der Fremde zu dem Ratsherrn, ,seht Euch wohl vor, daß in Eurem Hause nichts Böses geschehe und daß zumal bei der Niederkunft Eurer lieben Hausfrau alles glücklich vonstatten gehe. Die alte Barbara Roloffin ist in ihrer Kunst gar nicht so geschickt, wie Ihr wohl vermeinen möget. Ich kenne sie schon lange und weiß es wohl, daß sie schon manchmal Wöchnerin und Kind verwahrloste.' Beiden, dem Herrn Lütkens und seiner Hausfrau, war bei dem ganzen Vorgange sehr ängstlich und unheimlich zumute geworden, und schöpften sie gegen die Barbara Roloffin, zumal wenn sie daran dachten, wie die Alte sich in Gegenwart des Fremden so seltsamlich verwandelt, nicht geringen Verdacht, daß sie wohl gar böse Künste treibe. Deshalb verboten sie ihr, wieder über die Schwelle des Hauses zu kommen, und sahen sich nach einer andern Wehmütter um.

Als dies geschah, wurde die alte Barbara Roloffin sehr zornig und rief, Herr Lütkens und seine Hausfrau sollten das Unrecht, das sie ihr antäten, noch schwer bereuen.

Alle Freude und Hoffnung des Herrn Lütkens wurde aber verwandelt in bittres Herzeleid und tiefen Gram, als seine Hausfrau statt des holden Knäbleins, das die Barbara Roloffin prophezeit, einen abscheulichen Wechselbalg zur Welt brachte. Das Ding war ganz kastanienbraun, hatte zwei Hörner, dicke große Augen, keine Nase, ein weites Maul, eine weiße verkehrte Zunge und keinen Hals. Der Kopf stand ihm zwischen den Schultern, der Leib war runzlicht

und geschwollen, die Arme hingen an den Lenden, und es hatte lange dünne Schenkel.

Herr Lütkens klagte und lamentierte gar sehr. ,0 du gerechter Himmel', rief er, ,was soll denn daraus werden! Kann mein Kleines wohl jemals in des Vaters würdige Fußstapfen treten? Hat man jemals einen kastanienbraunen Ratsherrn gesehen mit zwei Hörnern auf dem Kopfe?'

Der Fremde tröstete den armen Herrn Lütkens, so gut es gehen wollte. Eine gute Erziehung, meinte er, vermöge viel. Unerachtet, was Form und Gestaltung beträfe, der neugeborne Knabe ein arger Schismatiker zu nennen, getraue er sich doch zu behaupten, daß er mit seinen dicken großen Augen gar verständig umherblicke, und auf der Stirn zwischen den Hörnern habe viel Weisheit geräumigen Platz. Wenn auch nicht Ratsherr, so könne doch der Junge ein großer Gelehrter werden, denen oft absonderliche Garstigkeit sehr wohl anstehe und ihnen tiefe Verehrung erwerbe.

Es konnte wohl nicht anders sein, Herr Lütkens mußte im Herzen sein Unglück der alten Barbara Roloffin zuschreiben, zumal als er vernahm, daß sie während der Niederkunft seiner Hausfrau vor der Türe auf der Schwelle gesessen, und Frau Lütkens unter vielen Tränen versicherte, daß sie während den Geburtsschmerzen das häßliche Gesicht der alten Barbara stets vor Augen gehabt und solches nicht loswerden können.

Zur gerichtlichen Anklage wollte zwar der Verdacht des Herrn Lütkens nicht hinreichen, der Himmel fügte es jedoch, daß bald darauf alle Schandtaten der alten Barbara Roloffin an das helle Tageslicht kamen.

Es begab sich nämlich, daß nach einiger Zeit sich um die Mittagsstunde ein grausames Wetter und ungestümer Wind erhob. Und die Leute auf den Straßen sahen, wie die Barbara Roloffin, die eben zu einer Kindbetterin gehen wollen, brausend durch die Lüfte über die Hausdächer und Türme hinweggeführt und auf einer Wiese vor Berlin unversehrt niedergesetzt wurde.

Nun war an den bösen Höllenkünsten der alten Barbara Roloffin nicht mehr zu zweifeln, Herr Lütkens trat mit seiner Anklage hervor, und die Alte wurde zur gefänglichen Haft gebracht.

Sie leugnete hartnäckig alles, bis man mit der scharfen Frage wider sie verfuhr. Da vermochte sie nicht die Schmerzen zu erdulden und gestand, daß sie im Bündnis mit dem leidigen Satan schon seit langer Zeit allerlei heillose Zauberkünste treibe. Sie hätte allerdings die arme Frau Lütkens verhext und ihr die abscheuliche Mißgeburt untergeschoben, außerdem aber mit zwei andern Hexen aus Blumberg, denen vor einiger Zeit der teuflische Galan den Hals umgedreht, viele Christenkinder geschlachtet und gekocht, um Teurung im Lande zu erregen.

Nach dem Urteilsspruch, der bald erfolgte, sollte das alte Hexenweib auf dem Neumarkt lebendig verbrannt werden.

Als nun der Tag der Hinrichtung herangekommen, wurde die alte Barbara unter dem Zulauf einer unzähligen Menge Volks auf den Neumarkt und auf das daselbst erbaute Gerüst geführt. Man befahl ihr, den schönen Pelz, den sie angetan, abzulegen, das wollte sie aber durchaus nicht tun, sondern bestand darauf, daß die Henkersknechte sie, gekleidet, wie sie war, an den Pfahl binden sollten, welches denn auch geschah.

Schon brannte der Scheiterhaufen an allen vier Ecken, da gewahrte man den Fremden, der riesengroß unter dem Volke hervorragte und mit funkelnden Blicken hinstarrte nach der Alten.

Hoch wirbelten die schwarzen Rauchwolken auf, die prasselnden Flammen ergriffen die Kleider des Weibes, da schrie sie mit gellender entsetzlicher Stimme: ,Satan -Satan! hältst du so den Pakt, den du mit mir geschlossen! — Hilf, Satan, hilf! meine Zeit ist noch nicht aus!'

Und plötzlich war der Fremde verschwunden, und von dem Ort, wo er gestanden, rauschte eine große schwarze Fledermaus auf, fuhr in die Flammen hinein, erhob sich

kreischend mit dem Pelz der Alten in die Lüfte, und krachend fiel der Scheiterhaufen in sich zusammen und verlöschte.

Grausen und Entsetzen hatte alles Volk erfaßt. Jeder wurde nun wohl inne, daß der stattliche Fremde kein anderer gewesen als der Teufel selbst, der Arges gegen die guten Berliner im Schilde geführt haben mußte, da er sich so lange Zeit hindurch fromm und freundlich gebärdet und mit höllischer Arglist den Ratsherrn Walther Lütkens und viele andere weise Männer und kluge Frauen betrogen.

So groß ist die Macht des Teufels, vor dessen Arglist uns alle der Himmel in Gnaden bewahren wolle!"



Als Lothar geendet, schaute er dem Ottmar ins Gesicht mit dem unbeschreiblich komischen süßsauern Blick, der ihm zu Gebote stand in reger Selbstironie.

"Nun, was sagst du", rief Theodor, als Ottmar schwieg, "nun, was sagst du, Ottmar, zu Lothars artiger Teufelei, an der das Beste ist, daß sie sich nicht zu breit macht?"

Ottmar hatte, während Lothar las, recht aus dem Innern gelächelt, bei dem Schluß war er ganz still und ernst geworden. "Ich gestehe", sprach er jetzt, "daß in Lothars Erzählung - Schwank - ich weiß nicht, wie ich das Ding nennen soll - ein hin und wieder nicht ganz verfehltes Streben nach einer gewissen drolligen Naivetät vorherrscht, die eigentlich dem Charakter des deutschen Teufels ganz angemessen ist, daß ferner bei dem Hopsen des Teufels mit ehrenwerten Männern über die Gosse, bei dem kastanienbraunen Schismatiker, der nicht ein schöner glauer Ratsherr, wohl aber ein garstiger Gelehrter werden kann, und so weiter dasselbe Pferdlein Kapriolen macht, das der würdige Lothar ritt, als er den ,Nußknacker' schrieb, doch eben ein anders Pferdlein, mein ich, hätte er reiten sollen, und selbst kann ich nicht sagen, worin es liegt, daß immer mehr und mehr der gemütlich komische Eindruck, den vielleicht die ersten Zeilen hervorbringen

könnten, hinschwindet in nichts und aus diesem Nichts sich dann zuletzt etwas ganz Ungemütliches, Unbehagliches entwickelt, das die Schlußworte, welche wiederum zu jener Naivetät zurückführen sollen, nicht zu vertilgen vermögen."

"0 du aller weisen Kritiker allerweisester", rief Lothar, "der du dem Unbedeutendsten, das ich jemals schrieb, die Ehre antust, es, Brill auf der Nase, sorglich zu sezieren, vernimm, daß es mir selbst längst zum anatomischen Präparat gedient hat! — Nannte ich denn nicht selbst mein kleines Machwerk das Produkt einer schillernden Laune, habe ich nicht selbst das Anathem darüber ausgesprochen? — Doch es ist gut, daß ich es euch vorlas, denn es gibt mir Gelegenheit, über Geschichten der Art mich recht auszusprechen, und ich hoffe euern Beifall einzuernten, ihr guten Serapionsbrüder! — Zuvörderst will ich dir also, geliebter Ottmar, recht genau den Keim des unbehaglichen oder besser unheimlichen Gefühls entwickeln, das dich ergriff, als du dich erst ergötzen wolltest daran, was du drollige Naivetät zu nennen beliebst. —Mag der ehrliche alte Hafftitz Anlaß gehabt haben, jenes seltsame Ereignis, wie der Teufel in Berlin ein bürgerliches Leben geführt, anzumerken, welchen er will, genug, die Sache bleibt für uns rein phantastisch, und selbst das unheimliche Spukhafte, das sonst dem ,furchtbar verneinenden Prinzip der Schöpfung' beiwohnt, kann, durch den komischen Kontrast, in dem es erscheint, nur jenes seltsame Gefühl hervorbringen, das, eine eigentümliche Mischung des Grauenhaften und Ironischen, uns auf gar nicht unangenehme Weise spannt. Anders verhält es sich mit den leidigen Hexengeschichten. Hier tritt das wirkliche Leben ein mit allen seinen Schrecken. Mir war's, als ich von der Hinrichtung der Barbara Roloffin las, als säh ich noch den Scheiterhaufen auf dem Neumarkt dampfen, und alle Greuel der fürchterlichen Hexenprozesse traten mir vor die Seele. Ein paar rotfunkelnde Augen, ein struppiges schwarzes oder graues Haar, ein ausgedörrter Knochenleib, das reichte hin,

ein altes armes Weib für eine Hexe zu erklären, alles Unheil ihren Teufeiskünsten zuzuschreiben, ihr in aller juristischen Form zu Leibe zu gehen und sie auf den Scheiterhaufen zu bringen. Die scharfe Frage (Tortur) bestätigte die unsinnigsten Anklagen und entschied alles."

"Merkwürdig", unterbrach Theodor den Lothar, "höchst merkwürdig bleibt es aber doch, daß viele angebliche Hexen ganz freimütig ohne allen Zwang ihr Bündnis mit dem Bösen eingestanden. Vor ein paar Jahren fielen mir über Hexerei verhandelte Originalakten in die Hände, und ich traute meinen Augen kaum, als ich Geständnisse las, vor denen mir die Haut schauderte. Da war von Salben, deren Gebrauch den menschlichen Körper in irgendein Tier verwandelt, von Ritten auf dem Besenstiel, kurz, von allen den Teufelskünsten, wie sie in alten Mären vorkommen, die Rede. Vorzüglich hatten aber immer die angeklagten Weiber ganz frei und frech das unzüchtige Verhältnis mit dem unsaubern höllischen Galan, zuweilen sogar unaufgefordert, eingestanden. Sagt, wie konnte das geschehen?"

"Mit", erwiderte Lothar, "mit dem Glauben an das teuflische Bündnis kam das Bündnis selbst."

"Wie? — was sagst du?" riefen beide, Ottmar und Theodor.

"Versteht", fuhr Lothar fort, "versteht mich nur recht. Gewiß ist es, daß in jener Zeit, als niemand an der unmittelbaren Einwirkung des Teufels, an seiner sichtbaren Erscheinung zweifelte, auch jene unglücklichen Wesen, die man so grausam mit Feuer und Schwert verfolgte, an allem dem wirklich glaubten, dessen man sie beschuldigte. Ja, daß manche in bösem Sinn durch allerlei vermeintliche Hexenkünste nach dem Bündnisse mit dem Satan trachteten, Gewinstes halber oder um Unheil anzurichten, und dann im Zustande des Wahnsinns, den sinnverstörende Tränke, entsetzliche Beschwörungen erzeugt, den Bösen erblickten und jenes Bündnis wirklich schlossen, das ihnen übermenschliche Macht geben sollte, ist ebenso gewiß. Die tollsten Hirngespinste,

wie sie jene Geständnisse enthalten, die auf innerer Überzeugung beruhten, erscheinen nicht zu toll, wenn man bedenkt, welche seltsame Einbildungen, ja welche grauenhafte Betörungen schon der Hysterismus der Weiber hervorzubringen vermag. So büßten jene vermeintlichen Hexen ihren boshaften Sinn, wiewohl zu hart, mit dem grausamsten Tode. Es ist unmöglich, jenen alten Hexenprozessen den Glauben abzusprechen, insofern sie durch Zeugen oder sonst ganz ins klare gesetzte Tatsachen enthalten, und da findet sich denn auch häufig, daß manche der Zauberei Angeklagte wirklich todeswürdige Verbrechen begingen. Erinnert euch der schauderhaften Erzählung unseres herrlichen Tieck, ,Liebeszauber' benannt. Die grauenhafte fürchterliche Tat des entsetzlichen Weibes, die das unschuldige liebliche Kind schlachtet, kommt auch in jenen gerichtlichen Verhandlungen zur Sprache, und so war oft der Feuertod nur die gerechte Strafe des grausamsten Mordes."

"Mir steigt", nahm Theodor das Wort, "die Erinnerung auf an einen Moment, in dem mir eine solche fluchwürdige Tat recht dicht vor Augen gerückt wurde und mich mit dem tiefsten Entsetzen erfüllte! — Während meines Aufenthalts in W. besuchte ich das reizende Lustschloß L., von dem es irgendwo mit Recht heißt, es schwimme in dem spiegelhellen See wie ein herrlicher stolzer Schwan. Man hatte mir schon erzählt, daß nach einem dunklen Gerücht der unglückliche Besitzer desselben, der nicht vor gar zu langer Zeit starb, mit Hülfe eines alten Weibes allerlei Zauberkünste getrieben haben solle und daß der alte Kastellan, verstehe man sein Vertrauen zu gewinnen, manches darüber andeute. Gleich beim Eintritt war mir dieser Alte höchst merkwürdig. Denkt euch einen eisgrauen Mann, die Spuren des tiefsten Grams im Antlitz, ärmlich nach Art des gemeinen Volks gekleidet, dabei im Betragen ungewöhnliche Bildung verratend, denkt euch, daß dieser Mann, den ihr auf den ersten Blick für einen gemeinen Diener hieltet, mit euch, die ihr die Landessprache nicht versteht, wie ihr wollt, entweder das

reinste eleganteste Französisch oder ebenso italienisch redet! — Es gelang mir, da ich mit ihm allein die Säle durchwanderte, dadurch, daß ich der verworrenen Schicksale seines Herrn gedachte und mich dabei in die Geschichte jener Zeit eingeweiht zeigte, ihn zu beleben. Er erklärte mir den tieferen Sinn mancher Gemälde, mancher Verzierung, die dem Nichteingeweihten nur als Schmuck erscheinen, und wurde immer wärmer und zutraulicher. Endlich schloß er ein kleines Kabinett auf, dessen Fußboden aus weißen Marmortafeln bestand und in dem nichts weiter als ein einfach gearbeiteter Kessel von Bronze befindlich. Die Wände schienen ihres vormaligen Schmuckes beraubt. Ich wußte, daß ich mich an dem Orte befand, wo der unglückliche Herr des Schlosses, verblendet, betört durch die Lust an den üppigen Genüssen des Lebens, sich herabgewürdigt haben sollte zu höllischen Versuchen. Als ich einige Worte darüber fallen ließ, blickte der Alte mit dem Ausdruck der schmerzlichsten Wehmut gen Himmel und sprach dann tief aufseufzend: ,0 Heilige Jungfrau, hast du denn verziehen?' — Dann wies er schweigend auf eine größere Marmorplatte, die in der Mitte des Fußbodens eingefügt lag. Ich betrachtete die Platte genau und wurde gewahr, daß sich einige rötliche Adern durch den Stein zogen. Als ich aber immer schärfer und schärfer hinblickte, hilf Himmel, da traten, wie aus einem deformierten Gemälde, dessen verstreute Lineamente sich nur einen, wenn man es durch ein besonders vorbereitetes Glas betrachtet, die Züge eines menschlichen Antlitzes hervor. Es war das Antlitz eines Kindes, das mich mit dem herzzerschneidenden Jammer des Todeskampfes aus dem Stein anschaute. Aus der Brust quollen Blutstropfen, der übrige Teil des Körpers verlor sich wie in ein Gewässer hinein. Mit Mühe überwand ich das Grauen, das Entsetzen, das mich übermannen wollte. Ich war keines Wortes mächtig, schweigend verließen wir den schauerlichen verhängnisvollen Ort. — Erst im Park lustwandelnd, überwand ich das unheimliche Gefühl, das mir beinahe das ganze kleine Paradies verleidet hätte. Aus manchen Worten des alten Kastellans konnt ich schließen, daß jenes verruchte Wesen, das sich dem sonst großherzigen gemütvollen Herrn anzudrängen wußte, ihm den schönsten seiner Wünsche, unfehlbares dauerndes Glück in der Liebe, ewige Liebeslust, zu erfüllen verhieß mittelst schwarzer Künste und ihn dadurch verlockte zum Entsetzlichen."

"Das ist", rief Ottmar, "das ist etwas für unsern Cyprian, der würde sich erfreuen an dem blutigen Kinde, in Marmor gebildet, und nebenher den alten Kastellan sehr liebgewinnen."

"Mag", fuhr Theodor fort, "mag alles auf törichter Einbildung beruhen, mag alles eine im Volk verstreute Fabel sein, mag der besonders geaderte Stein das Kind so darstellen, wie eine lebendige Phantasie aus buntem Marmor allerlei Figuren und Bilder herausfindet, irgend etwas Unheimliches muß sich doch wirklich begeben haben, da sonst der alte treue Diener unmöglich die Schuld des Herrn so tief in der Seele getragen, ja jenem wunderbaren Stein solch eine gräßliche Bedeutung gegeben hätte."

"Wir wollen", sprach Ottmar, "wir wollen gelegentlich den heiligen Serapion darüber befragen, was es eigentlich für eine Bewandtnis mit der Sache hat, für jetzt aber die Hexen Hexen sein lassen und uns nur noch einmal zum teutschen Teufel wenden, über den ich noch einiges beizubringen gedenke. — Ich meine nämlich, daß die wahrhafte teutsche Gemütlichkeit sich recht in der Art ausspricht, wie der leidige Satan dargestellt wird, im menschlichen Leben hantierend. Er versteht sich auf alles Unheil, Grauen und Entsetzen, auf alle Verführungskünste, er vergißt nicht, den frommen Seelen nachzustellen, um so viele als möglich für sein Reich zu gewinnen; aber dabei ist er doch ein ganz ehrlicher Mann, denn auf das genaueste, pünktlichste hält er sich an den geschlossenen Kontrakt, und so kommt es denn, daß er gar oft überlistet wird und wirklich als dummer Teufel erscheint, woher denn auch die Redensart korn-

men mag: ,Das ist ein dummer Teufel!' —Aber noch mehr, der Charakter des teutschen Satans hat eine wunderbare Beimischung des Burlesken, durch die das eigentlich sinnverstörende Grauen, das Entsetzen, das die Seele zermalmt, aufgelöst, verquickt wird. Die Kunst, den Teufel ganz auf diese deutsch gemütliche Weise darzustellen, scheint aber verloren, denn in den neuen Teufelsspukgeschichten ist jene Mischung niemals geraten. Entweder wird der Teufel zum gemeinen Hanswurst, oder das Grauenhafte, Unheimliche zerreißt das Gemüt."

"Du vergissest", unterbrach Lothar den Ottmar, "du vergissest eine neue Erzählung, in der jene Mischung des wunderbar Gemütlichen, das wenigstens an das Komische anstreift, mit dem Grauenhaften gar herrlich geraten ist und die Wirkung jener einfachen altertümlichen Teufelsspukgeschichten in ganzem Maß hervorbringt. Ich meine Fouqués meisterhafte Erzählung ,Das Galgenmännlein', für dessen Brüderlein, könnt es noch geboren werden, ich gern einige Harnischmänner eintauschen möchte. Trotz des kleinen, grauenhaft muntern Kerls in der Flasche, der in der Nacht herauswächst und sich rauhhaarig an die Backe des von fürchterlichen Träumen geängsteten Herrn legt, trotz des entsetzlichen Mannes in der Bergschlucht, dessen mächtiger Rappe wie eine Fliege die steile Felsenwand hinanklimmt, trotz alles Unheimlichen, das in der Geschichte gar reichlich vorhanden, ist die Spannung, die sie im Gemüt erzeugt, nichts weniger als verstörend. Die Wirkung gleicht der eines starken Getränks, das die Sinne heftig aufreizt, zugleich aber im Innern eine wohltuende Wärme verbreitet. In dem durchaus gehaltenen Ton, in der Lebenskraft der einzelnen Bilder liegt es, daß, ist man beim Schluß selbst von der Wonne des armen Teufels, der sich glücklich aus den Klauen des bösen Teufels gerettet, durchdrungen, nochmals all die Szenen, die in das Gebiet des gemütlich Komischen streifen, zum Beispiel die Geschichte vom Halbheller, hell aufleuchten. Ich erinnere mich kaum, daß irgendeine Teufelsgeschichte

mich auf so seltsam wohltuende Weise gespannt, aufgeregt hätte als eben Fouqués ,Galgenmännlein'."

"Es ist", nahm Theodor das Wort, "es ist gar nicht zu bezweifeln, daß Fouqué den Stoff seines ,Galgenmännleins' aus irgendeinem alten Buch, aus irgendeiner alten Chronik entnommen."

"Ich will", erwiderte Lothar, "ich will nicht glauben, daß du, sollte das wirklich der Fall sein, deshalb das Verdienst des Dichters auch nur im mindesten geschmälert achtest und so mit gewöhnlichen Rezensenten gleichen Sinnes bist, deren ganz eigentliche Praxis es erfordert, gleich nachzuspüren, wo etwa der Grundstoff zu diesem und jenem poetischen Werk liegen könne. Den Fund verkündigen sie dann mit vielem Pomp, stolz auf den armen Dichter hinabsehend, der nichts tat, als die Figur kneten aus einem Teig, der schon vorhanden war. Als ob es darauf ankommen könnte, daß der Dichter den Keim, den er irgendwo fand, in sein Inneres aufnahm, als ob die Gestaltung des Stoffs nicht eben den wahrhaften Dichter bewähren müsse! — Doch wir wollen uns an unsern Schutzpatron, den heiligen Serapion, erinnern, der selbst Geschichtliches so aus seinem Innern heraus erzählte, wie er alles selbst mit eignen Augen lebendig erschaut und nicht, wie er es gelesen."

"Du tust", sprach Theodor, "du tust mir großes Unrecht, Lothar, wenn du glaubst, ich sei andrer Meinung. Wie ein Stoff bearbeitet oder vielmehr lebendig gestaltet werden kann, hat niemand herrlicher bewiesen als Heinrich Kleist in seiner vortrefflichen, klassisch gediegenen Erzählung von dem Roßhändler Kohlhaas."

"Und", unterbrach Lothar den Freund, "und um so mehr gehört der ,Kohlhaas' ganz dem herrlichen Dichter, den ein düstres Verhängnis uns viel zu früh entriß, als die Nachrichten von jenem furchtbaren Menschen, so wie sie im Hafftitz stehen, ganz mager und ungenügend sind. Doch weil ich eben des Hafftitz gedenke, so will ich euch nur gleich eine Erzählung vorlesen, zu der ich manche Grundzüge eben aus

dem ,Microchronicon' entnahm und die ich in dem Anfall einer durchaus bizarren Laune, der mehrere Tage anhielt, aufschrieb. Magst du, o mein Ottmar, daraus entnehmen, daß es mit dem Spleen, den mir Theodor andichten will, eben nicht so arg ist, als man wohl meinen möchte." Lothar zog ein Manuskript hervor und las:

Die Brautwahl



Eine Geschichte, in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abenteuer vorkommen

Erstes Kapitel



welches von Bräuten, Hochzeiten, Geheimen Kanzleisekretären, Turnieren, Hexenprozessen, Zauberteufeln und andern angenehmen Dingen handelt

In der Nacht des Herbst- Äquinoktiums kehrte der Geheime Kanzleisekretär Tusmann aus dem Kaffeehause, wo er regelmäßig jeden Abend ein paar Stunden zuzubringen pflegte, nach seiner Wohnung zurück, die in der Spandauer Straße gelegen. In allem, was er tat, war der Geheime Kanzleisekretär pünktlich und genau. Er hatte sich daran gewöhnt, gerade während es auf den Türmen der Marien- und Nikolai-Kirchen eilf Uhr schlug, mit dem Rock- und Stiefelnausziehen fertig zu werden, so daß er, in die geräumigen Pantoffeln gefahren, mit dem letzten dröhnenden Glockenschlage sich die Nachtmütze über die Ohren zog.

Um das heute nicht zu versäumen, da die Uhren sich schon zum Eilf schlagen anschickten, wollte er eben mit einem raschen Schritt (beinahe war es ein behender Sprung zu nennen) aus der Königsstraße in die Spandauer Straße hineinbiegen, als ein seltsames Klopfen, das sich dicht neben ihm hören ließ, ihn an den Boden festwurzelte.

Unten an dem Turm des alten Rathauses wurde er in dem hellen Schimmer der Reverberen eine lange hagere,

in einen dunkeln Mantel gehüllte Gestalt gewahr, die an die verschlossene Ladentüre des Kaufmanns Warnatz, der dort bekanntlich seine Eisenwaren feilhält, stark und stärker pochte, zurücktrat, tief seufzte, hinaufblickte nach den verfallenen Fenstern des Turms.

"Mein bester Herr", wandte sich der Geheime Kanzleisekretär gutmütig zu dem Mann, "mein bester Herr, Sie irren sich, dort oben in dem Turm wohnt keine menschliche Seele, ja, nehme ich wenige Ratten und Mäuse und ein paar kleine Eulen aus, kein lebendiges Wesen. Wollen Sie von dem Herrn Warnatz einiges Vortreffliche in Eisen oder Stahl erstehen, so müssen Sie sich morgen wieder herbemühen."

"Verehrter Herr Tusmann -" — "Geheimer Kanzleisekretär seit mehreren Jahren", fiel Tusmann dem Fremden unwillkürlich ins Wort, ungeachtet er etwas verdutzt darüber war, von dem Fremden gekannt zu sein. Der achtete darauf aber gar nicht im mindesten, sondern begann von neuem: "Verehrter Herr Tusmann, Sie belieben sich in meinem Beginnen hier ganz und gar zu irren. Weder der Eisen- noch der Stahlwaren bin ich bedürftig, habe es auch gar nicht mit dem Herrn Warnatz zu tun. Es ist heute das Herbst-Äquinoktium, und da will ich die Braut schauen. Sie hat schon mein sehnsüchtiges Pochen, meine Liebesseufzer vernommen und wird gleich oben am Fenster erscheinen."

Der dumpfe Ton, in dem der Mann diese Worte sprach, hatte etwas seltsam Feierliches, ja Gespenstisches, so daß es dem Geheimen Kanzleisekretär eiskalt durch alle Glieder rieselte. Der erste Schlag der eilften Stunde dröhnte von dem Marienkirchturm herab, indem Augenblicke klirrte und rauschte es an dem verfallenen Fenster des Rathausturms, und eine weibliche Gestalt wurde sichtbar. Sowie der volle Laternenglanz ihr ins Antlitz fiel, wimmerte Tusmann ganz kläglich: "0 du gerechter Gott im Himmel, o all ihr himmlischen Heerscharen, was ist denn das!"

Mit dem letzten Schlage und also im selbigen Augenblick, wo Tusmann, wie sonst, die Schlafmütze aufzusetzen gedachte, war auch die Gestalt verschwunden.

Es war, als hätt die verwunderliche Erscheinung den Geheimen Kanzleisekretär ganz außer sich selbst gebracht. Er seufzte, stöhnte, starrte hinauf nach dem Fenster, lispelte in sich hinein: "Tusmann —Tusmann, Geheimer Kanzleisekretär! — besinne dich doch nur! werde nicht verrückt, mein Herz! — Laß dich vom Teufel nicht blenden, gute Seele!"

"Sie scheinen", begann der Fremde, "von dem, was Sie sahen, sehr ergriffen worden zu sein, bester Herr Tusmann? — Ich habe bloß die Braut schauen wollen, und Ihnen selbst, Verehrter, muß dabei noch anderes aufgegangen sein."

"Bitte, bitte", wimmerte Tusmann, "wollen Sie mir nicht meinen schlichten Titel vergönnen, ich bin Geheimer Kanzleisekretär, und zwar in diesem Augenblick ein höchst alterierter, ja wie ganz von Sinnen gekommener. Bitte ergebenst, mein wertester Herr, gebe ich Ihnen selbst nicht den gebührenden Rang, so geschieht das lediglich aus völliger Unbekanntschaft mit Ihrer werten Person; aber ich will Sie Herr Geheimer Rat nennen, denn deren gibt es in unserm lieben Berlin so gar absonderlich viele, daß man mit diesem würdigen Titel selten irrt. Bitte also, Herr Geheimer Rat mögen es mir nicht länger verhehlen, was für eine Braut Sie hier zu der unheimlichen Stunde zu schauen gedachten!"

"Sie sind", sprach der Fremde mit erhöhter Stimme, "Sie sind ein besonderer Mann mit Ihren Titeln, mit Ihrem Rang. Ist man dann Geheimer Rat, wenn man sich auf manches Geheimnis versteht und auch wohl nebenher guten Rat zu erteilen vermag, so kann ich wohl billigen Fugs mich so nennen. Mich nimmt es wunder, daß ein so in alten Schriften und seltenen Manuskripten belesener Mann wie Sie, wertester Herr Geheimer Kanzleisekretär, es nicht weiß, daß, wenn ein Kundiger - verstehen Sie wohl! — ein Kundiger zur euRen Stunde in der Nacht des Äquinoktiums hier unten

an die Türe oder auch nur an die Mauer des Turms klopft, ihm oben am Fenster dasjenige Mädchen erscheint, das bis zum Frühlings-Äquinoktium die glücklichste Braut in Berlin wird."

"Herr Geheimer Rat", rief Tusmann, wie plötzlich begeistert von Freude und Entzücken, "verehrungswürdigster Herr Geheimer Rat, sollte das wirklich der Fall sein?"

"Es ist nicht anders", erwiderte der Fremde, "aber was stehen wir hier länger auf der Straße. Sie haben Ihre Schlafstunde bereits versäumt, wir wollen uns stracks in das neue Weinstübchen auf dem Alexanderplatz begeben. Es ist nur darum, daß Sie mehr von mir über die Braut erfahren, wenn Sie wollen, und wieder in die Gemütsruhe kommen, aus der Sie, selbst weiß ich nicht recht warum, ganz und gar herausgebracht zu sein scheinen."

Der Geheime Kanzleisekretär war ein höchst mäßiger Mann. Seine einzige Erholung bestand, wie schon erwähnt wurde, darin, daß er jeden Abend ein paar Stunden in einem Kaffeehause zubrachte und, politische Blätter, Flugschriften durchlaufend, ja auch in mitgebrachten Büchern emsig lesend, ein Glas gutes Bier genoß. Wein trank er beinahe gar nicht, nur sonntags nach der Predigt pflegte er in einem Weinkeller ein Gläschen Malaga mit etwas Zwieback zu sich zu nehmen. Des Nachts zu schwärmen war ihm sonst ein Greuel; unbegreiflich schien es daher, daß er sich ohne Widerstand, ja ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, von dem Fremden fortziehen ließ, der mit starken, durch die Nacht dröhnenden Schritten forteilte nach dem Alexanderplatz.

Als sie in die Weinstube eintraten, saß nur noch ein einziger Mann einsam an einem Tisch und hatte ein großes Glas, mit Rheinwein gefüllt, vor sich stehen. Die tief eingefurchten Züge seines Antlitzes zeugten von sehr hohem Alter. Sein Blick war scharf und stechend, und nur der stattliche Bart verriet den Juden, der alter Sitte und Gewohnheit treu geblieben. Dabei war er sehr altfränkisch, ungefähr wie man

sich ums Jahr eintausendsiebenhundertundzwanzig bis -dreißig trug, gekleidet, und daher mocht es wohl kommen, daß er aus längst vergangener Zeit zurückgekehrt schien.

Noch seltsamer war aber wohl der Fremde anzuschauen, auf den Tusmann getroffen.

Ein großer, hagerer, dabei kräftiger, in Gliedern und Muskeln stark gebauter Mann, scheinbar in den funfziger Jahren. Sein Antlitz mochte sonst für schön gegolten haben, noch blitzten die großen Augen unter den schwarzen buschichten Augenbrauen mit jugendlichem Feuer hervor - eine freie offene Stirn - eine stark gebogene Adlersnase - ein feingeschlitzter Mund - ein gewölbtes Kinn - das alles hätte den Mann vor hundert andern eben nicht ausgezeichnet; während aber Rock und Unterkleid nach Art der neuesten Zeit zugeschnitten waren, gehörten Kragen, Mantel und Barett dem Ende des sechszehnten Jahrhunderts an; vorzüglich mocht es aber wohl der eigne, wie aus tiefer schauerlicher Nacht hinausstrahlende Blick des Fremden, der dumpfe Ton seiner Stimme, sein ganzes Wesen, das durchaus gegen jede Form der jetzigen Zeit grell abstach, vorzüglich mochte es das alles sein, was in seiner Nähe jedem ein seltsames, beinahe unheimliches Gefühl einflößen mußte.

Der Fremde nickte dem Alten, der am Tische saß, zu wie einem alten Bekannten.

"Seh ich Euch einmal wieder nach langer Zeit", rief er, "seid Ihr noch immer wohlauf?"

"Wie Ihr mich findet", erwiderte der Alte mürrisch, "wohl und gesund und noch zur rechten Zeit auf den Beinen und munter und tätig, wenn es darauf ankommt!"

"Das fragt sich, das fragt sich", rief der Fremde laut lachend und bestellte bei dem aufwartenden Burschen eine Flasche des ältesten Franzweins, der im Keller vorhanden.

"Mein bester, verehrungswürdigster Herr Geheimer Rat!" —begann Tusmann deprezierend.

Aber der Fremde fiel ihm schnell in die Rede: "Lassen wir doch jetzt alle Titel, bester Herr Tusmann. Ich bin weder

Geheimer Rat noch Geheimer Kanzleisekretär, sondern nichts mehr und nichts weniger als ein Künstler, der in edlen Metallen und köstlichem Gestein arbeitet, und heiße mit Namen Leonhard."

"Also ein Goldschmied, ein Juwelier", murmelte Tusmann vor sich hin. Er besann sich nun auch, daß er bei dem ersten Anblick des Fremden in der erleuchteten Weinstube es hätte wohl einsehen müssen, wie der Fremde unmöglich ein ordentlicher Geheimer Rat sein könne, da er in altdeutschem Mantel, Kragen und Barett angetan, wie solches bei Geheimen Räten nicht üblich.

Beide, Leonhard und Tusmann, setzten sich nun hin zu dem Alten, der sie mit einem grinsenden Lächeln begrüßte.

Nachdem Tusmann auf vieles Nötigen Leonhards ein paar Gläser des gehaltigen Weins getrunken, trat Röte auf seine blassen Wangen; vor sich hin blickend, den Wein gemütlich einschlürfend, lächelte und schmunzelte er überaus freundlich, als gingen die angenehmsten Bilder in seinem Innern auf.

"Und nun", begann Leonhard, "und nun sagen Sie mir unverhohlen, bester Herr Tusmann, warum Sie so gar besonders sich gebärdeten, als die Braut im Fenster des Turms erschien, und was jetzt so ganz und gar Ihr Inneres erfüllt? Wir sind, Sie mögen das nun glauben oder nicht, alte Freunde und Bekannte, und vor diesem guten Mann brauchen Sie sich gar nicht zu genieren."

"0 Gott", erwiderte der Geheime Kanzleisekretär, "o Gott, mein verehrtester Herr Professor lassen Sie mich Ihnen diesen Titel geben; denn da Sie, wie ich überzeugt bin, ein sehr wackrer Künstler sind, könnten Sie mit Fug und Recht Professor bei der Akademie der Künste sein -, also! mein verehrtester Herr Professor - vermag ich denn zu schweigen? Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über! — Erfahren Sie es! — Ich gehe, wie man sprüchwörtlich zu sagen pflegt, auf Freiersfüßen und gedenke zum Frühlings-Äquinoktium ein glückliches Bräutlein heimzuführen.

Konnt es denn nun wohl fehlen, daß es mir durch alle Adern fuhr, als Sie, verehrtester Herr Professor, beliebten, mir eine glückliche Braut zu zeigen?"

"Was", unterbrach der Alte den Geheimen Kanzleisekretär mit kreischender, krächzender Stimme, "was? — Sie wollen heiraten? Sie sind ja viel zu alt dazu und häßlich wie ein Pavian."

Tusmann erschrak über die entsetzliche Grobheit des jüdischen Alten so sehr, daß er kein Wort herauszubringen vermochte.

"Nehmen Sie", sprach Leonhard, "dem Alten da das harte Wort nicht übel, lieber Herr Tusmann, er meint es nicht so böse, als es wohl den Anschein haben möchte. Aufrichtig gesagt, muß ich aber auch selbst gestehen, wie es mich bedünken will, daß Sie etwas spät sich zur Heirat entschlossen haben, da Sie mir beinahe ein Funfziger zu sein scheinen."

"Auf den neunten Oktober, am Tage des heiligen Dionysius, erreiche ich mein achtundvierzigstes Jahr", fiel Tusmann etwas empfindlich ein. "Dem sei, wie ihm wolle", fuhr Leonhard fort, "es ist auch nicht das Alter allein, das Ihnen entgegensteht. Sie haben bisher ein einfaches, einsames Junggesellenleben geführt, Sie kennen das weibliche Geschlecht nicht, Sie werden sich nicht zu raten, nicht zu helfen wissen."

"Was raten, was helfen", unterbrach Tusmann den Goldschmied, "ei, bester Herr Professor, Sie müssen mich für ungemein leichtsinnig und unverständig halten, wenn Sie glauben, daß ich blindlings ohne Rat und Überlegung zu handeln imstande wäre. Jeden Schritt, den ich tue, erwäge und bedenke ich weislich, und als ich mich in der Tat von dem Liebespfeil des losen Gottes, den die Alten Cupido nannten, getroffen fühlte, sollte da nicht all mein Dichten und Trachten dahin gegangen sein, mich für diesen Zustand gehörig auszubilden? — Wird jemand, der ein schweres Examen zu überstehen gedenkt, nicht emsig alle Wissenschaften

studieren, aus denen er befragt werden soll? —Nun, verehrtester Herr Professor, meine Heirat ist ein Examen, zu dem ich mich gehörig vorbereite und wohl zu bestehen glaube. Sehen Sie, bester Mann, dieses kleine Buch, das ich, seit ich mich zu lieben und zu heiraten entschlossen, beständig bei mir trage und unaufhörlich studiere, sehen Sie es an und überzeugen Sie sich, daß ich die Sache gründlich und gescheut beginne und keinesweges als ein Unerfahrner erscheinen werde, ungeachtet mir, wie ich gestehen will, das ganze weibliche Geschlecht bis dato fremd geblieben."

Mit diesen Worten hatte der Geheime Kanzleisekretär ein kleines, in Pergament gebundenes Buch aus der Tasche gezogen und den Titel aufgeschlagen, welcher folgendermaßen lautete:



"Kurzer Entwurf der politischen Klugheit, sich selbst und andern in allen Menschlichen Gesellschafften wohl zu rathen und zu einer gescheiden Conduite zu gelangen. Allen Menschen, die sich klug zu seyn dünken, oder noch klug werden wollen, zu höchst nöthiger Bedürfniß und ungemeinem Nutzen, aus dem Lateinischen des Herrn Thomasii übersetzt. Nebst einem ausführlichen Register. Frankfurt und Leipzig. In Verlag Johann Großens Erben. 1710."

"Bemerken Sie", sprach Tusmann mit süßem Lächeln, "bemerken Sie, wie der würdige Autor im siebenten Kapitel, das lediglich vom Heiraten und von der Klugheit eines Hausvaters handelt, Paragraph 6 ausdrücklich sagt:

,Zum wenigsten soll man damit nicht eilen. Wer bei vollkommenem männlichen Alter heirathet, wird soviel klüger, weil er so viel weiser wird. Frühzeitige Heirathen machen unverschämte oder arglistige Leute und werfen sowohl des Leibes als des Gemüths Kräfte übern Haufen. Das männliche Alter ist zwar nicht ein Anfang der Jugend, dieselbe aber soll nicht eher als mit demselben zugleich sich enden.'

Und dann, was die Wahl des Gegenstandes betrifft, den man zu lieben und zu heiraten gesonnen, so sagt der vortreffliche Thomasius Paragraph 9:

,Die Mittelstraße ist die sicherste, man nehme keine allzu Schöne noch Häßliche, keine sehr Reiche noch sehr Arme, keine Vornehmere noch Geringere, sondern die mit uns gleichen Standes ist, und so wird auch bey den meisten übrigen Eigenschafften die Mittelstraße zu treffen das Beste seyn.'

Dem bin ich denn auch gefolgt und habe mit der anmutigen Person, die ich erwählet, nach dem Rat, den Herr Thomasius im Paragraphen 17 erteilet, nicht nur einmal Konversation gepfleget, weil man durch Verstellung der Fehler und Annehmung von allerhand Scheintugenden leicht hintergangen werden kann, sondern zum öftern, da es denn unmöglich ist, sich gänzlich in die Länge zu bergen."

"Aber", sprach der Goldschmied, "aber mein werter Herr Tusmann, eben dieser Umgang oder, wie Sie es zu nennen belieben, diese Konversation mit den Weibern scheint mir, soll man nicht getäuscht werden auf schnöde Weise, langer Erfahrung und Übung zu bedürfen."

"Auch hierin", erwiderte Tusmann, "steht mir der große Thomasius zur Seite, indem er sattsam lehrt, wie eine vernünftige angenehme Konversation einzurichten und wie vorzüglich, konversiert man mit Frauenzimmern, dabei einiger Scherz auf liebliche Art einzumischen. Aber Scherzreden, sagt mein Autor im fünften Kapitel, soll man sich bedienen wie ein Koch des Salzes, ja selbst der spitzigen Redensarten wie eines Gewehrs, nicht andere damit anzutasten, sondern zu unserer Beschützung, ebenmäßig als ein Igel seine Stacheln zu brauchen pfleget. Und soll man dabei als ein kluger Mann auf die Gebärden fast noch mehr als auf die Worte regardieren, indem öfters das, was einer in Diskursen verbirget, durch Gebärden hervorbricht und die Worte gemeiniglich nicht so viel als die übrige Aufführung zu Erweckung Freund- oder Feindschaft vermögen."

"Ich merk es schon", nahm der Goldschmied das Wort, "man kommt Ihnen auf keine Weise bei, Sie sind gegen alles gewappnet und gerüstet. Wetten will ich daher auch, daß Sie durch Ihr Betragen die Liebe der von Ihnen erkornen Dame ganz und gar gewonnen."

"Ich befleißige mich", sprach Tusmann, "nach Thomasii Rat einer ehrerbietigen und freundlichen Gefälligkeit, denn diese ist sowohl das natürlichste Merkmal der Liebe als der natürlichste Zug zur Erweckung der Gegenliebe, gleichwie das Hojanen oder Gähnen eine ganze Gesellschaft zur Nachahmung antreibt. Doch gehe ich in der allzu großen Ehrerbietung nicht zu weit, denn ich bedenke wohl, daß, wie Thomasius lehrt, die Weiber weder gute noch böse Engel, sondern bloße Menschen, und zwar, den Leibes- und Gemütskräften nach, schwächere Kreaturen sind als wir, welches der Unterschied des Geschlechts sattsam anzeiget."

"Ein schwarz Jahr", rief der Alte ergrimmt, "komme über Euch, daß Ihr läppisches Zeug schwatzt ohne Aufhören und mir die gute Stunde verderbt, in der ich hier mich zu erlaben gedachte nach vollbrachtem großen Werk!"

"Schweigt nur, Alter", sprach der Goldschmied mit erhöhter Stimme, "seid froh, daß wir Euch hier leiden; denn mit Euerm brutalen Wesen seid Ihr ein unangenehmer Gast, den man eigentlich hinauswerfen sollte. — Lassen Sie sich, wertester Herr Tusmann, durch den Alten nicht irren. Sie sind der alten Zeit hold, Sie lieben den Thomasius; was mich betrifft, so gehe ich noch viel weiter zurück, da ich nur auf die Zeit etwas gebe, der, wie Sie sehen, zum Teil meine Kleidung angehört. Ja, Verehrter, jene Zeit war wohl herrlicher als die jetzige, und aus ihr stammt noch jener schöne Zauber her, den Sie heute am alten Rathausturm geschaut haben."

"Wie das, wertester Herr Professor?"fragte der Geheime Kanzleisekretär.

"Ei", fuhr der Goldschmied fort, "damals gab es gar öfters fröhliche Hochzeit auf dem Rathause, und solche Hochzeiten

sahen ein wenig anders aus als die jetzigen. — Nun! manche glückliche Braut blickte damals zum Fenster heraus, und so ist es ein anmutiger Spuk, wenn noch jetzt ein luftiges Gebilde das, was sich jetzt begeben wird, weissagt aus dem, was vor langer Zeit geschehen. Überhaupt muß ich bekennen, daß damals unser Berlin bei weitem lustiger und bunter sich ausnahm als jetzt, wo alles auf einerlei Weise ausgeprägt wird und man in der Langeweile selbst die Lust sucht und findet, sich zu langweilen. Da gab's Feste, andere Feste, als man sie jetzt ersinnen mag. Ich will nur daran denken, wie im Jahr eintausendfünfhundertundeinundachtzig zu Okuli in der Fasten der Kurfürst Augustus zu Sachsen mit seinem Gemahl und Sohne Christian von allen anwesenden Herrn herrlich und prächtig zu Kölln eingeholt wurde mit etlichen hundert Pferden. Und die Bürger beider Städte, Berlin und Kölin, samt den Spandauischen, standen zu beiden Seiten vom Köpenicker Tore bis zum Schlosse in vollständiger Rüstung. Tages darauf gab es ein stattliches Ringrennen, bei dem der Kurfürst zu Sachsen und Graf Jost zu Barby mit mehreren vom Adel aufzogen in goldener Kleidung, hohen goldnen Stirnhauben, an Schultern, Ellenbogen und Knien mit goldenen Löwenköpfen, sonst an Armen und Beinen mit fleischfarbener Seide, als wären sie bloß gewesen, angetan, wie man die heidnischen Kämpfer zu malen pflegt. Sänger und Instrumentisten saßen verborgen in einer goldenen Arche Noahs und darauf ein kleiner Knabe, mit fleischfarbener Seide bekleidet, mit Flügeln, Bogen, Köcher und mit verbundenen Augen, wie der Cupido gemalt wird. Zwei andere Knaben, mit schönen weißen Straußfedern bekleidet, goldenen Augen und Schnäbeln wie Täubelein, führten die Arche, in welcher, wenn der Fürst gerannt und getroffen, die Musik ertönte. Darauf ließ man etliche Tauben aus der Arche, von denen sich eine auf die spitze Zobelmütze unsers gnädigen Herrn Kurfürsten setzte, mit den Flügeln schlug und eine welsche Arie zu singen begann, gar lieblich und viel schöner, als siebenzig Jahre später unser Hofsänger Bernhard Pasquino Grosso aus Mantua zu singen pflegte, wiewohl nicht so anmutig als zu jetziger Zeit unsere Theatersängerinnen, die freilich, zeigen sie ihre Kunst, besser placiert sind als jenes Täubelein. Dann gab es ein Fußturnier, zu dem zog der Kurfürst von Sachsen mit dem Grafen von Barby in einem Schiffe auf, das war mit gelbem und schwarzem Zeuge bekleidet und hatte ein Segel von goldenem Zindel. Und es saß hinter dem Herrn der kleine Knabe, der Tages zuvor Cupido gewesen, mit einem langen bunten Rocke und spitzigem Hute von gelbem und schwarzem Zeuge und langem grauen Barte. Sänger und Instrumentisten waren ebenso gekleidet. Aber rings um das Schiff tanzten und sprangen viele Herren vom Adel her, mit Köpfen und Schwänzen von Lachsen, Heringen und andern lustigen Fischen angetan, welches sich gar anmutig ausnahm. Am Abend um die zehnte Stunde wurde ein schönes Feuerwerk angezündet, welches einige tausend Schüsse hatte, in der Gestalt einer viereckigen Festung mit Landsknechten besetzt, die alle voller Schüsse waren, und trieben die Büchsenmeister viel merkliche Possen mit Stechen und Fechten und ließen feurige Rosse und Männer, seltsame Vögel und andere Tiere in die Höhe fahren mit schrecklichem Gerassel und Geprassel. Das Feuerwerk dauerte an die zwei Stunden." — Während der Goldschmied dies alles erzählte, gab der Geheime Kanzleisekretär alle Zeichen der innigsten Teilnahme, des höchsten Wohlgefallens von sich. Er rief mit feiner Stimme: "Ei - oh - ach -" dazwischen, schmunzelte, rieb sich die Hände, rutschte auf dem Stuhle hin und her und schlürfte dabei ein Glas Wein nach dem andern hinunter.

"Mein verehrtester Herr Professor", rief er endlich im Falsett, den ihm die höchste Freude abzunötigen pflegte, "mein teuerster, verehrtester Herr Professor, was sind das für herrliche Dinge, von denen Sie so lebhaft zu erzählen belieben, als wären Sie selbst persönlich dabeigewesen

"Ei", erwiderte der Goldschmied, "soll ich denn vielleicht nicht dabeigewesen sein?"

Tusmann wollte, den Sinn dieser verwunderlichen Rede nicht fassend, eben weiter fragen, als der Alte mürrisch zum Goldschmied sprach: "Vergeßt doch die schönsten Feste nicht, an denen sich die Berliner ergötzten in jener Zeit, die Ihr so hoch erhebt. Wie auf dem Neumarkt die Scheiterhaufen dampften und das Blut floß der unglücklichen Schlachtopfer, die, auf die entsetzlichste Weise gemartert, alles gestanden, was der tollste Wahn, der plumpste Aberglaube nur sich erträumen konnte."

"Ach", nahm der Geheime Kanzleisekretär das Wort, "ach, Sie meinen gewiß die schnöden Hexen- und Zauberprozesse, wie sie in alter Zeit stattfanden, mein bester Herr! — Ja, das war freilich ein schlimmes Ding, dem unsere schöne Aufklärung ein Ende gemacht hat."

Der Goldschmied warf seltsame Blicke auf den Alten und auf Tusmann und fragte endlich mit geheimnisvollem Lächeln diesen: "Kennen Sie die Geschichte vom Münzjuden Lippold, wie sie sich im Jahr eintausendfünfhundertundzweiundsiebenzig zutrug?"

Noch ehe Tusmann antworten konnte, fuhr der Goldschmied weiter fort: "Großen Betruges und arger Schelmerei war der Münzjude Lippold angeklagt, der sonst das Vertrauen des Kurfürsten besaß, dem ganzen Münzwesen im Lande vorstand und allemal, wenn es nottat, gleich mit bedeutenden Summen bei der Hand war. Sei es aber nun, daß er sich gut auszureden wußte oder daß ihm andere Mittel zu Gebote standen, sich vor den Augen des Kurfürsten rein zu waschen von aller Schuld, oder daß, wie man damals sich auszudrücken pflegte, etzliche, die beim Herrn Tun und Lassen waren, mit der silbernen Büchse geschossen; genug, es war an dem, daß er als unschuldig loskommen sollte; er wurde nur noch in seinem kleinen, in der Stralauer Straße belegenen Hause von Bürgern bewacht. Da trug es sich zu, daß er sich mit seinem Weibe erzürnte und daß diese in

zornigem Mute sprach: ,Wenn der gnädige Herr Kurfürst nur wüßte, was du für ein böser Schelm bist und was für Bubenstücke du mit deinem Zauberbuche kannst zuwege bringen, würdest du lange kalt sein.' Das wurde dem Kurfürsten berichtet, der ließ strenge nachforschen in Lippolds Hause nach dem Zauberbuche, das man endlich fand und das, als es Leute, die dessen Verstand hatten, lasen, seine Schelmerei klar an den Tag brachte. Böse Künste hatte er getrieben, um den Herrn sich ganz zu eigen zu machen und das ganze Land zu beherrschen, und nur des Kurfürsten Gottseligkeit hatte dem satanischen Zauber widerstanden. Lippold wurde auf dem Neumarkt hingerichtet, als aber die Flammen seinen Körper und das Zauberbuch verzehrten, kam unter dem Gerüst eine große Maus hervor und lief ins Feuer. Viele Leute hielten die Maus für Lippolds Zauberteufel."

Während der Goldschmied dies erzählte, hatte der Alte beide Arme auf den Tisch gestützt, die Hände vors Gesicht gehalten und gestöhnt und geächzt wie einer, der große unerträgliche Schmerzen leidet.

Der Geheime Kanzleisekretär schien dagegen nicht sonderlich auf des Goldschmieds Worte zu achten. Er war über die Maßen freundlich und in dem Augenblick von ganz andern Gedanken und Bildern erfüllt. Als nämlich der Goldschmied geendet, fragte er schmunzelnd mit süß lispelnder Stimme: "Aber sagen Sie mir nur, mein allerwertester hochverehrtester Herr Professor, war denn das wirklich die Demoiselle Albertine Voßwinkel, die aus dem verfallenen Fenster des Rathausturmes mit ihren schönen Augen auf uns herniederblickte?"

"Was", fuhr ihn der Goldschmied wild an, "was haben Sie mit der Albertine Voßwinkel?"

"Nun", erwiderte Tusmann kleinlaut, "nun, du mein lieber Himmel, das ist ja eben diejenige holde Dame, die ich zu lieben und zu heiraten unternommen."

"Herr", rief nun der Goldschmied, blutrot im ganzen Gesicht

und glühenden Zorn in den feuersprühenden Augen, "Herr, ich glaube, Sie sind vom Teufel besessen oder total wahnsinnig! Sie wollen die schöne blutjunge Albertine Voßwinkel heiraten? Sie alter abgelebter armseliger Pedant? Sie, der Sie mit all Ihrer Schulgelehrsamkeit, mitsamt Ihrer aus dem Thomasius geschöpften politischen Klugheit nicht drei Schritt über Ihre eigne Nase wegsehen können? —Solche Gedanken lassen Sie sich nur vergehen, sonst könnte Ihnen noch in dieser Äquinoktialnacht das Genick gebrochen werden."

Der Geheime Kanzleisekretär war sonst ein sanfter friedfertiger, ja furchtsamer Mann, der niemanden, wurde er auch angegriffen, ein hartes Wort sagen konnte. Zu schnöde waren aber wohl des Goldschmieds Worte, und kam noch hinzu, daß Tusmann mehr starken Wein, als er gewohnt, getrunken hatte, so konnt es nicht fehlen, daß er, wie sonst niemals, zornig auffuhr und mit gellender Stimme rief: "Ich weiß gar nicht, wie Sie mir vorkommen, mein unbekannter Herr Goldschmied, was Sie berechtigt, mir so zu begegnen? —Ich glaube gar, Sie wollen mich äffen durch allerhand kindische Künste und vermessen sich, die Demoiselle Albertine Voßwinkel selbst lieben zu wollen, und haben die Dame porträtiert auf Glas und mir mittelst einer Laterna magica, die Sie unter dem Mantel verborgen, das angenehme Bildnis gezeigt am Rathausturm! — O mein Herr, auch ich verstehe mich auf solche Dinge, und Sie verfehlen den Weg, wenn Sie glauben, mich durch Ihre Künste, durch Ihre groben Redensarten einzuschüchtern

"Nehmen Sie sich in acht", sprach nun der Goldschmied gelassen und sonderbar lächelnd, "nehmen Sie sich in acht, Tusmann, Sie haben es hier mit kuriosen Leuten zu tun."

Aber in dem Augenblick grinste statt des Goldschmieds ein abscheuliches Fuchsgesicht den Geheimen Kanzleisekretär an, der, von dem tiefsten Entsetzen erfaßt, zurücksank in den Sessel.

Der Alte schien sich über des Goldschmieds Verwand

lung weiter gar nicht zu verwundern, vielmehr hatte er auf einmal sein mürrisches Wesen ganz verloren und rief lachend: "Sehen Sie doch, welch hübscher Spaß — aber das sind brotlose Künste, da weiß ich Besseres und vermag Dinge, die dir stets zu hoch geblieben sind, Leonhard."

"Laß doch sehen", sprach der Goldschmied, der nun wieder sein menschliches Gesicht angenommen, sich ruhig an den Tisch setzend, "laß doch sehen, was du kannst."

Der Alte holte einen großen schwarzen Rettich aus der Tasche, putzte und schälte ihn mit einem kleinen Messer, das er ebenfalls hervorgezogen, sauber ab, zerschnitt ihn in dünne Scheiben und legte diese auf den Tisch.

Aber sowie er mit geballter Faust auf eine Rettichscheibe schlug, sprang klappernd ein schön ausgeprägtes flimmerndes Goldstück hervor, das er faßte und dem Goldschmied zuwarf. Doch sowie dieser das Goldstück auffing, zerstäubte es in tausend knisternde Funken. Das schien den Alten zu ärgern, immer rascher und stärker prägte er die Rettichscheiben aus, immer prasselnder zersprangen sie in des Goldschmieds Hand.

Der Geheime Kanzleisekretär war ganz außer sich, betäubt von Entsetzen und Angst; endlich raffte er sich mit Gewalt auf aus der Ohnmacht, der er nahe war, und sprach mit bebender Stimme: "Da will ich mich doch den hochzuverehrenden Herren lieber ganz gehorsamst empfehlen" — sprang alsbald, nachdem er Hut und Stock ergriffen, schnell zur Türe heraus.

Auf der Straße hörte er, wie die beiden Unheimlichen hinter ihm her eine gehende Lache aufschlugen, vor der ihm das Blut in den Adern gefror.


Zweites Kapitel



worin erzählt wird, wie eines Zigarros halber, der nicht brennen wollte, sich ein Liebesverständnis erschloß, nachdem die Verliebten schon früher mit den Köpfen aneinandergerannt

Auf weniger verfängliche Weise als der Geheime Kanzleisekretär Tusmann hatte der junge Maler Edmund Lehsen die Bekanntschaft des alten wunderlichen Goldschmieds Leonhard gemacht.

Edmund entwarf gerade an einer einsamen Stelle des Tiergartens eine schöne Baumgruppe nach der Natur, als Leonhard zu ihm trat und ohne Umstände ihm über die Schulter ins Blatt hineinsah. Edmund ließ sich gar nicht stören, sondern zeichnete emsig fort, bis der Goldschmied rief: "Das ist ja eine ganz sonderbare Zeichnung, lieber junger Mann, das werden ja am Ende keine Bäume, das wird ja ganz etwas anders."

"Merken Sie etwas, mein Herr?" sprach Edmund mit leuchtenden Blicken. "Nun", fuhr der Goldschmied fort, "ich meine, aus den dicken Blättern da guckten allerlei Gestalten heraus im buntesten Wechsel, bald Genien, bald seltsame Tiere, bald Jungfrauen, bald Blumen. Und doch sollte das Ganze wohl nur sich zu jener Baumgruppe uns gegenüber gestalten, durch die die Strahlen der Abendsonne so lieblich funkeln."

"Ei, mein Herr", rief Edmund, "Sie haben entweder einen gar tiefen Sinn, ein durchschauendes Auge für dergleichen, oder ich war in diesen Augenblicken glücklicher im Darstellen meiner innersten Empfindung als jemals. Ist es Ihnen nicht auch so, wenn Sie sich in der Natur ganz Ihrem sehnsüchtigen Gefühl überlassen, als schauten durch die Bäume, durch das Gebüsch allerlei wunderbare Gestalten Sie mit holden Augen an? — Das war es, was ich in dieser Zeichnung recht versinnlichen wollte, und ich merke, es ist mir gelungen."

"Ich verstehe", sprach Leonhard etwas kalt und trocken, "Sie wollten, frei von allem eigentlichen Studium, sich Rast geben und in einem anmutigen Spiel Ihrer Phantasie sich erheitern und erkräftigen."

"Keinesweges, mein Herr 1" erwiderte Edmund, "gerade diese Art, nach der Natur zu zeichnen, halte ich für mein bestes, nutzenvollstes Studieren. Aus solchen Studien trag ich das wahrhaft Poetische, Phantastische in die Landschaft. Dichter muß der Landschaftsmaler ebensogut sein als der Geschichtsmaler, sonst bleibt er ewig ein Stümper."

"Hilf, Himmel", rief Leonhard, "auch Sie, lieber Edmund Lehsen -"

"Wie", unterbrach Edmund den Goldschmied, "wie, Sie kennen mich, mein Herr!"

"Warum", erwiderte Leonhard, "soll ich Sie denn nicht kennen? — Ich machte Ihre erste werte Bekanntschaft in einem Augenblick, auf den Sie sich wahrscheinlich nicht sehr deutlich besinnen werden, nämlich als Sie soeben geboren waren. Für die wenige Welterfahrung, die Sie damals besitzen konnten, hatten Sie sich überaus sittig und klug betragen, Ihrer Frau Mama ungemein wenig Mühe gemacht und sogleich ein sehr wohlklingendes Freudengeschrei erhoben, auch heftig ans Tageslicht verlangt, das man Ihnen nach meinem Rat nicht verweigern durfte, da nach dem Ausspruch der neuesten Ärzte dieses den neugebornen Kindern nicht nur keinesweges schadet, sondern vielmehr wohltätig auf ihren Verstand, auf ihre physischen Kräfte überhaupt wirkt. Ihr Herr Papa war auch dermaßen fröhlich, daß er auf einem Beine im Zimmer herumhopste und aus der ,Zauberflöte' sang: ,Bei Männern, welche Liebe fühlen' etc. Nachher gab er mir Ihre kleine Person in die Hände und bat mich, Ihr Horoskop zu stellen, welches ich auch tat. Dann kam ich noch öfters in Ihres Vaters Haus, und Sie verschmähten nicht, manche Tüte Rosinen und Mandeln aufzunaschen, die ich Ihnen mitbrachte. Nachher ging ich auf Reisen, Sie mochten damals sechs oder acht Jahr alt sein. Dann

kam ich hieher nach Berlin, sah Sie und vernahm mit Vergnügen, daß Ihr Vater Sie aus Müncheberg hieher geschickt, um die edle Malerkunst zu studieren, für welches Studium in Müncheberg eben nicht sonderlicher Fond vorhanden an Bildern, Marmorn, Bronzen, Gemmen und andern bedeutenden Kunstschätzen. Ihre gute Vaterstadt kann sich darin nicht mit Rom, Florenz oder Dresden messen, wie vielleicht künftig Berlin, wenn funkelnagelneue Antiken aus der Tiber gefischt und hieher transportiert werden."

"Mein Gott", sprach Edmund, "jetzt gehen mir alle Erinnerungen aus meiner frühesten Jugend lebhaft auf. Sind Sie nicht Herr Leonhard?"

"Allerdings", erwiderte der Goldschmied, "heiße ich Leonhard und nicht anders, indessen möcht es mich doch wundern, wenn Sie sich aus so früher Zeit meiner noch erinnern sollten."

"Und doch", fuhr Edmund fort, "ist es der Fall. Ich weiß, daß ich mich jedesmal, wenn Sie in meines Vaters Hause erschienen, sehr freute, weil Sie mir allerlei Näschereien mitbrachten und sich überhaupt viel mit mir abgaben, und dabei verließ mich nicht eine scheue Ehrfurcht, ja eine gewisse Angst und Beklommenheit, die oft noch fortdauerte, wenn Sie schon weggegangen waren. Aber noch mehr sind es die Erzählungen meines Vaters von Ihnen, die Ihr Andenken in meiner Seele frisch erhalten haben. Er rühmte sich Ihrer Freundschaft, da Sie ihn mit besonderer Gewandtheit aus allerlei verdrießlichen Vorfällen und Verwickelungen, wie sie im Leben wohl vorkommen, glücklich gerettet hatten. Mit Begeisterung sprach er aber davon, wie Sie in die tiefen geheimen Wissenschaften eingedrungen, über manche verborgene Naturkraft geböten nach Willkür, und manchmal - verzeihen Sie -gab er nicht undeutlich zu verstehen, Sie wären wohl am Ende, das Ding bei Lichte besehen, Ahasverus, der Ewige Jude!"

"Warum nicht gar der Rattenfänger von Hameln oder der alte Überall und Nirgends oder das Petermännchen oder

sonst ein Kobold", unterbrach der Goldschmied den Jüngling; "aber wahr mag es sein, und ich will es gar nicht leugnen, daß es mit mir eine gewisse eigene Bewandtnis hat, von der ich nicht sprechen darf, ohne Ärgernis zu erregen. Ihrem Herrn Papa habe ich in der Tat viel Gutes erzeigt durch meine geheimen Künste; vorzüglich erfreute ihn gar sehr das Horoskop, das ich Ihnen stellte nach Ihrer Geburt."

"Nun", sprach der Jüngling, indem hohe Röte seine Wangen überflog, "nun, mit dem Horoskop war es eben nicht so sehr erfreulich. Mein Vater hat es mir oft wiederholt, Ihr Ausspruch sei gewesen, es würde was Großes aus mir werden, entweder ein großer Künstler oder ein großer Narr. — Wenigstens hab ich es aber diesem Ausspruch zu verdanken, daß mein Vater meiner Neigung zur Kunst freien Lauf ließ, und glauben Sie nicht, daß Ihr Horoskop zutreffen wird?"

"0 ganz gewiß", erwiderte der Goldschmied sehr kalt und gelassen, "es ist gar nicht daran zu zweifeln, denn Sie sind eben jetzt auf dem schönsten Wege, ein großer Narr zu werden."

"Wie, mein Herr", rief Edmund betroffen, "wie, mein Herr, Sie sagen mir das so geradezu ins Gesicht? Sie -"

"Es liegt", fiel ihm der Goldschmied ins Wort, "nun gänzlich an dir, der schlimmen Alternative meines Horoskops zu entgehen und ein tüchtiger Künstler zu werden. Deine Zeichnungen, deine Entwürfe verraten eine reiche lebendige Phantasie, eine rege Kraft des Ausdrucks, eine kecke Gewandtheit der Darstellung; auf diese Fundamente läßt sich ein wackeres Gebäude aufführen. Laß ab von aller modischen Überspanntheit und gib dich ganz hin dem ernsten Studium. Ich rühm es, daß du nach der Würde und Einfachheit der alten deutschen Maler trachtest, aber auch hier magst du sorglich die Klippe vermeiden, an der so viele scheitern. Es gehört wohl ein tiefes Gemüt, eine Seelenkraft, die der Erschlaffung der modernen Kunst zu widerstehen vermag, dazu, ganz aufzufassen den wahren Geist der alten deutschen Meister, ganz einzudringen in den Sinn ihrer Ge

bilde. Nur dann wird sich aus dem Innersten heraus der Funke entzünden und die wahre Begeisterung Werke schaffen, die ohne blinde Nachahmerei eines besseren Zeitalters würdig sind. Aber jetzt meinen die jungen Leute, wenn sie irgendein biblisches Bild mit klapperdürren Figuren, ellenlangen Gesichtern, steifen eckichten Gewändern und falscher Perspektive zusammenstoppeln, sie hätten gemalt in der Manier der alten deutschen hohen Meister. Solche geistestote Nachähmler mögen dem Bauerjungen zu vergleichen sein, der in der Kirche beidem Vaterunser den Hut vor die Nase hielt, ohne es auswendig beten zu können, angebend, wisse er auch das Gebet nicht, so kenne er doch die Melodie davon."

Der Goldschmied sprach noch viel Wahres und Schönes über die edle Kunst der Malerei und gab dem künstlerischen Edmund weise vortreffliche Lehren, so daß dieser, ganz durchdrungen, zuletzt fragte, wie es möglich sei, daß Leonhard soviel Kenntnis habe erwerben können, ohne selbst Maler zu sein, und daß er so im Verborgenen lebe, ohne sich Einfluß zu verschaffen auf die Kunstbestrebungen aller Art.

"Ich habe", erwiderte der Goldschmied mit sehr mildem ernsten Ton, "ich habe dir schon gesagt, daß eine lange, ja in der Tat sehr wunderbar lange Erfahrung meinen Blick, mein Urteil geschärft hat. Was aber meine Verborgenheit betrifft, so bin ich mir bewußt, daß ich überall etwas seltsam auftreten würde, wie es nun einmal nicht nur meine ganze Organisation, sondern auch das Gefühl einer gewissen mir inwohnenden Macht gebietet, und dies könnte mein ganzes ruhiges Leben hier in Berlin verstören. Ich gedenke noch eines Mannes, der in gewisser Hinsicht mein Ahnherr sein könnte und der mir so in Geist und Fleisch gewachsen ist, daß ich zuweilen im seltsamen Wahn glaube, ich sei es eben selbst. Niemanden anders meine ich als jenen Schweizer Leonhard Turnhäuser zum Thurm, der ums Jahr eintausendfünfhundertundzweiundachtzig hier in Berlin am Hofe des Kurfürsten Johann George lebte. Damals war, wie du wissen

wirst, jeder Chemiker ein Alchimist und jeder Astronom ein Astrolog genannt, und so mochte Turnhäuser auch beides sein. Soviel ist indessen gewiß, daß Turnhäuser die merkwürdigsten Dinge zustande brachte und außerdem sich als tüchtiger Arzt bewies. Er hatte indessen den Fehler, seine Wissenschaft überall geltend machen zu wollen, sich in alles zu mischen, überall mit Rat und Tat bei der Hand zu sein. Das zog ihm Haß und Neid zu, wie der Reiche, der mit seinem Reichtum, ist er auch wohlerworben, eitlen Prunk treibt, sich am ersten Feinde auf den Hals zieht. Nun begab es sich, daß man dem Kurfürsten eingeredet hatte, Turnhäuser vermöge Gold zu machen, und daß dieser, sei es nun, weil er sich wirklich nicht darauf verstand oder weil andere Gründe ihn dazu trieben, hartnäckig verweigerte zu laborieren. Da kamen Turnhäusers Feinde und redeten zum Kurfürsten: ,Seht Ihr wohl, was das für ein verschmitzter unverschämter Geselle ist? Er prahlt mit Kenntnissen, die er nicht besitzt, und treibt allerlei zauberische Possen und jüdische Händel, die er büßen sollte mit schmachvollem Tode wie der Jude Lippold.' Turnhäuser war sonst wirklich ein Goldschmied gewesen, das kam heraus, und nun bestritt man ihm vollends alle Wissenschaft, die er doch sattsam an den Tag gelegt. Man behauptete sogar, daß er all die scharfsinnigen Schriften, die bedeutungsvollen Prognostica, die er herausgegeben, nicht selbst verfertigt, sondern sich habe machen lassen von andern Leuten um bares Geld. Genug, Haß, Neid, Verleumdung brachten es dahin, daß er, um dem Schicksal des Juden Lippold zu entgehen, in aller Stille Berlin und die Mark verlassen mußte. Da schrien die Widersacher, er habe sich zum päpstischen Haufen begeben, das ist aber nicht wahr. Er ging nach Sachsen und trieb sein Goldschmiedshandwerk, ohne der Wissenschaft zu entsagen."

Edmund fühlte sich auf wunderbare Weise zu dem alten Goldschmied hingezogen, und dieser lohnte ihm das ehrfurchtsvolle Vertrauen, wie er es gegen ihn äußerte, dadurch, daß er nicht allein in seinem Kunststudium sein

strenger, aber tief belehrender Kritiker blieb, sondern ihm auch in Ansehung der Bereitung und Mischung der Farben gewisse Geheimnisse, die den alten Malern zu Gebote standen, entdeckte, welche sich in der Ausführung auf das herrlichste bewährten.

So bildete sich nun zwischen Edmund und dem alten Leonhard das Verhältnis, in dem der hoffnungsvolle geliebte Zögling mit dem väterlichen Lehrer und Freunde steht.

Bald darauf begab es sich, daß an einem schönen Sommerabende bei dem "Hofjäger" im Tiergarten dem Kommissionsrat Herrn Melchior Voßwinkel kein einziger von den mitgebrachten Zigarren brennen wollte. Sie hatten sämtlich keine Luft. Mit steigendem Unwillen warf der Kommissionsrat einen nachdem andern an die Erde und rief zuletzt: "0 Gott, hab ich darum mit vieler Mühe und nicht unbedeutenden Kosten Zigarren direkte aus Hamburg verschrieben, damit mich die schmählichen Dinger in meiner besten Lust stören sollten? — Kann ich jetzt wohl auf vernünftige Weise die schöne Natur genießen und einen nützlichen Diskurs führen? — Es ist doch entsetzlich!"

Er hatte diese Worte gewissermaßen an Edmund Lehsen gerichtet, der neben ihm stand und dessen Zigarro ganz fröhlich dampfte.

Edmund, ohne den Kommissionsrat weiter zu kennen, zog sogleich seine gefüllte Zigarrenbüchse hervor und reichte sie freundlich dem Verzweifelnden hin, mit der Bitte, zuzulangen, da er für die Güte und Brennbarkeit der Zigarren einstehe, ungeachtet er sie nicht direkte von Hamburg bekommen, sondern aus einem Laden in der Friedrichsstraße erkauft habe.

Der Kommissionsrat, ganz Freude und Fröhlichkeit, langte mit einem "Bitt ganz ergebenst" wirklich zu, und als nur, kaum mit dem brennenden Fidibus berührt, die feinen lichtgrauen Wolken aus dem angenehmen Glimmstengel oder Tabaksröhrlein, wie die Puristen den Zigarro benannt

haben wollen, sich emporkräuselten, rief der Mann ganz entzückt: "0 mein wertester Herr, Sie reißen mich wirklich aus arger Verlegenheit! — Tausend Dank dafür, und beinahe möcht ich unverschämt genug sein, Sie, wenn dieser Zigarro verraucht, um einen zweiten zu bitten."

Edmund versicherte, daß er über seine Zigarrenbüchse gebieten könne, und beide trennten sich dann.

Als nun aber, da es schon ein wenig zu dämmern begann, Edmund, den Entwurf eines Bildes im Kopfe, mithin ziemlich abwesend und die bunte Gesellschaft nicht beachtend, sich durch Tische und Stühle drängte, um ins Freie zu kommen, stand plötzlich der Kommissionsrat wieder vor ihm und fragte sehr freundlich, ob er nicht an seinem Tisch Platz nehmen wolle. Im Begriff, es auszuschlagen, weil er sich hinaussehnte in den Wald, fiel ihm ein Mädchen ins Auge, das, die Jugend, Anmut, der Liebreiz selbst, an dem Tische saß, von dem der Kommissionsrat aufgestanden war.

"Meine Tochter Albertine", sprach der Kommissionsrat zu Edmund, der regungslos das Mädchen anstarrte und beinahe vergaß, sie zu begrüßen. Er erkannte auf den ersten Blick in Albertinen das bildschöne, mit der höchsten Eleganz gekleidete Frauenzimmer wieder, das er in der vorjährigen Kunstausstellung vor einer von seinen Zeichnungen antraf. Sie erklärte mit Scharfsinn der ältern Frau und den beiden jungen Mädchen, die mit ihr gekommen, den Sinn des phantastischen Gebildes, sie ging ein auf Zeichnung, Gruppierung, sie rühmte den Meister, der das Werk geschaffen, und bemerkte, daß es ein sehr junger hoffnungsvoller Künstler sein solle, den sie wohl kennenzulernen wünsche. Edmund stand dicht hinter ihr und sog begierig das Lob ein, das von den schönsten Lippen floß. Vor lauter süßer Angst und bangem Herzklopfen vermochte er es nicht über sich, hervorzutreten als Schöpfer des Bildes. — Da läßt Albertine den Handschuh, den sie eben von der Hand gezogen, auf die Erde fallen; schnell bückt sich Edmund, ihn aufzuheben, Albertine ebenfalls, beide fahren mit den Köpfen

zusammen, daß es knackt und kracht! — "Herr Gott im Himmel", ruft Albertine, vor Schmerz sich den Kopf haltend.

Entsetzt prallt Edmund zurück, tritt bei dem ersten Schritt den kleinen Mops der alten Dame wund, daß er laut aufquiekt, bei dem zweiten einem podagrischen Professor auf die Füße, der ein furchtbares Gebrülle erhebt und den unglücklichen Edmund zu allen tausend Teufeln in die flammende Hölle wünscht. Und aus allen Sälen laufen die Menschen herbei, und alle Lorgnetten sind auf den armen Edmund gerichtet, der unter dem trostlosen Wimmern des wunden Mopses, unter dem Fluchen des Professors, unter dem Schelten der alten Dame, unter dem Kichern und Lachen der Mädchen, über und über glühend vor Scham, ganz verzweifelt herausstürzt, während mehrere Frauenzimmer ihre Riechfläschchen öffnen und Albertinen die hoch aufgelaufene Stirn mit starkem Wasser reiben.

Schon damals, in dem kritischen Augenblick des lächerlichen Auftritts, war Edmund, ohne doch dessen sich selbst deutlich bewußt zu sein, in Liebe gekommen, und nur das schmerzliche Gefühl seiner Tölpelei hielt ihn zurück, das Mädchen an allen Ecken und Enden der Stadt aufzusuchen. Er konnte sich Albertinen nicht anders denken als mit roter wunder Stirn und den bittersten Vorwurf, den entschiedensten Zorn im Gesicht, im ganzen Wesen.

Davon war aber heute nicht die mindeste Spur anzutreffen. Zwar errötete Albertine über und über, als sie den Jüngling erblickte, und schien ebensosehr außer Fassung; als aber der Kommissionsrat ihn um Stand und Namen fragte, fiel sie, hold lächelnd, mit süßer Stimme ein, daß sie sehr irren müßte, wenn sie nicht Herrn Lehsen vor sich sähe, den vortrefflichen Künstler, dessen Zeichnungen, dessen Gemälde ihr tiefstes Gemüt ergriffen.

Man kann denken, daß diese Worte Edmunds Inneres zündend durchfuhren wie ein elektrischer Schlag. Begeistert wollte er ausbrechen in die vortreiflichsten Redensarten, der Kommissionsrat ließ es aber nicht dazu kommen, sondern

drückte den Jüngling stürmisch an die Brust und sprach: "Bester! um den versprochenen Zigarro!" —Und dann weiter, während er den Zigarro, den ihm Edmund darbot, geschickt mit dem Brennstoff, der noch in der Asche des eben verrauchten enthalten, anzündete: "Also ein Maler sind Sie, und zwar ein vortrefflicher, wie meine Tochter Albertine behauptet, die sich auf dergleichen Dinge genau versteht. — Nun, das freut mich außerordentlich, ich liebe die Malerei oder, um mit meiner Tochter Albertine zu reden, die Kunst überhaupt ganz ungemein, ich habe einen wahren Narren daran gefressen! — bin auch Kenner - ja wahrhaftig, ein tüchtiger Kenner von Gemälden, mir kann ebensowenig als meiner Tochter Albertine jemand ein X vor ein U machen, wir haben Augen -wir haben Augen! —Sagen Sie mir, teurer Maler, sagen Sie mir's ehrlich ohne Scheu, nicht wahr, Sie sind der wackre Künstler, vor dessen Gemälden ich täglich vorbeigehe und jedesmal stehenbleibe wohl einige Minuten lang, weil ich vor lauter Freude über die schönen Farben gar nicht loskommen kann?"

Edmund begriff nicht recht, wie es der Kommissionsrat anstellen sollte, täglich bei seinen Gemälden vorüberzugehen, da er sich nicht erinnern konnte, jemals Aushängeschilder gemalt zu haben. Nach einigem Hinundherfragen kam es aber heraus, daß Melchior Voßwinkel nichts anders meinte als die lackierten Teebretter, Ofenschirme und dergleichen in dem Stobwasserschen Laden Unter den Linden, die er in der Tat jeden Morgen um eilf Uhr, wenn er bei Sala Tarone vier Sardellen gegessen und ein Gläschen Danziger genommen, mit wahrem Entzücken betrachtete. Diese Kunstfabrikate galten ihm für das Höchste, was jemals die Kunst geleistet. — Das verschnupfte den Edmund nicht wenig, er verwünschte den Kommissionsrat, der mit seinem faden Wortschwall ihm jede Annäherung an Albertinen unmöglich machte.

Endlich erschien ein Bekannter des Kommissionsrats, der ihn in ein Gespräch zog. Diesen Moment nutzte Edmund

und setzte sich hin dicht neben Albertinen, die das gar gern zu sehen schien.

Jeder, der die Demoiselle Albertine Voßwinkel kennt, weiß, daß sie, wie gesagt, die Jugend, Schönheit und Anmut selbst ist, daß sie sich, wie die Berliner Mädchen überhaupt, nach der besten Mode sehr geschmackvoll zu kleiden weiß, daß sie in der Zelterschen Akademie singt, von Herrn Lauska Unterricht auf dem Fortepiano erhält, in den niedlichsten Sprüngen der Ersten Tänzerin nachtanzt, schon eine schön gestickte Tulpe nebst diversen Vergißmeinnicht und Veilchen zur Kunstausstellung geliefert hat und, von Natur heitern aufgeweckten Temperaments, doch, zumal beim Tee, genügende Empfindsamkeit an den Tag legen kann. Jeder weiß auch endlich, daß sie mit niedlicher, sauberer Perlschrift Gedichte und Sentenzen, die ihr in Goethes, Jean Pauls und anderer geistreicher Männer und Frauen Schriften vorzüglich wohlgefallen, in ein Büchlein mit einem goldverzierten Maroquindeckel einträgt und das Mir und Mich, Sie und Ihnen niemals verwechselt.

Wohl war es natürlich, daß Albertine an der Seite des jungen Malers, dem das Entzücken der scheuen Liebe aus dem Herzen strömte, in noch höhere als in die gewöhnliche Tee- und Vorlese-Empfindsamkeit geraten mußte und daß sie daher von Kindlichkeit, poetischem Gemüt, Lebenstiefe und dergleichen auf die artigste Weise melodisch lispelnd sprach.

Der Abendwind hatte sich erhoben und wehete süße Blütendüfte vor sich her, und im dichten dunkelm Gebüsch duettierten zwei Nachtigallen in den zärtlichsten Liebesklagen.

Da begann Albertine aus Fouqués Gedichten:

"Ein Flüstern, Rauschen, Klingen
Geht durch den Frühlingshain,
Fängt wie mit Liebesschlingen
Geist, Sinn und Leben ein!"

Kühner geworden in der tiefen Dämmerung, die nun eingebrochen, faßte Edmund Albertinens Hand, drückte sie an seine Brust und sprach weiter:

"Säng ich es nach, was leise
Solch stilles Leben spricht,
So schien' aus meiner Weise
Das ew'ge Liebeslicht."

Albertine entzog ihm ihre Hand, aber nur, um sie von dem feinen Glacéhandschuh zu befreien und dann dem Glücklichen wieder zu überlassen, der sie eben feurig küssen wollte, als der Kommissionsrat dazwischenfuhr: "Potztausend, das wird kühl! — Ich wollte, ich hätt einen Mantel oder einen Überrock zu mir gesteckt, oder mit mir genommen, will ich vielmehr sagen. Hülle dich in deinen Shawl, Tinchen, — es ist ein türkischer, bester Maler, und kostet fünfzig bare Dukaten. — Hülle dich wohl ein, sag ich, Tinchen, wir wollen uns auf den Weg machen. Leben Sie wohl, mein Bester."

Von einem richtigen Takt getrieben, griff in diesem Augenblick Edmund nach der Zigarrenbüchse und bot dem Kommissionsrat den dritten Glimmstengel an.

"Oh, ich bitte ganz gehorsamst", rief Voßwinkel, "Sie sind ja ein überaus artiger gefälliger Mann. Die Polizei will nicht erlauben, daß man im Tiergarten wandelnd rauche, damit man das schöne Gras nicht versenge; aber deshalb schmeckt ein Pfeifchen oder ein Zigarro nur desto schöner."

In dem Augenblick, als der Kommissionsrat sich der Laterne nahte, um den Zigarro anzuzünden, bat Edmund leise und scheu, Albertinen nach Hause begleiten zu dürfen. Sie nahm seinen Arm, beide schritten vor, und der Kommissionsrat schien, als er hinantrat, es vorausgesetzt zu haben, daß Edmund mit ihnen nach der Stadt gehen würde.

Jeder, der jung war und verliebt oder beides noch ist (manchem passiert das niemals), wird es sich einbilden

können, daß es dem Edmund an Albertinens Seite dünkte, er gehe nicht durch den Wald, sondern schwebe hoch über den Bäumen im schimmernden Gewölk mit der Schönsten daher.

Nach Rosalindens Ausspruch in Shakespeares "Wie es euch gefällt" sind die Kennzeichen eines Verliebten: eingefallene Wangen, Augen mit blauen Rändern, ein gleichgültiger Sinn, ein verwilderter Bart, lose hängende Kniegürtel, eine ungebundene Mütze, aufgeknüpfle Ärmel, nicht zugeschnürte Schuhe und eine nachlässige Trostlosigkeit in allem Tun und Lassen. Dies alles traf nun zwar bei Edmund ebensowenig zu als bei dem verliebten Orlando, aber so wie dieser die junge Baumzucht ruinierte, indem er den Namen Rosalinde in alle Rinden grub, Oden an Weißdornen hing und Elegien an die Brombeersträuche, so verdarb Edmund eine Menge Papier, Pergament, Leinwand und Farben, seine Geliebte in hinlänglich schlechten Versen zu besingen und sie zu zeichnen, zu malen, ohne sie jemals zu treffen, da seine Phantasie seine Kunstfertigkeit überflügelte. Kam nun noch der seltsam somnambule Blick des Liebeskranken und ein erkleckliches Seufzen zu jeder Zeit und Stunde hinzu, so konnte es nicht fehlen, daß der alte Goldschmied den Zustand seines jungen Freundes sehr bald erriet. Als er ihn darüber befragte, nahm Edmund gar keinen Anstand, ihm sein ganzes Herz zu erschließen.

"Ei", rief Leonhard, als Edmund geendet, "ei, du denkst wohl nicht daran, daß es ein schlimmes Ding ist, sich in eine Braut zu verlieben: Albertine Voßwinkel ist so gut wie versprochen an den Geheimen Kanzleisekretär Tusmann."

Edmund geriet über diese entsetzliche Nachricht sogleich in ganz ungemeine Verzweiflung. Leonhard wartete sehr ruhig den ersten Paroxismus ab und fragte dann, ob er wirklich die Demoiselle Albertine Voßwinkel zu heiraten gedenke. Edmund versicherte, daß die Verbindung mit Albertinen der höchste Wunsch seines Lebens sei, und beschwor den Alten, ihm beizustehen mit aller Kraft, um den Geheimen

Kanzleisekretär aus dem Felde zu schlagen und die Schönste für sich zu gewinnen.

Der Goldschmied meinte, verlieben könne ein blutjunger Künstler sich wohl, aber ganz unersprießlich sei es für denselben, wenn er gleich ans Heiraten dächte. Ebendeshalb habe auch der junge Sternbald zur Heirat sich durchaus nicht bequemen wollen, und er sei, soviel er wisse, bis dato unverheiratet geblieben.

Der Stich traf; denn Tiecks "Sternbald" war Edmunds Lieblingsbuch, und er wäre gar zu gern selbst der Held des Romans gewesen. Daher kam es denn, daß er ein gar betrübtes Gesicht schnitt und beinahe ausgebrochen wäre in herbe Tränen.

"Nun", sprach der Goldschmied, "mag es kommen, wie es will, den Geheimen Kanzleisekretär schaff ich dir vom Halse: in das Haus des Kommissionsrats auf diese oder jene Weise zu dringen und dich Albertinen mehr und mehr anzunähern, das ist deine Sache. Übrigens können meine Operationen gegen den Geheimen Kanzleisekretär erst in der Äquinoktial-Nacht beginnen."

Edmund war über des Goldschmieds Zusicherung außer sich vor Freuden, denn er wußte, daß der Alte Wort hielt, wenn er etwas versprach.

Auf welche Weise der Goldschmied seine Operationen gegen den Geheimen Kanzleisekretär begann, hat der geneigte Leser bereits im ersten Kapitel erfahren.


Drittes Kapitel

Enthält das Signalement des Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann sowie die Ursache, warum derselbe vom Pferde des Großen Kurfürsten herabsteigen mußte, nebst andern lesenswerten Dingen

Eben aus dem allen, was du, mein sehr günstiger Leser! über den Geheimen Kanzleisekretär Tusmann bereits erfahren, magst du den Mann wohl ganz und gar vor Augen

haben nach seinem ganzen Sinn und Wesen. Doch will ich, was sein Äußeres betrifft, noch nachbringen, daß er von kleiner Statur war, kahlköpfig, etwas krummbeinig und ziemlich grotesk im Anzuge. Zu einem altväterisch zugeschnittenen Rock mit unendlich langen Schößen und einem überlangen Gilet trug er lange weite Beinkleider und Schuhe, die aber im Gehen den Klang von Kurierstiefeln von sich gaben, wobei zu bemerken, daß er nie gemessenen Schrittes über die Straße ging, vielmehr in großen unregelmäßigen Sprüngen mit unglaublicher Schnelligkeit forthüpfte, so daß oben besagte Schöße, vom Winde erfaßt, sich ausbreiteten wie ein Paar Flügel. Ungeachtet in seinem Gesicht etwas unbeschreiblich Drolliges lag, so mußte das sehr gutmütige Lächeln, das um seinen Mund spielte, doch jeden für ihn einnehmen, so daß man ihn liebgewann, während man über seine Pedanterie, über sein linkisches Benehmen, das ihn der Welt entfremdete, von Herzen lachte. Seine Hauptleidenschaft war - Lesen! — Er ging nie aus, ohne beide Rocktaschen voll Bücher gestopft zu haben. Er las, wo er ging und stand, auf dem Spaziergange, in der Kirche, in dem Kaffeehause, er las ohne Auswahl alles, was ihm vorkam, wiewohl nur aus der ältern Zeit, da ihm das Neue verhaßt war. So studierte er heute auf dem Kaffeehause ein algebraisches Buch, morgen das Kavalleriereglement Friedrich Wilhelms des Ersten und dann das merkwürdige Buch "Cicero, als großer Windbeutel und Rabulist dargestellt in zehn Reden" aus dem Jahre 1720. Dabei war Tusmann mit einem ungeheuren Gedächtnisvermögen begabt. Er pflegte alles, was ihm bei dem Lesen eines Buches auffiel, zu zeichnen und dann das Gezeichnete wieder zu durchlaufen, welches er nun nie wieder vergaß. Daher kam es, daß Tusmann ein Polyhistor, ein lebendiges Konversationsiexikon wurde, das man aufschlug, wenn es auf irgendeine historische oder wissenschaftliche Notiz ankam. Traf es sich ja etwa einmal, daß er eine solche Notiz nicht auf der Stelle zu geben vermochte, so stöberte er so lange unermüdet in allen Bibliotheken umher, bis er das, was man zu wissen verlangte, aufgefunden, und rückte dann mit der verlangten Auskunft ganz fröhlich heran. Merkwürdig war es, daß er in Gesellschaft, lesend und scheinbar ganz in sein Buch vertieft, doch alles vernahm, was man sprach. Oft fuhr er mit einer Bemerkung dazwischen, die ganz an ihrem Orte stand, und wurde irgend etwas Witziges, Humoristisches vorgebracht, gab er, ohne von dem Buche aufzublicken, durch eine kurze Lache im höchsten Tenor seinen Beifall zu erkennen.

Der Kommissionsrat Voßwinkel war mit dem Geheimen Kanzleisekretär zusammen auf der Schule im Grauen Kloster gewesen, und von dieser Schulkameradschaft schrieb sich die enge Verbindung her, in welcher sie geblieben. Tusmann sah Albertinen aufwachsen und hatte ihr wirklich an ihrem zwölften Geburtstage, nachdem er ihr ein duftendes Blumenbouquet, das der berühmteste Kunstgärtner in Berlin selbst mit Geschmack geordnet, überreicht, zum erstenmal die Hand geküßt mit einem Anstande, mit einer Galanterie, die man ihm gar nicht hätte zutrauen sollen. Von diesem Augenblick an entstand bei dem Kommissionsrat der Gedanke, daß sein Schulfreund wohl Albertinen heiraten könne. Er meinte, so würde Albertinens Verheiratung, die er wünschte, am wenigsten Umstände machen und der genügsame Tusmann sich auch mit einem geringen Heiratsgut abfinden lassen. Der Kommissionsrat war über die Maßen bequem, fürchtete sich vor jeder neuen Bekanntschaft und hielt dabei als Kommissionsrat das Geld viel mehr zu Rate als nötig. An Albertinens achtzehntem Geburtstage eröffnete er diesen Plan, den er so lange für sich behalten, dem Geheimen Kanzleisekretär. Der erschrak erst darüber gewaltig. Er vermochte den kühnen Gedanken, zur Ehe zu schreiten, und noch dazu mit einem blutjungen bildschönen Mädchen, gar nicht zu ertragen. Nach und nach gewöhnte er sich daran, und als ihm eines Tages auf des Kommissionsrats Veranlassung Albertine eine kleine Börse, die sie selbst in den anmutigsten Farben gestrickt, überreichte und ihn dabei mit

"Lieber Herr Geheimer Kanzleisekretär" anredete, entzündete sich sein Inneres ganz und gar in Liebe zu der Holden. Er erklärte sofort insgeheim dem Kommissionsrat, daß er Albertinen zu heiraten gesonnen, und da dieser ihn als seinen Schwiegersohn umarmte, sah er sich als Albertinens Bräutigam an, wiewohl der kleine Umstand vielleicht noch zu berücksichtigen gewesen wäre, daß Albertine von dem ganzen Handel zur Zeit auch nicht ein Sterbenswörtchen wußte, ja wohl nicht gut eine Ahnung davon haben konnte.

Am frühsten Morgen, als in der Nacht vorher sich das seltsame Abenteuer am Rathausturme und in der Weinstube auf dem Alexanderplatz begeben, stürzte der Geheime Kanzleisekretär bleich und entstellt in des Kommissionsrats Zimmer. Der Kommissionsrat erschrak nicht wenig, da Tusmann noch niemals ihn um diese Zeit besucht hatte und sein ganzes Wesen irgendein unglückliches Ereignis zu verkünden schien.

"Geheimer!" (so pflegte der Kommissionsrat den Geheimen Kanzleisekretär abgekürzt zu benennen), "Geheimer! wo kommst du her? wie siehst du aus? was ist geschehen?"

So rief der Kommissionsrat. aber Tusmann warf sich erschöpft in den Lehnsessel, und erst nachdem er ein paar Minuten Atem geschöpft, begann er mit fein wimmernder Stimme: "Kommissionsrat, wie du mich hier siehst in diesen Kleidern, mit der ,Politischen Klugheit' in der Tasche, komme ich her aus der Spandauer Straße, wo ich die ganze Nacht auf und ab gerannt seit gestern Punkt zwölf Uhr! — Nicht mit einem Schritt bin ich in mein Haus gekommen, kein Bette habe ich gesehen, kein Auge zugetan!"

Und nun erzählte Tusmann dem Kommissionsrat genau, wie sich in der abgewichenen Nacht alles begeben von dem ersten Zusammentreffen mit dem fabelhaften Goldschmied an bis zu dem Augenblick, als er, entsetzt über das tolle Treiben der unheimlichen Schwarzkünstler, aus dem Weinhause herausstürzte.

"Geheimer", rief der Kommissionsrat, "du hast deiner Gewohnheit zuwider starkes Getränk zu dir genommen am späten Abend und verfielst nachher in wunderliche Träume."

"Was sprichst du", erwiderte der Geheime Kanzleisekretär, "was sprichst du, Kommissionsrat? — Geschlafen, geträumt sollt ich haben? Meinst du, daß ich nicht wohl unterrichtet bin über den Schlaf und den Traum? Ich will dir's aus Nudows ,Theorie des Schlafes' beweisen, was Schlaf heißt und daß man schlafen kann, ohne zu träumen, weshalb denn auch der Prinz Hamlet sagt: ,Schlafen, vielleicht auch träumen.' Und was es mit dem Traume für eine Bewandtnis hat, würdest du ebensogut wissen als ich, wenn du das ,Somnium Scipionis' gelesen hättest und Artemidori berühmtes Werk von Träumen und das Frankfurter Traumbüchlein. Aber du liesest nichts, und daher schießest du fehl überall auf schnöde Weise."

"Nun, nun, Geheimer", nahm der Kommissionsrat das Wort, "ereifre dich nur nicht; ich will dir's schon glauben, daß du gestern dich bereden ließest, etwas über die Schnur zu hauen, und unter schadenfrohe Taschenspieler gerietest, die Unfug mit dir trieben, als der Wein dir zu sehr geschmeckt hatte. Aber sage mir, Geheimer, als du nun glücklich zur Türe heraus warest, warum in aller Welt gingst du nicht geradezu nach Hause, warum triebst du dich auf der Straße umher?"

"0 Kommissionsrat", lamentierte der Geheime Kanzleisekretär, "o teurer Kommissionsrat, getreuer Schulkamerad aus dem Grauen Kloster! — Insultiere mich nicht mit schnöden Zweifeln, sondern vernimm ruhig, daß der tolle unselige Teufelsspuk erst recht losging, da ich mich auf der Straße befand. Als ich nämlich an das Rathaus komme, bricht durch alle Fenster helles blendendes Kerzenlicht, und eine lustige Tanzmusik mit der Janitscharen- oder, richtiger gesprochen, Jenjitscherik-Trommel schallt herab. Ich weiß selbst nicht, wie es geschah, daß, ungeachtet ich mich nicht einer sonderlichen Größe erfreue, ich doch auf den Zehen mich so hoch

aufzurichten vermochte, daß ich in die Fenster hineinschauen konnte. Was sehe ich! — O du gerechter Schöpfer im Himmel! — wen erblicke ich! — niemanden anders als deine Tochter, die Demoiselle Albertine Voßwinkel, welche im saubersten Brautschmuck mit einem jungen Menschen unmäßig walzt. Ich klopfe ans Fenster, ich rufe: ,Werteste Demoiselle Albertine Voßwinkel, was tun Sie, was beginnen Sie hier in später Nacht!' —Aber da kommt eine niederträchtige Menschenseele die Königsstraße herab, reißt mir im Vorbeigehen beide Beine unterm Leibe weg und rennt damit laut lachend spornstreichs fort. Ich armer Geheimer Kanzleisekretär plumpe nieder in den schnöden Gassenkot, ich schreie: ,Nachtwächter - hochlöbliche Polizei - verehrbare Patrouille - — lauft herbei - lauft herbei - haltet den Dieb, haltet den Dieb! er hat mir meine Beine gestohlen!' Aber oben im Rathause ist alles plötzlich still und finster geworden, und meine Stimme verhallt unvernommen in den Lüften! — Schon will ich verzweifeln, als der Mensch zurückkehrt und, wie rasend vorbeilaufend, mir meine Beine ins Gesicht wirft. Nun raffe ich mich, so schnell es in der totalen Bestürzung gehen will, vom Boden auf, renne in die Spandauer Straße hinein. Aber sowie ich, den herausgezogenen Hausschlüssel in der Hand, an meine Haustür gelange, stehe ich - ja, ich selbst - schon vor derselben und schaue mich wild an mit denselben großen schwarzen Augen, wie sie in meinem Kopf befindlich. Entsetzt pralle ich zurück und auf einen Mann zu, der mich mit starken Armen umfaßt. An dem Spieß, den er in der Hand trägt, gewahre ich, daß es der Nachtwächter ist. Getröstet spreche ich: ,Teurer Nachtwächter, Herzensmann, treiben Sie mir doch gefälligst den Filou von Geheimen Kanzleisekretär Tusmann dort von der Türe weg, damit der ehrliche Kanzleisekretär Tusmann, der ich selbst bin, in seine Wohnung hinein kann.' — ,Ich glaube, Ihr seid besessen, Tusmann!' So schnarcht mich der Mann an mit hohler Stimme, und ich merke, daß es nicht der Nachtwächter, nein, daß es der furchtbare Goldschmied ist, der mich umfaßt hält. Da übernimmt mich die Angst, die kalten Schweißtropfen stehen mir auf der Stirne, ich spreche: ,Mein verehrungswürdiger Herr Professor, verübeln Sie es mir doch nur ja nicht, daß ich Sie inder Finsternis für den Nachtwächter gehalten. O Gott! nennen Sie mich, wie Sie wollen, nennen Sie mich auf die schnödeste Weise »Monsieur Tusmann« oder gar, mein Lieber, traktieren Sie mich barbarisch per »Ihr«, wie Sie es soeben zu tun belieben, alles, alles will ich mir gefallen lassen, nur befreien Sie mich von diesem entsetzlichen Spuk, welches ganz in Ihrer Macht steht.' — ,Tusmann', beginnt der schnöde Schwarzkünstler mit seiner fatalen hohlen Stimme, ,Tusmann, Ihr sollt fortan unangetastet bleiben, wenn Ihr hier auf der Stelle schwört, an die Heirat mit der Albertine Voßwinkel gar nicht mehr zu denken.' Kommissionsrat, du kannst es dir vorstellen, wie mir zumute wurde bei dieser abscheulichen Proposition. ,Allerliebster Herr Professor', bitte ich, ,Sie greifen mir ans Herz, daß es blutet. Das Walzen ist ein häßlicher, unanständiger Tanz, und eben walzte die Demoiselle Albertine Voßwinkel, und noch dazu als meine Braut, mit einem jungen Menschen auf eine Weise, daß mir Hören und Sehen verging; doch kann ich indessen von der Schönsten nicht lassen, nein, ich kann nicht von ihr lassen.' Kaum habe ich aber diese Worte ausgesprochen, als mir der verruchte Goldschmied einen Stoß gibt, daß ich mich sofort zu drehen beginne. Und wie von unwiderstehlicher Gewalt gehetzt, walze ich die Spandauer Straße auf und ab und halte in meinen Armen statt der Dame einen garstigen Besenstiel, der mir das Gesicht zerkratzt, während unsichtbare Hände mir den Rücken zerbleuen, und um mich her wimmelt es von Geheimen Kanzleisekretären Tusmanns, die mit Besenstielen walzen. Endlich sinke ich erschöpft, ohnmächtig nieder. Der Morgen dämmert mir in die Augen, ich schlage sie auf und - Kommissionsrat, entsetze dich mit mir, fall in Ohnmacht, Schulkamerad! und finde mich wieder sitzend hoch oben auf dem Pferde vor dem Großen Kurfürsten, mein Haupt an seine kalte eherne Brust gelehnt. Zum Glück schien die Schildwache eingeschlafen, so daß ich unbemerkt mit Lebensgefahr hinabklettern und mich davonmachen konnte. Ich rannte nach der Spandauer Straße, aber mich überfiel aufs neue unsinnige Angst, die mich dann endlich zu dir trieb."

"Geheimer", nahm nun der Kommissionsrat das Wort, "Geheimer, und du vermeinest, daß ich all das tolle abgeschmackte Zeug glauben soll, was du da vorbringst? — Hat man jemals von solchen Zauberpossen gehört, die sich hier in unserm guten aufgeklärten Berlin ereignet haben sollten?"

"Siehst du", erwiderte der Geheime Kanzleisekretär, "siehst du nun wohl, Kommissionsrat, in welche Irrtümer dich der Mangel aller Lektüre stürzt? Hättest du wie ich Hafftitii, des Rektors beider Schulen zu Berlin und Kölin an der Spree, ,MicrOchronicon marchicum' gelesen, so würdest du wissen, daß sich sonst noch ganz andere Dinge begeben haben. — Kommissionsrat, am Ende glaube ich schier, daß der Goldschmied der verruchte Satan selbst ist, der mich foppt und neckt."

"Ich bitte dich", sprach der Kommissionsrat, "ich bitte dich, Geheimer, bleibe mir vom Leibe mit den dummen abergläubischen Possen. Besinne dich! — nicht wahr, du hattest dich berauscht und stiegst im Übermut der Betrunkenheit zum Großen Kurfürsten hinauf?"

Dem Geheimen Kanzleisekretär traten die Tränen in die Augen über Voßwinkels Verdacht, den er sich bemühte, mit aller Kraft zu widerlegen.

Der Kommissionsrat wurde ernster und ernster. Endlich, als der Geheime Kanzleisekretär nicht aufhörte zu beteuern, daß sich wirklich alles so begeben, wie er es erzählt, begann er: "Hör einmal, Geheimer, je mehr ich darüber nachdenke, wie du mir den Goldschmied und den alten Juden, mit denen du, ganz deiner sonst sittigen und frugalen Lebensart zuwider, in später Nacht zechtest, beschrieben, desto klarer wird es mir, daß der Jude unbezweifelt mein alter Manasse ist und daß der schwarzkünstlerische Goldschmied

niemand anders sein kann als der Goldschmied Leonhard, der sich zuweilen in Berlin sehen läßt. Nun habe ich zwar nicht so viel Bücher gelesen als du, Geheimer, dessen bedarf es aber auch nicht, um zu wissen, daß beide, Manasse und Leonhard, einfache ehrliche Leute sind und nichts weniger als Schwarzkünstler. Es wundert mich ganz ungemein, daß du, Geheimer, der du doch in den Gesetzen erfahren sein solltest, nicht weißt, daß der Aberglaube auf das strengste verboten ist und ein Schwarzkünstler nimmermehr von der Regierung einen Gewerbschein erhalten würde, auf dessen Grund er seine Kunst treiben dürfte. —Höre, Geheimer, ich will nicht hoffen, daß der Verdacht gegründet ist, der in mir aufsteigt! —Ja! —ich will nicht hoffen, daß du die Lust verloren hast zur Heirat mit meiner Tochter? —daß du nun dich hinter allerlei tolles Zeug verbergen, mir seltsame Dinge vorfabeln, daß du sagen willst: ,Kommissionsrat, wir sind geschiedene Leute, denn heirate ich deine Tochter, so stiehlt mir der Teufel die Beine weg und zerbleut mir den Rücken!' Geheimer, es wäre arg, wenn du somit Lug und Trug umgehen solltest."

Der Geheime Kanzleisekretär geriet ganz außer sich über des Kommissionsrates schlimmen Verdacht. Er beteuerte ein Mal übers andere, daß er die Demoiselle Albertine ganz ungemessen liebe, daß er, ein zweiter Leander, ein zweiter Troilus, in den Tod gehen für sie und sich daher als ein unschuldiger Märtyrer vom leidigen Satan sattsam zerbleuen lassen wolle, ohne seiner Liebe zu entsagen.

Während dieser Beteurungen des Geheimen Kanzleisekretärs klopfte es stark an die Tür, und hinein trat der alte Manasse, von dem der Kommissionsrat vorher gesprochen.

Sowie Tusmann den Alten erblickte, rief er: "0 du Herr des Himmels, das ist ja der alte Jude, der gestern aus dem Rettich Goldstücke prägte und dem Goldschmied ins Gesicht warf! — Nun wird auch wohl gleich der alte verruchte Schwarzkünstler hereintreten!"

Er wollte schnell zur Türe hinaus, der Kommissionsrat hielt ihn aber fest, indem er sprach: "Nun werden wir ja gleich hören."

Dann wandte der Kommissionsrat sich zu dem alten Manasse und erzählte, was Tusmann von ihm behauptet und was sich zur Nachtzeit in der Weinstube auf dem Alexanderplatz zugetragen haben sollte.

Manasse lächelte den Geheimen Kanzleisekretär von der Seite hämisch an und sprach: "Ich weiß nicht, was der Herr will, der Herr kam gestern ins Weinhaus mit dem Goldschmied Leonhard, eben als ich mich erquickte mit einem Glase Wein nach mühseligem Geschäft, das bis beinahe Mitternacht gedauert. Der Herr trank über den Durst, konnte nicht auf den Füßen stehn und taumelte hinaus auf die Straße."

"Siehst du wohl", rief der Kommissionsrat, "siehst du wohl, Geheimer, ich hab es gleich gedacht. Das kommt von dem abscheulichen Saufen, das du lassen mußt ganz und gar, wenn du meine Tochter heiratest."

Der Geheime Kanzleisekretär, ganz vernichtet von dem unverdienten Vorwurf, sank atemlos in den Lehnsessel, schloß die Augen und quäkte auf unverständliche Weise.

"Da haben wir's", sprach der Kommissionsrat, "erst die Nacht durchschwärmt und dann matt und elend."

Aller Protestationen ungeachtet, mußte Tusmann es leiden, daß der Kommissionsrat ein weißes Tuch um sein Haupt band und ihn in eine herbeigerufene Droschke packte, in der er fortrollte nach der Spandauer Straße.

"Was bringen Sie Neues, Manasse?"fragte der Kommissionsrat nun den Alten.

Manasse schmunzelte freundlich und meinte, daß der Kommissionsrat wohl nicht ahnen werde, welches Glück er ihm zu verkünden gekommen.

Als der Kommissionsrat eifrig weiterforschte, eröffnete ihm Manasse, daß sein Neffe Benjamin Dümmer!, der schöne junge Mann, der Besitzer von beinahe einer Million, den

man seiner unglaublichen Verdienste halber in Wien baronisiert, der nicht längst aus Italien zurückgekehrt - ja! daß dieser Neffe sich plötzlich in die Demoiselle Albertine sterblich verliebt habe und sie zur Frau begehre.

Den jungen Baron Dümmer! sieht man häufig im Theater, wo er sich in einer Loge des ersten Rangs brüstet, noch häufiger in allen nur möglichen Konzerten; jeder weiß daher, daß er lang und mager ist wie eine Bohnenstange, daß er im schwarzgelben Gesicht von pechschwarzen krausen Haaren und Backenbart beschattet, im ganzen Wesen den ausgesprochensten Charakter des Volks aus dem Orient trägt, daß er nach der letzten bizarrsten Mode der englischen Stutzer gekleidet geht, verschiedene Sprachen in gleichem Dialekt unserer Leute spricht, die Violine kratzt, auch wohl das Piano hämmert, miserable Verse zusammenstoppelt, ohne Kenntnis und Geschmack den ästhetischen Kunstrichter spielt und den literarischen Mäzen gern spielen möchte, ohne Geist witzig und ohne Witz geistreich sein will, dummdreist, vorlaut, zudringlich, kurz, nach dem derben Ausdruck derjenigen verständigen Leute, denen er gar zu gern sich annähern möchte - ein unausstehlicher Bengel ist. Kommt nun noch hinzu, daß trotz seines vielen Geldes aus allem, was er beginnt, Geldsucht und eine schmutzige Kleinlichkeit hervorblickt, so kann es nicht anders geschehen, als daß selbst niedere Seelen, die sonst vor dem Mammon sich beugen, ihn bald einsam stehenlassen.

Dem Kommissionsrat fuhr nun freilich in dem Augenblick, wo Manasse ihm die Absicht seines liebenswürdigen Neffen kundtat, sehr lebhaft der Gedanke an die halbe Million, die Benschchen wirklich besaß, durch den Kopf, aber auch zugleich kam ihm das Hindernis ein, welches seiner Meinung nach die Sache ganz unmöglich machen müßte.

"Lieber Manasse", begann er, "Sie bedenken nicht, daß Ihr werter Herr Neveu von altem Glauben ist und -" — "Ei", unterbrach ihn Manasse, "ei, Herr Kommissionsrat, was tut das? — Mein Neffe ist nun einmal verliebt in Ihre

Demoiselle Tochter und will sie glücklich machen, auf ein paar Tropfen Wasser wird es ihm daher wohl nicht ankommen, er bleibt ja doch derselbe. Überlegen Sie sich die Sache, Herr Kommissionsrat, in ein paar Tagen komm ich wieder mit meinem kleinen Baron und hole mir Bescheid." Damit ging Manasse von dannen. Der Kommissionsrat fing sofort an zu überlegen. Trotz seiner grenzenlosen Habsucht, seiner Charakter- und Gewissenlosigkeit empörte sich doch sein Inneres, wenn er sich lebhaft Albertinens Verbindung mit dem widerwärtigen Bensch vorstellte. In einem Anfall von Rechtlichkeit beschloß er, dem alten Schulkameraden Wort zu halten.

Viertes Kapitel



Handelt von Porträts, grünen Gesichtern, springenden Mäusen und jüdischen Flüchen

Bald nachdem sie bei dem "Hofjäger" mit Edmund Lehsen bekannt geworden, fand Albertine, daß des Vaters großes, in Öl gemaltes Bildnis, welches in ihrem Zimmer hing, durchaus unähnlich und auf unausstehliche Weise gekleckst sei. Sie bewies dem Kommissionsrat, daß, ungeachtet mehrere Jahre darüber vergangen, als er gemalt worden, er doch noch in diesem Augenblicke viel jünger und hübscher aussehe, als ihn der Maler damals aufgefaßt, und tadelte vorzüglich den finstern, mürrischen Blick des Bildes sowie die altfränkische Tracht und das unnatürliche Rosenbouquet, welches der Kommissionsrat auf dem Bilde sehr zierlich zwischen zwei Fingern hielt, an denen stattliche Brillantringe prangten.

Albertine sprach so viel und so lange über das Bild, daß der Kommissionsrat zuletzt selbst fand, das Gemälde sei abscheulich, und nicht begreifen konnte, wie der ungeschickte Maler seine liebenswürdige Person in solch ein häßliches Zerrbild habe umwandeln können. Und je länger er das Porträt anblickte, desto mehr ereiferte er sich über

die fatale Sudelei; er beschloß, das Bild herunterzunehmen und in die Polterkammer zu werfen.

Da meinte nun Albertine, das schlechte Bild verdiene dies wohl, indessen habe sie sich so daran gewöhnt, Väterchens Bildnis in ihrem Zimmer zu haben, daß die leere Wand sie gänzlich stören würde in all ihrem Tun. Kein anderer Rat sei vorhanden, Väterchen müsse sich noch einmal malen lassen von einem geschickten, im genauen Treffen glücklichen Künstler, und dieser dürfe kein anderer sein als der junge Edmund Lehsen, der schon die schönsten, wohlgetroffensten Bildnisse gemalt.

"Tochter", fuhr der Kommissionsrat auf, "Tochter, was verlangst du! Die jungen Künstler kennen sich nicht vor Stolz und Übermut, wissen gar nicht, was sie für ihre geringen Arbeiten an Geld fordern sollen, sprechen von nichts anderm als blanken Friedrichsdoren, sind mit dem schönsten Kurant, sollten es sogar neue Talerstücke sein, nicht zufrieden!"

Albertine versicherte dagegen, daß Lehsen, da er die Malerei mehr aus Neigung als aus Bedürfnis treibe, gewiß sich sehr billig finden lassen würde, und mahnte den Kommissionsrat so lange, bis er sich entschloß, zu Lehsen hinzugehen und mit ihm über das Gemälde zu sprechen.

Man kann denken, mit welcher Freude Edmund sich bereit erklärte, den Kommissionsrat zu malen, und zum hohen Entzücken stieg diese Freude, alter vernahm, daß Albertine den Kommissionsrat auf den Gedanken gebracht, sich von ihm malen zu lassen. Er ahnte richtig, daß Albertine auf diese Weise ihm die Annäherung an sie verstatten wollen. Ganz natürlich war es auch, daß Edmund, als der Kommissionsrat etwas ängstlich von dem zu bezahlenden Preise des Gemäldes sprach, versicherte, daß er durchaus gar kein Honorar nehmen werde, sondern sich glücklich schätze, durch seine Kunst Eingang zu finden in das Haus eines so vortrefflichen Mannes, als der Kommissionsrat sei.

"Gott!" begann der Kommissionsrat im tiefsten Erstaunen,

"was höre ich? — bester Herr Lehsen - gar kein Geld, gar keine Friedrichsdore für Ihr Bemühen? — nicht einmal eine Entschädigung für verbrauchte Leinwand und Farben in gutem Kurant?"

Edmund meinte lächelnd, diese Auslage sei zu unbedeutend, als daß davon nur im mindesten die Rede sein könne.

"Aber", fiel der Kommissionsrat kleinlaut ein, "aber Sie wissen vielleicht nicht, daß hier von einem Kniestück in Lebensgröße -" — Das sei alles gleich, erwiderte Lehsen.

Da drückte ihn der Kommissionsrat stürmisch an die Brust und rief, indem ihm die Tränen vor inniger Rührung in die Augen traten: "0 Gott im Himmel! — gibt es denn auf dieser im Argen liegenden Welt noch solche erhabene uneigennützige Menschenseelen! — Erst die Zigarren, dann das Gemälde! — Sie sind ein vortrefflicher Mann oder Jüngling, vielmehr, bester Herr Lehsen, in Ihnen wohnt deutsche Tugend und Biederkeit, von der, wie sie zu unserer Zeit aufgeblüht sein soll, in mehreren Schriften viel Angenehmes zu lesen. Doch glauben Sie mir, ungeachtet ich Kommissionsrat bin und mich durchaus französisch kleide, dennoch hege ich gleichen Sinn, weiß Ihren Edelmut zu schätzen und bin uneigennützig und gastfrei wie einer."

Die schlaue Albertine hatte die Art, wie sich Edmund bei des Kommissionsrates Antrag nehmen würde, vorausgesehen. Ihre Absicht war erreicht. Der Kommissionsrat strömte über vom Lobe des vortrefflichen Jünglings, der entfernt sei von jeder gehässigen Habsucht, und schloß damit, daß, da junge Leute, vorzüglich Maler, immer etwas Phantastisches, Romanhaftes in sich trügen, viel auf verwelkte Blumen, Bänder, die an ein hübsches Mädchen geheftet gewesen, hielten, über irgendein von schönen Händen verfertigtes Fabrikat aber ganz außer sich geraten könnten, Albertine dem Edmund ja ein Geldbeutelchen häkeln möchte und, sei es ihr nicht unangenehm, sogar eine Locke von ihrem schönen kastanienbraunen Haar hineintun, so aber jede etwanige Verpflichtung gegen Lehsen quittmachen könne. Er erlaube

das ausdrücklich und wolle es schon bei dem Geheimen Kanzleisekretär Tusmann verantworten.

Albertine, noch immer nicht von des Kommissionsrats Absichten und Plänen unterrichtet, verstand nicht, was er mit dem Tusmann wollte, und fragte auch weiter nicht darnach.

Noch denselben Abend ließ Edmund seine Malergerätschaften ins Haus des Kommissionsrates tragen, und am andern Morgen fand er sich ein zur ersten Sitzung.

Er bat den Kommissionsrat, sich im Geist in den heitersten, frohsten Moment seines Lebens zu versetzen, etwa wie ihm seine verstorbene Gattin zum erstenmal ihre Liebe versichert oder wie ihm Albertine geboren oder wie er vielleicht einen verlorengeglaubten Freund unvermutet wiedergesehen.

"Halt", rief der Kommissionsrat, "halt, Herr Lehsen, vor ungefähr drei Monaten erhielt ich den Aviso aus Hamburg, daß ich Inder dortigen Lotterie einen bedeutenden Gewinst gemacht. — Mit dem offnen Briefe in der Hand lief ich zu meiner Tochter! — Einen froheren Augenblick habe ich in meinem Leben nicht gehabt; wählen wir also denselben, und damit mir und Ihnen alles besser vor Augen komme, will ich den Brief holen und ihn wie damals offen in der Hand halten."

Edmund mußte den Kommissionsrat wirklich in dieser Stellung malen, auf den offnen Brief aber ganz deutlich und leserlich dessen Inhalt hinschreiben:

"Ew. Wohlgeb. habe ich die Ehre zu avertieren" und so weiter.

Auf einem kleinen Tich daneben mußte (so wollt es der Kommissionsrat) das geöffnete Kuvert liegen, so daß man die Aufschrift:

"Des Herrn Kommissionsrats, Stadtverordneten und Feuerherrn Melchior Voßwinkel, Wohlgeboren

zu Berlin"

deutlich lesen konnte, und auch das Postzeichen "Hamburg" durfte Edmund nicht vergessen nach dem Leben zu kopieren. Edmund malte übrigens einen sehr hübschen, freundlichen, stattlich gekleideten Mann, der in der Tat einige entfernte Züge von dem Kommissionsrat im Gesichte trug, so daß jeder, der jenes Briefkuvert las, unmöglich in der Person irren konnte, welche das Bild vorstellen sollte.

Der Kommissionsrat war ganz entzückt über das Bild. Da sehe man, sprach er, wie ein geschickter Maler die anmutigen Züge eines hübschen Mannes, sei er auch schon etwas in die Jahre gekommen, aufzufassen wisse, und nun erst merke er, was der Professor gemeint, den er einmal in der Humanitäts Gesellschaft behaupten gehört, daß ein gutes Porträt zugleich ein tüchtiges historisches Bild sein müsse. Blicke er nämlich sein Bildnis an, so falle ihm jedesmal die angenehme Historie von dem gewonnenen Lotterielos ein, und er verstehe das liebenswürdige Lächeln seines Ichs, das sich auf seinem eigenen Gesicht dann abspiegle.

Noch ehe Albertine ausführen konnte, was weiter in ihrem Plane lag, kam der Kommissionsrat ihren Wünschen zuvor, indem er Edmund bat, nun auch seine Tochter zu malen.

Edmund begann sogleich das Werk. Indessen schien es mit Albertinens Bildnis gar nicht so leicht, so glücklich vonstatten gehen zu wollen, als es bei des Kommissionsrats Porträt der Fall gewesen.

Er zeichnete, löschte aus, zeichnete wieder, fing an zu malen, verwarf das Ganze, begann von neuem, veränderte die Stellung, bald war es ihm zu hell im Zimmer, bald zu dunkel etc., bis der Kommissionsrat, der so lange den Sitzungen beigewohnt, die Geduld verlor und davonblieb.

Edmund kam nun vormittags und nachmittags, und rückte auch das Bild auf der Staffelei nicht sonderlich vor, so geschah dies doch mit dem innigen Liebesverständnis, das sich zwischen Edmund und Albertinen immer fester und fester knüpfte.

Du wirst es, vielgeneigter Leser! ganz gewiß selbst erfahrenhaben,

daß, ist man verliebt, es oftmals durchaus nötig wird, um allen Beteurungen, allen süßen, schmachtenden Worten und Redensarten, allen sehnsüchtigen Wünschen die gehörige Kraft zu geben, so daß sie eindringen mit unwiderstehlicher Gewalt ins tiefste Herz, die Hand der Geliebten zu fassen, zu drücken, zu küssen, und daß dann im Liebkosen, wie vermöge eines elektrischen Prinzips, unvermutet Lipp an Lippe schlägt und dies Prinzip sich entladet im glühenden Feuerstrom des süßesten Kusses. Nicht allein, daß Edmund deshalb oft das Malen ganz lassen mußte, er wurde auch oft sogar gezwungen, von der Staffelei aufzustehen.

So kam es denn, daß er an einem Vormittage mit Albertinen an dem mit weißen Gardinen verzogenen Fenster stand und, um, wie gesagt, seinen Beteurungen mehr Kraft zu geben, Albertinen umfaßt hielt und ihre Hand unaufhörlich an den Mund drückte.

Zu selbiger Stunde und zu selbigem Augenblick ging der Geheime Kanzleisekretär Tusmann, mit der "Politischen Klugheit" und andern pergamentnen Büchern, worin das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden, in der Tasche, vor dem Hause des Kommissionsrates vorüber. Ungeachtet er scharf zusprang, da gerade die Uhr auf dem Punkt stand, die Stunde zu schlagen, mit der er in das Bureau einzutreten gewohnt war, hielt er doch einen Augenblick an und warf den schmunzelnden Blick hinauf nach dem Fenster seiner vermeintlichen Braut.

Da gewahrte er wie im Nebel Albertinen mit Edmund, und ungeachtet er durchaus nichts deutlich zu erkennen vermochte, schlug ihm doch das Herz, er wußte selbst nicht warum. Eine seltsame Angst trieb ihn an, das Unerhörte zu beginnen, nämlich zu ganz ungewöhnlicher Stunde hinauf und geradezu nach Albertinens Zimmer zu steigen.

Als er hineintrat, sprach Albertine soeben sehr vernehmlich: "Ja, Edmund! ewig, ewig werd ich dich lieben!" Und damit drückte sie Edmund an seine Brust, und ein ganzes

Feuerwerk von elektrischen Schlägen, wie sie oben beschrieben, begann zu rauschen und zu knistern.

Der Geheime Kanzleisekretär schritt unwillkürlich vor und blieb dann starr, sprachlos, wie von der Katalepsie befallen, in der Mitte des Zimmers stehen.

Im Taumel des höchsten Entzückens hatten die Liebenden den eisenschweren Tritt der Stiefelschuhe des Geheimen Kanzleisekretärs nicht vernommen, nicht gehört, wie er die Tür öffnete, wie er ins Zimmer trat, bis in dessen Mitte vorschritt.

Nun quäkte er plötzlich im höchsten Falsett: "Aber Demoiselle Albertine Voßwinkel!"

Erschrocken fuhren die Liebenden auseinander, Edmund an die Staffelei, Albertine auf den Stuhl, wo sie behufs des Malens sitzen sollte.

"Aber", begann der Geheime Kanzleisekretär nach einer kleinen Pause, in der er Atem geschöpft, "aber Demoiselle Albertine Voßwinkel, was tun Sie, was beginnen Sie? Erst walzen Sie mit dem jungen Herrn da, den ich zu kennen nicht die Ehre habe, auf dem Rathause in tiefer Mitternacht, daß mir armen Geheimen Kanzleisekretär und geschlagenen Bräutigam Hören und Sehen vergebt, und nun am hellen lichten Tage hier am Fenster hinter den Gardinen - o Gerechter! —Istdes ein ziemliches, sittiges Betragen für eine Demoiselle Braut?" —"Wer ist Braut", fuhr Albertine auf, "wer ist Braut? — von wem sprechen Sie, Herr Geheimer Kanzleisekretär, reden Sie!"

"0 du mein Schöpfer im Himmelsthrone", lamentierte der Geheime Kanzleisekretär, "Sie fragen noch, werteste Demoiselle, wer Braut ist, von wem ich spreche? —Von wem anders kann ich denn hier jetzt reden als von Ihnen. Sind Sie denn nicht meine verehrte, im stillen angebetete Braut? Hat nicht Ihr wertester Herr Papa mir ihre liebe, weiße, küssenswürdige Hand zugesagt schon seit langer Zeit?"

"Herr Geheimer Kanzleisekretär", rief Albertine ganz außer sich, "Herr Geheimer Kanzleisekretär, entweder sind

Sie schon am Vormittage in die Weinstube geraten, die Sie, wie mein Vater sagt, jetzt zu häufig besuchen sollen, oder von einem seltsamen Wahnsinn heimgesucht. Mein Vater hat, kann nicht daran gedacht haben, Ihnen meine Hand zuzusagen."

"Allerliebste Demoiselle Voßwinkel", fiel der Geheime Kanzleisekretär ein, "bedenken Sie doch nur! — Sie kennen mich ja schon seit so vielen Jahren, bin ich denn nicht jederzeit ein mäßiger, besonnener Mann gewesen und soll jetzt auf einmal mich dem schnöden Weintrinken und ungeziemlicher Verrücktheit hingeben? Beste Demoiselle, ein Auge will ich zudrücken, schweigen soll mein Mund darüber, was hier soeben geschehen! — Alles vergeben und vergessen! — Aber besinnen Sie sich doch, angebetete Braut, daß Sie mirja schon ihr Jawort gaben aus dem Fenster des Rathausturms zur mitternächtlichen Stunde. und wenn Sie daher auch im Brautschmuck mit diesem jungen Herrn da stark walzten, so -"

"Sehn Sie wohl", unterbrach Albertine den Geheimen Kanzleisekretär, "sehn Sie wohl, merken Sie wohl, daß Sie unsinniges Zeug durcheinanderschwatzen, wie ein der Charite Entsprungener? — Gehen Sie - es wird mir bange in Ihrer Gegenwart -gehen Sie, sag ich, verlassen Sie mich!"

Die Tränen stürzten dem armen Tusmann aus den Augen. "0 Gerechter", schluchzte er, "solche schnöde Behandlung von der verehrtesten Demoiselle Braut! — Nein, ich gehe nicht, ich bleibe so lange, bis Sie, werteste Demoiselle Voßwinkel, was meine geringe Person betrifft, zu besserer Überzeugung gekommen sind."

"Gehen Sie!"sprach Albertine mit halb erstickter Stimme, indem sie, das Schnupftuch vor die Augen gedrückt, in eine Ecke des Zimmers flüchtete.

"Nein", erwiderte der Geheime Kanzleisekretär, "nein, werteste Demoiselle Braut, nach Thomasii politisch klugem Rat muß ich bleiben, ich gehe nun durchaus nicht eher, bis -"Er machte Miene, Albertinen zu verfolgen.

Edmund hatte, kochend vor Wut, indessen an dem dunkelgrünen Hintergrunde des Gemäldes hin und her gestrichen. Nun konnte er sich nicht länger halten. "Verrückter, überlästiger Satan!" — So schrie er ganz außer sich, sprang los auf Tusmann, fuhr ihm mit dem dicken, in jene dunkelgrüne Farbe getunkten Pinsel drei-, viermal übers Gesicht, faßte ihn, gab ihm, nachdem er die Tür geöffnet, solch einen derben Stoß, daß er hinausflog wie ein abgeschossener Pfeil.

Entsetzt prallte der Kommissionsrat, der eben aus der Tür gegenüber heraustreten wollte, zurück, als der grüne Schulkamerad in seine Arme stürzte.

"Geheimer", rief er aus, "Geheimer, um des Himmels willen, wie siehst du aus?"

Der Geheime Kanzleisekretär, beinahe von Sinnen über alles, was sich eben zugetragen, erzählte in kurzen, abgebrochenen Sätzen, wie Albertine ihn behandelt, watet von Edmund erlitten.

Der Kommissionsrat, ganz Ärger und Zorn, nahm ihn bei der Hand, ging mit ihm zurück in Albertinens Zimmer, fuhr los auf das Mädchen: "Was muß ich hören, was muß ich vernehmen? Führt man sich so auf, behandelt man so den Bräutigam?"

"Bräutigam?" schrie Albertine auf im jähsten Schreck.

"Nun ja", sprach der Kommissionsrat, "Bräutigam freilich. Ich weiß gar nicht, was du dich alterierst über eine Sache, die ja längst beschlossen. Mein lieber Geheimer ist dein Bräutigam, und in wenigen Wochen feiern wir die vergnügte Hochzeit."

"Nimmermehr", rief Albertine, "nimmermehr heirate ich den Geheimen Kanzleisekretär. Wie sollt ich ihn denn lieben können, den alten Mann - nein -"

"Was lieben, was alter Mann", fiel ihr der Kommissionsrat ins Wort, "von Lieben ist gar nicht die Rede, sondern von Heiraten. Freilich ist mein lieber Geheimer kein leichtsinniger Jüngling mehr, aber so wie ich eben in den Jahren, die man mit Recht die besten nennt, und dabei ein recht-

schaff ener, gescheuter, belesener, liebenswürdiger Mann und mein Schulkamerad."

"Nein", sprach Albertine in der heftigsten Bewegung, indem ihr die Tränen aus den Augen stürzten, "nein, ich kann ihn nicht leiden, er ist mir unausstehlich, ich hasse, ich verabscheue ihn! — O mein Edmund -"

Und damit fiel das Mädchen, ganz außer sich, beinahe ohnmächtig dem Edmund in die Arme, der sie mit Heftigkeit an seine Brust drückte.

Der Kommissionsrat, ganz erstarrt, riß die Augen weit auf, als säh er Gespenster, dann brach er los: "Was ist das, was gewahre ich-"

"Ja", fiel der Geheime Kanzleisekretär mit kläglicher Stimme ein, "ja, die Demoiselle Albertine scheinen ganz und gar nichts von mir wissen zu wollen, scheinen eine ungemeine Inklination zu dem jungen Herrn Maler zu hegen, da sie ihn ohne Scheu küssen, mir Ärmsten aber kaum die liebe Hand reichen wollen, da ich doch bald den Trauring an dero angenehmen Goldfinger zustecken gedenke."

"Heda - heda, auseinander, sage ich", schrie der Kommissionsrat und riß Albertinen aus Edmunds Armen. Der rief aber, daß er Albertinen nicht lassen werde und solle es ihm das Leben kosten. —"So?"sprach der Kommissionsrat mit spottendem Ton, "seht doch, eine saubere Liebesgeschichte hinter meinem Rücken! —Schön, herrlich, mein junger Herr Lehsen, darum Ihre Uneigennützigkeit, darum die Zigarren und die Bilder. — Sich in mein Haus einzuschleichen, mit losen Künsten meine Tochter zu verführen. Feiner Gedanke, daß ich meine Tochter an den Hals hängen soll einem dürftigen, armseligen, nichtswürdigen Farbenkleckser!"

Außer sich vor Wut über des Kommissionsrats Schimpfreden, ergriff Edmund den Malerstock, hob ihn in die Höhe; da rief mit donnernder Stimme der zur Türe hereinbrechende Leonhard: "Halt, Edmund! Keine Übereilung, Voßwinkel ist ein alberner Narr und wird sich besinnen."

Der Kommissionsrat, erschrocken über Leonhards unver

mutete Erscheinung, rief aus dem Winkel, in den er zurückgeprallt: "Ich weiß gar nicht, Herr Leonhard, wie Sie sich unterfangen können -"

Aber der Geheime Kanzleisekretär war schnurstracks hinter den Sofa geflüchtet, sowie er den Goldschmied erblickt, hatte sich tief niedergeduckt und quäkte mit ängstlicher, weinerlicher Stimme: "0 du Gott im Himmel! — Kommissionsrat, sieh dich vor -schweige - halt das Maul, geliebter Schulkamerad. — O du Gott im Himmel, das sind ja der Herr Professor - der grausame Bali-Entrepreneur aus der Spandauer Straße -"

"Kommt nur hervor", sprach der Goldschmied lachend, "kommt nur hervor, Tusmann, fürchtet Euch nicht, Euch soll nichts mehr angetan werden, Ihr seid ja schon bestraft genug für Eure alberne Heiratslust, da Ihr nun Euer Lebelang ein grünes Gesicht behaltet."

"0 Gott", schrie der Geheime Kanzleisekretär ganz außer sich, "o Gott, ein grünes Gesicht immerdar! — Was werden die Leute, was wird Seine Exzellenz der Herr Minister sagen? Werden Seine Exzellenz nicht glauben, ich hätte mir aus purer, schnöder, weltlicher Eitelkeit das Gesicht grün gefärbt? — Ich bin ein geschlagener Mann, ich komme um meinen Dienst, denn nicht dulden kann der Staat Geheime Kanzleisekretärs mit grünen Gesichtern. — O ich Ärmster -"

"Nun, nun", unterbrach der Goldschmied Tusmanns Klagen, "nun, nun, Tusmann, lamentiert nur nicht so sehr, es kann doch wohl noch Rat geben für Euch, wenn Ihr gescheut seid und dem tollen Gedanken, Albertinen zu heiraten, entsagt."

"Das kann ich nicht - das soll er nicht", so riefen beide durcheinander, der Kommissionsrat und der Geheime Kanzleisekretär.

Der Goldschmied sah beide an mit funkelndem, durchbohrendem Blick; doch eben als er losbrechen wollte, öffnete sich die Tür, und hinein trat der alte Manasse mit seinem

Neffen, dem Baron Benjamin Dümmer! aus Wien. — Bensch ging gerade los auf Albertinen, die ihn zum erstenmal in ihrem Leben sah, und sprach in schnarrendem Ton, indem er ihre Hand faßte: "Ha, bestes Mädchen, da bin ich nun selbst, um mich Ihnen zu Füßen zu werfen. — Verstehen Sie! das ist nur solch eine Redensart, der Baron Dümmer! wirft sich niemanden zu Füßen, auch nicht Seiner Majestät dem Kaiser. Ich meine, Sie sollen mir einen Kuß geben." — Damit trat er noch näher an Albertinen heran und beugte sich nieder, doch in demselben Moment geschah etwas, worüber sich alle, den Goldschmied ausgenommen, tief entsetzten.

Benschs ansehnliche Nase schoß plötzlich zu einer solchen Länge hervor, daß sie, dicht bei Albertinens Gesicht vorbeifahrend, mit einem lauten Knack hart anstieß an die gegenüberstehende Wand. Bensch prallte einige Schritte zurück, sogleich zog sich die Nase wieder ein. Er näherte sich Albertinen, dasselbe Ereignis; kurz, hinaus, hinein schob sich die Nase wie eine Baßposaune.

"Verruchter Schwarzkünstler", brüllte Manasse, und indem er einen verschlungenen Strick aus der Tasche zog und ihn dem Kommissionsrat zuwarf, tiefer: "Ohne Umstände, werfen Sie dem Kerl die Schlinge über den Hals, dem Goldschmied, mein ich, dann ziehen wir ihn ohne Widerstand zur Tür hinaus, und alles ist in Ordnung." — Der Kommissionsrat ergriff den Strick, statt aber dem Goldschmied, warf er dem alten Juden den Strick über den Hals, und sogleich prallten beide auf in die Höhe bis an die Stubendecke und wieder herab, und so immerfort herauf und herab, während Bensch sein Nasenkonzert fortsetzte und Tusmann wie wahnsinnig lachte und plapperte, bis der Kommissionsrat ohnmächtig, ganz erschöpft in den Lehnsessel niedersank.

"Nun ist's Zeit, nun ist's Zeit", schrie Manasse, schlug an die Tasche, und mit einem Satze sprang eine übergroße abscheuliche Maus hervor und gerade los auf den Goldschmied. Aber noch im Sprunge durchstach sie der Gold-

schmied mit einer spitzen, goldnen Nadel, worauf sie mit einem gehenden Schrei verschwand, man wußte nicht wohin.

Da ballte Manasse die Fäuste gegen den ohnmächtigen Kommissionsrat und rief, indem Zorn und Wut aus seinen feuerroten Augen sprühten: "Ha, Melchior Voßwinkel, du hast dich gegen mich verschworen, du bist im Bunde mit dem verruchten Schwarzkünstler, den du in dein Haus gelockt; aber verflucht, verflucht sollst du sein, du und dein ganzes Geschlecht hinweggenommen wie die hülflose Brut eines Vogels. Gras soll vor deiner Tür wachsen, und alles, was du unternimmst, soll gleichen dem Tun des Hungernden, der sich im Traum ersättigen will an erdichteten Speisen, und der Dales soll sich einlagern in dein Haus und wegzehren deine Habe, und du sollst betteln in zerrissenen Kleidern vor den Türen des verachteten Volks Gottes, das dich verstößt wie einen räudigen Hund. Und du sollst sein wie ein verachteter Zweig zur Erde geworfen und, statt des Klanges der Harfen, Motten deine Gesellschaft! — Verflucht, verflucht, verflucht, du Kommissionsrat Melchior Voßwinkel!" — Damit faßte der wütende Manasse den Neffen und stürmte mit ihm zur Türe hinaus.

Albertine hatte im Grausen und Entsetzen ihr Gesicht verborgen an Edmunds Brust, der sie umschlungen hielt, mit Mühe Fassung erringend.

Der Goldschmied trat nun hin zu dem Paar und sprach lächelnd mit sanfter Stimme: "Laßt euch nur durch alle diese Narrenstreiche nicht irren. Es wird alles gut werden, ich stehe euch dafür. Aber nun ist es nötig, daß ihr euch trennt, ehe Voßwinkel und Tusmann aus ihrer Schreckenserstarrung erwachen."

Darauf verließ er mit Edmund Voßwinkels Haus.


Fünftes Kapitel



worin der geneigte Leser erfährt, wer der Dales ist, auf welche Weise aber der Goldschmied den Geheimen Kanzleisekretär Tusmann rettet vom schmachvollen Tode und den verzweifelnden Kommissionsrat tröstet

Der Kommissionsrat war durch und durch erschüttert, von Manasses Fluch mehr als von dem tollen Spuk, den, wie er wohl einsah, der Goldschmied getrieben. Jener Fluch war auch in der Tat gräßlich genug, da er dem Kommissionsrat den Dales über den Hals geschickt.

Ich weiß nicht, ob du, sehr geneigter Leser, die Bewandtnis kennst, die es mit diesem Dales der Juden hat?

Das Weib eines armen Juden (so erzählt ein Talmudist) fand, als sie eines Tages auf den Boden ihres kleinen Hauses stieg, daselbst einen dürren, ganz ausgemergelten, nackten Menschen, der sie bat, ihm Obdach zu gönnen, ihn zu nähren mit Speis und Trank. Erschrocken lief das Weib herab und sprach wehklagend zu ihrem Mann: "Ein nackter, ausgehungerter Mensch ist in unser Haus gekommen und verlangt von uns Obdach und Nahrung. Wie sollen wir aber den Fremden nähren, da wir selbst kaum unser mühseliges Leben von Tag zu Tag durchfristen." —"Ich will", erwiderte der Mann, "hinaufsteigen zu dem fremden Menschen und sehen, wie ich ihn hinausschaffe aus unserm Hause." —"Warum", sprach er dann zu dem fremden Menschen, "warum bist du geflüchtet in mein Haus, der ich arm bin und nicht vermag, dich zu ernähren? Hebe dich fort und gehe in das Haus des Reichtums, wo die Schlachttiere längst gemästet und die Gäste geladen sind zum Gastmahl." — "Wie kannst du", erwiderte der Mensch, "mich forttreiben wollen aus dem Obdach, das ich gefunden? Du siehst, daß ich nackt bin und bloß, wie kann ich fortziehen in das Haus des Reichtums? Doch laß mir ein Kleid machen, das mir paßt, und ich will dich verlassen." — Besser ist es, dachte der Jude, daß ich mein Letztes daran wende, den Menschen bald fortzuschaffen,

als daß er bliebe und verzehre, was ich mit Not zu erwerben vermag. Er schlachtete sein letztes Kalb, wovon er mit seinem Weibe viele Tage hindurch sich zu nähren gedachte, verkaufte das Fleisch und schaffte von dem gelösten Gelde ein gutes Kleid an für den fremden Menschen. Als er aber hinaufging mit dem Kleide, war der Mensch, der erst klein und dürr gewesen, groß geworden und stark, so daß das Kleid ihm überall zu kurz war und zu enge. Darüber entsetzte sich der arme Jude gar sehr, aber der fremde Mensch sprach: "Laß ab von der Torheit, mich fortschaffen zu wollen aus deinem Hause, denn wisse, ich binder Dales." Da rang der arme Jude die Hände und jammerte und schrie: "Gott meiner Väter, so bin ich gezüchtigt mit der Rute des Zorns und elend immerdar, denn bist du der Dales, so wirst du nicht weichen, sondern, all unser Hab und Gut wegzehrend, immer größer und stärker werden." Der Dales ist aber die Armut, die, wo sie sich einmal eingenistet, niemals wieder weicht und immer mehr zunimmt.

Entsetzte sich nun der Kommissionsrat darüber, daß ihm Manasse Inder Wut die Armut auf den Hals geflucht, so fürchtete er dagegen auch den alten Leonhard, der, die seltsamen Zauberkünste abgerechnet, die ihm zu Gebote standen, auch außerdem in seinem ganzen Wesen etwas hatte, was wohl eine scheue Ehrfurcht erwecken mußte. Gegen beide, das fühlte er, konnte er nichts Sonderliches ausrichten; sein ganzer Zorn fiel daher auf Edmund Lehsen, dem er alles Unheil, was ihm widerfahren, in die Schuhe schob. Kam noch hinzu, daß Albertine ganz unverhohlen und mit entschiedener Festigkeit erklärte, wie sie Edmund über die Maßen liebe und niemals weder den alten, pedantischen Geheimen Kanzleisekretär noch den unausstehlichen Baron Bensch heiraten werde, so konnt es gar nicht fehlen, daß der Kommissionsrat sich über die Gebühr erboste und den Edmund fort wünschte, dahin, wo der Pfeffer wächst. Da er aber diesen Wunsch nicht so verwirklichen konnte, wie

es unter der vorigen französischen Regierung geschah, welche Leute, die sie los sein wollte, in der Tat fortschickte nach dem Ort, wo der Pfeffer wächst, so begnügte er sich damit, dem Edmund ein angenehmes Billett zu schreiben, worin er all sein Gift, all seine Galle ergoß und damit endete, daß er sich nicht unterfangen solle, jemals die Schwelle seines Hauses zu betreten.

Man kann denken, daß Edmund über diese grausame Trennung von Albertinen sofort in die gehörige Verzweiflung geriet, in welcher ihn denn Leonhard fand, als er ihn seiner Gewohnheit gemäß in der Abenddämmerung besuchte.

"Was habe ich", rief Edmund dem Goldschmied entgegen, "was habe ich nun von Euerm Schutz, von Euerm Mühen, mir die gehässigen Nebenbuhler vom Leibe zu schaffen? Durch Eure unheimlichen Taschenspielerkünste verwirrt und entsetzt Ihr alle, selbst mein holdes Mädchen, und Euer Treiben ist es allein, das mir als ein unübersteigliches Hindernis in den Weg tritt. Ich fliehe, ich fliehe, den Dolch im Herzen, fort nach Rom!"

"Nun", sprach der Goldschmied, "nun, dann tätest du ja wirklich das, was ich recht von Herzen wünsche. Erinnere dich, daß ich schon damals, als du zum ersten Male von deiner Liebe zu Albertinen sprachst, dir versicherte, daß meiner Meinung nach ein junger Künstler sich wohl verlieben könne, aber nicht gleich ans Heiraten denken müsse, da dies ganz unersprießlich sei. Ich rückte dir damals halb im Scherz das Beispiel des jungen Sternbald vor Augen, aber ganz ernsthaft sage ich dir jetzt, daß, gedenkst du ein tüchtiger Künstler zu werden, du durchaus alle Heiratsgedanken dir aus dem Kopf schlagen mußt. Frei und froh ziehe in das Vaterland der Kunst, studiere in voller Begeisterung ihr innerstes Wesen, und dann erst wird dir die technische Fertigkeit, die du vielleicht auch hier erlangen kannst, etwas nützen."

"Ha", rief Edmund, "was für ein Tor war ich, Euch meine

Liebe anzuvertrauen! Nun sehe ich es wohl ein, daß gerade Ihr, von dem ich Beistand erwarten durfte mit Rat und Tat, daß gerade Ihr, sage ich, absichtlich mir entgegenhandelt und meine schönsten Hoffnungen mit hämischer Schadenfreude zerstört." "Hoho", erwiderte der Goldschmied, "hoho, junger Herr! mäßigt Euch in Euren Ausdrücken, seid weniger heftig und bedenkt, daß Ihr viel zu unerfahren seid, um mich zu durchschauen. Aber ich will Euern irren Zorn Eurer wahnsinnigen Verliebtheit zugute halten -"

"Und", fuhr Edmund fort, "und was die Kunst betrifft, so sehe ich gar nicht ein, warum ich, da es mir dazu, wie Ihr wißt, gar nicht an Mitteln fehlt, der innigen Verbindung mit Albertinen unbeschadet, nicht nach Rom gehen und dort die Kunst studieren sollte. Ja, ich gedachte gerade dann, wenn ich Albertinens Besitz gewiß sein konnte, nach Italien zu wandern und dort ein ganzes Jahr hindurch zu verweilen, dann aber, bereichert mit wahrer Kunstkenntnis, zurückzukehren in die Arme meiner Braut."

"Wie", rief der Goldschmied, "wie, Edmund, war das in der Tat dein wirklicher, ernsthafter Vorsatz?"

"Allerdings", erwiderte der Jüngling, "sosehr mein Inneres entbrannt ist in Liebe zu der holden Albertine, so sehr erfüllt mich doch die Sehnsucht nach dem Lande, das die Heimat meiner Kunst ist."

"Könnet", fuhr der Goldschmied fort, "könnet Ihr Euer treues Wort mir darauf geben, daß, wird Albertine Euer, Ihr sogleich die Reise nach Italien antreten wollt?"

"Warum sollte ich das nicht", erwiderte der Jüngling, "da es mein fester Entschluß war und es bleiben würde, sollte das geschehen, woran ich verzweifeln muß."

"Nun", rief der Goldschmied lebhaft, "nun, Edmund, so sei guten Mutes, diese feste Gesinnung erwirbt dir die Geliebte. Ich gebe dir mein Wort, daß in wenigen Tagen Albertine deine Braut sein soll. Daß ich das zu bewirken verstehen werde, daran magst du nicht zweifeln."

Die Freude, das Entzücken strahlte aus Edmunds Augen. Der rätselhafte Goldschmied überließ, schnell davoneilend, den Jüngling all den süßen Hoffnungen und Träumen, die er in seinem Innern aufgeregt.

In einem abgelegenen Teil des Tiergartens, unter einem großen Baum, lag, um mit Celia in "Wie es euch gefällt" zu reden, wie eine abgefallene Eichel oder wie ein verwundeter Ritter der Geheime Kanzleisekretär Tusmann und klagte sein tiefes Herzeleid den treulosen Herbstwinden.

"0 Gott, gerechter!" lamentierte er, "unglücklicher, bedauernswürdiger Geheimer Kanzleisekretär, womit hast du all diese Schmach verdient, die dir über den Hals gekommen. Sagt denn nicht Thomasius, daß der Ehestand an Erlangung der Weisheit keinesweges hindern solle, und doch hast du schon jetzt, da du nur den Ehestand zu intendieren begonnen, beinahe deinen ganzen angenehmen Verstand verloren. Woher der entsetzliche Widerwille der werten Demoiselle Albertine Voßwinkel gegen deine geringe, aber mit löblichen Eigenschaften sattsam ausgestattete Person? Bist du etwa ein Politikus, der keine Frau haben, oder gar ein Rechtsgelehrter, der nach der Lehre des Cleobulus seine Frau, sobald sie unartig, was weniges prügeln soll, daß die Schönste deshalb einige Scheu tragen könnte, dich zu ehelichen? O Gerechter, welchem Jammer gehst du entgegen! — Warum mußt du, o geliebter Geheimer Kanzleisekretär, in offne Fehde geraten mit schnöden Schwarzkünstlern und malerischen Wütrichen, die dein zartes Gesicht für ein aufgespanntes Pergament halten und mit frechem Pinsel einen wilden Salvator Rosa daraufschmeißen, ohne Geschick, Haltung und Manier! Ja, das ist das ärgste! Alle meine Hoffnung hatte ich auf meinen intimen Freund gesetzt, auf den Herrn Streccius, der in der Chemie wohlerfahren ist und in jedem Malheur zu helfen weiß, aber es ist alles vergebens. Je mehr ich mich mit dem Wasser wasche, das er mir angeraten, desto grüner werde ich, wiewohl das Grün sich in den verschiedensten Nuancen und Schattierungen

ändert, so daß es bereits Frühling, Sommer und Herbst auf meinem Antlitz gewesen! — Ja, dieses Grün ist es, was mich ins Verderben stürzt, und erlange ich nicht den weißen Winter wieder, welcher die schicklichste Jahreszeit für mein Gesicht, so gerate ich in Desperation, stürze mich hier in den schnöden Froschlaich und sterbe einen grünen Tod

Tusmann hatte wohl recht, so bittre Klagen auszustoßen, denn in der Tat war es arg mit der grünen Farbe seines Antlitzes, die gar nicht gewöhnliche Ölfarbe, sondern irgendeine künstlich zusammengesetzte Tinktur zu sein schien, die, in die Haut eingedrungen, durchaus nicht verschwinden wollte. Zur Tageszeit durfte der arme Geheime Kanzleisekretär gar nicht anders ausgehen als mit tief in die Augen gedrücktem Hut und vorgehaltenem Schnupftuch, und selbst wenn die Dämmerung eingebrochen, wagte er es nur, in gestrecktem Galopp durch die entlegenen Gassen zu rennen. Teils fürchtete er den Hohn der Straßenbuben, teils mußte er sich ängstigen, irgend jemanden aus dem Bureau, in dem er arbeitete, zu begegnen, da er sich krank melden lassen.

Es geschieht wohl, daß wir das Ungemach, welches uns getroffen, stärker und tötender fühlen in der stillen, schwarzen Nacht als am geräuschvollen Tage. So kam es auch, daß, sowie immer dunkler und dunkler die Wolken heraufzogen, wie schwärzer und schwärzer die Schatten des Waldes sich ausbreiteten, wie recht schauerlich verhöhnend der rauhe Herbstwind durch Bäume und Gebüsche pfiff, Tusmann, sein ganzes Elend bedenkend, in vollkommene Trostlosigkeit geriet.

Der entsetzliche Gedanke, in den grünen Froschlaich zu springen und so ein verstörtes Leben zu enden, trat dem Geheimen Kanzleisekretär so lebendig in die Seele, daß er ihn für einen entscheidenden Wink des Schicksals hielt, dem er folgen müsse.

"Ja", rief er mit gellender Stimme, indem er hastig aufsprang vom Boden, wo er sich hingelagert, "ja, Geheimer

Kanzleisekretär, mit dir ist es aus! —Verzweifle, guter Tusmann! — Kein Thomasius kann dich retten, fort mit dir in den grünen Tod! — Leben Sie wohl, grausame Demoiselle Albertine Voßwinkel! — Sie sehen Ihren Bräutigam, den Sie verschmäht auf schnöde Weise, niemals wieder! — Er wird sogleich in den Froschlaich springen!"

Wie rasend rannte er fort nach dem nahe gelegenen Bassin, das in der tiefen Dämmerung anzusehen war wie ein breiter, schön bewachsener Weg, und blieb dicht am Rande stehen.

Der Gedanke an den nahen Tod mochte wohl seine Sinne zerrütten, denn er sang mit hoher, durchdringender Stimme das englische Volkslied, dessen Refrain lautet: "Grün sind die Wiesen, grün sind die Wiesen", warf dann die "Politische Klugheit", das "Handbuch für Hof und Staat" sowie Hufelands "Kunst, das Leben zu verlängern" in das Wasser und war eben im Begriff, mit einem tüchtigen Ansatz nachzuspringen, als er sich von hinten her mit starken Armen umfaßt fühlte.

Zugleich vernahm er die ihm wohlbekannte Stimme des schwarzkünstlerischen Goldschmieds: "Tusmann, was habt Ihr vor? Ich bitte Euch, seid doch kein Esel und macht doch nicht tolle Streiche!"

Der Geheime Kanzleisekretär bot alle Kraft auf, sich aus des Goldschmieds Armen loszuwinden, indem er, kaum der Sprache mehr mächtig, krächzte: "Herr Professor, ich bin in der Desperation, und da hören alle Rücksichten auf, Herr Professor, nehmen Sie es einem desperaten Geheimen Kanzleisekretär, der sonst wohl weiß, was Anstand und Sitte heischt, nicht übel, aber, Herr Professor - ich sag es unverhohlen, ich wünschte, daß Sie der Teufel hole samt Ihren Hexenkünsten, samt Ihrer Grobheit, samt Ihrem verdammten Ihr -Ihr -Ihr und Tusmann!"

Der Goldschmied ließ den Geheimen Kanzleisekretär los, und alsbald taumelte er erschöpft nieder in das hohe, durch und durch feuchte Gras.

Wähnend, er liege im Bassin, rief er: "0 kalter Tod, o grüne Wiese -. Adieu! — Mich ganz gehorsamst zu empfehlen, werteste Demoiselle Albertine Voßwinkel - lebe wohl, wackrer Kommissionsrat - der unglückliche Bräutigam liegt bei den Fröschen, die den Herrn loben zur Sommerszeit

"Seht Ihr wohl", sprach der Goldschmied mit starker Stimme, "seht Ihr wohl, Tusmann, daß Ihr von Sinnen seid und matt und elend dazu! — Zum Teufel wollt Ihr mich schicken; wie, wenn ich nun selbst der Teufel wäre und Euch den Hals umdrehte hier auf der Stelle, wo Ihr wähnt, im Bassin zu liegen?"

Tusmann ächzte, stöhnte, schüttelte sich wie im stärksten Fieberfrost.

"Aber", fuhr der Goldschmied fort, "aber ich mein es gut mit Euch, Tusmann, und vergebe Eurer Desperation alles, richtet Euch auf, kommt mit mir."

Der Goldschmied half dem armen Geheimen Kanzleisekretär auf die Beine. Ganz vernichtet, lispelte er: "Ich bin in Ihrer Gewalt, verehrtester Herr Professor, machen Sie mit meinem geringen sterblichen Leichnam, was Sie wollen, aber meine unsterbliche Seele bitte ich ganz gehorsamst gütigst verschonen zu wollen."

"Schwatzt nicht solch aberwitziges Zeug, sondern kommt rasch fort", rief der Goldschmied, faßte den Geheimen Kanzleisekretär unterm Arm und schritt mit ihm von dannen. Doch mitten in dem Wege, der quer durch den Tiergarten nach den Zelten führt, hielt er inne und sprach: "Halt, Tusmann! Ihr seid ganz naß und seht abscheulich aus, ich will euch wenigstens das Gesicht abtrocknen."

Damit holte der Goldschmied ein blendend weißes Tuch aus der Tasche und tat, wie er verheißen.

Als nun schon die hellen Laternen des Weberschen Zeltes durch die Gebüsche funkelten, rief Tusmann plötzlich ganz erschrocken: "Um tausend Gotteswillen, verehrtester Herr Professor, wo führen Sie mich denn hin? — Nicht nach der

Stadt? Nicht nach meiner Wohnung? — Doch nicht etwa in Gesellschaft? unter Menschen? —Gerechter! Ich kann mich ja gar nicht blicken lassen - ich errege ja Ärgernis - ein Skandalum -"

"Ich weiß nicht", erwiderte der Goldschmied, "ich weiß nicht, Tusmann, was Ihr wollt mit Euerm menschenscheuen Wesen, seid doch kein Hase! Ihr müßt durchaus etwas Starkes genießen. — Vielleicht ein Glas warmen Punsch, sonst bekommt Ihr das Fieber vor Erkältung. Kommt nur mit!"

Der Geheime Kanzleisekretär lamentierte, sprach unaufhörlich von seinem grünen Gesicht, von seinem schnöden Salvator Rosa im Antlitz, der Goldschmied achtete aber nicht im mindesten darauf, sondern zog ihn fort mit unwiderstehlicher Gewalt.

Als sie nun in den erleuchteten Saal traten, bedeckte Tusmann mit dem Schnupftuch sein ganzes Gesicht, da noch ein paar Gäste an der langen Tafel speisten.

"Was habt Ihr denn", sprach der Goldschmied dem Geheimen Sekretär ins Ohr, "was habt Ihr denn, Tusmann, daß Ihr Euer rechtschaffenes Antlitz so verhüllen wollt und verbergen?"

"Ach Gott", stöhnte der Geheime Kanzleisekretär, "ach Gott, verehrtester Herr Professor, Sie wissen es ja, mein Gesicht, das der jähzornige junge Herr Maler mit grüner Farbe überstrichen -"

"Possen", rief der Goldschmied aus, indem er den Geheimen Kanzleisekretär mit gewaltiger Faust packte und hinstellte vor den großen Spiegel am Ende des Saals und hineinleuchtete mit der Kerze, die er ergriffen.

Tusmann schaute unwillkürlich hinein und konnte sich eines lauten "Ach!"nicht erwehren.

Nicht allein, daß die häßliche grüne Farbe gänzlich verschwunden war, Tusmanns Gesicht hatte überdies noch ein lebhafteres Kolorit erhalten als jemals, so daß er in der Tat um einige Jahre jünger aussah als sonst. Im Übermaß des Entzückens sprang der Geheime Kanzleisekretär mit

beiden Füßen zugleich in die Höhe und sprach dann mit süß-weinerlicher Stimme: "0 Gerechter, was sehe, was erblicke ich! —Wertester, ungemein verehrter Herr Professor, das Glück habe ich gewiß Ihnen allein zu verdanken! — Ja! — nun wird die Demoiselle Albertine Voßwinkel, um derentwillen ich beinahe hinabgesprungen in den Abgrund zu den Fröschen, gewiß keinen Anstand nehmen, mich zu ihrem Gemahl zu erkiesen! — Ja, wertester Herr Professor, Sie haben mich geborgen aus tiefem Elend! — Ich fühlte sogleich eine gewisse Behaglichkeit, als Sie über mein geringes Antlitz mit Dero schneeweißem Schnupftuch zu fahren beliebten. — O sprechen Sie, gewiß waren Sie mein Wohltäter?"

"Nicht leugnen", erwiderte der Goldschmied, "nicht leugnen will ich, Tusmann, daß ich es war, der Euch die grüne Farbe wegwusch, und Ihr könnt daraus abnehmen, daß ich gar nicht so feindlich wider Euch gesinnt bin, als Ihr es wohl vermeinen möget. Bloß Eure alberne Faselei, daß Ihr Euch von dem Kommissionsrat überreden lasset, Ihr könntet Euch noch mit einem blutjungen, hübschen Mädchen, welche auf sprudelt vor Lebenslust, verheiraten, bloß diese Faselei, sage ich, kann ich an Euch gar nicht leiden und möchte Euch, da Ihr selbst jetzt, kaum den Schabernack los, den man Euch antat, wiederum gleich ans Heiraten denkt, den Appetit dazu auf nachdrückliche Weise vertreiben, welches ganz und gar in meiner Macht steht. Doch will ich das nicht tun, sondern Euch raten, ruhig zu sein bis zum künftigen Sonntag in der Mittagsstunde, da werdet Ihr denn das Weitere hören. Wagt Ihr es, früher Albertinen zu sehen, so laß ich Euch vor ihren Augen erst tanzen, daß Euch Sinn und Atem vergeht, verwandle Euch dann in den grünsten Frosch und schmeiße Euch hier im Tiergarten in das Bassin oder gar in die Spree, wo Ihr quaken könnet bis an Euer Lebensende! — Gehabt Euch wohl! Ich habe heute noch etwas vor, das mich nach der Stadt eilen heißt. Ihr würdet meinen Schritten nicht folgen können. Gehabt Euch wohl!"

Der Goldschmied hatte recht, daß wohl keiner so leicht ihm hätte folgen können, denn als hätte er Schlemihls berühmte Siebenmeilenstiefel an den Füßen, war er mit einem einzigen Schritt, den er zur Saaltür hinaus machte, dem bestürzten Geheimen Kanzleisekretär aus den Augen verschwunden.

So mochte es denn auch geschehen, daß er schon in der nächsten Minute wie ein Gespenst plötzlich in dem Zimmer des Kommissionsrates stand und ihm mit ziemlich rauher Stimme einen guten Abend bot.

Der Kommissionsrat erschrak heftig, faßte sich jedoch bald zusammen und fragte den Goldschmied ungestüm, was er so spät inder Nacht noch wolle, er möge sich fortscheren und ihn in Ruhe lassen mit den albernen Taschenspielerstückchen, die ihm vorzugaukeln er vielleicht im Sinne habe.

"So sind", erwiderte der Goldschmied sehr gelassen, "so sind nun die Menschen und vorzüglich die Kommissionsräte. Gerade diejenigen Personen, die sich Ihnen wohlwollend nähern, denen Sie sich zutrauensvoll in die Arme werfen sollten, gerade diese Personen stoßen Sie von sich - Sie sind, bester Kommissionsrat, ein armer, unglücklicher, bedauernswürdiger Mann, ich komme - renne her noch in tiefer Nacht, um mich mit Ihnen zu beraten, wie vielleicht noch der tötende Schlag abzuwenden ist, der sie eben treffen will, und Sie -"

"0 Gott", schrie der Kommissionsrat ganz außer sich, "o Gott, gewiß schon wieder ein Falliment in Hamburg, Bremen oder London, das mich vollends summieren droht, oh, ich geschlagener Kommissionsrat - das fehlte noch -"

"Nein", unterbrach der Goldschmied Voßwinkels Klagen, "nein, es ist hier noch von etwas anderm die Rede. Sie wollen also Albertinens Hand durchaus nicht dem jungen Edmund Lehsen geben?"

"Wie kommen Sie", rief der Kommissionsrat, "auf diesen albernen, ärgerlichen Schnack? Ich! meine Tochter dem armseligen Pinsler!"

"Nun", sprach der Goldschmied, "er hat doch Sie und Albertinen recht wacker gemalt." "Hoho!" erwiderte der Kommissionsrat, "das wäre ein schöner Kauf, meine Tochter für ein paar bunte Bilder! — Ich habe ihm die Dinger ins Haus zurückgeschickt."

"Edmund", fuhr der Goldschmied fort, "Edmund wird, versagen Sie ihm Albertinen, sich rächen."

"Nun", rief der Kommissionsrat, "nun, das möcht ich doch wissen, welche Rache der Schlucker, der Kiekindiewelt an dem Kommissionsrat Melchior Voßwinkel zu nehmen vermöchte."

"Das will", erwiderte der Goldschmied, "das will ich Ihnen gleich sagen, mein sehr wackrer Herr Kommissionsrat. Edmund ist eben im Begriff, Ihr liebes Bild auf würdige Weise zu retuschieren. Das fröhliche, lächelnde Antlitz verkehrt er in ein bittergrämliches, mit heraufgezogenen Brauen, trüben Augen, herunterhängenden Lippen. Stärker markiert er die Runzeln auf Stirn und Wangen, vergißt nicht die vielen grauen Haare, die der Puder verbergen soll, hinlänglich anzudeuten durch gehörige Färbung. Statt der freudigen Botschaft von dem Lotteriegewinst schreibt er die höchst betrübte Nachricht in den Brief, die Sie vorgestern erhielten, nämlich daß das Haus Campbell et Compagnie in London falliert, und auf dem Kuvert steht: ,An den verfehlten Stadt- und Kommissionsrat' und so fort, denn er weiß, daß Sie vor einem halben Jahre vergebens darnach trachteten, Stadtrat zu werden. Aus den zerrissenen Westentaschen fallen Dukaten, Taler und Tresorscheine heraus, den Verlust andeutend, den Sie erlitten. So wird das Bild dann ausgehängt bei dem Bilderhändler am Bankgebäude in der Jägerstraße."

"Der Satan", schrie der Kommissionsrat, "der Halunke, nein, das soll er nicht unternehmen! — Polizei, Justiz rufe ich zu Hülfe -"

"Haben", fuhr der Goldschmied gelassen fort, "haben nur funfzig Menschen eine Viertelstunde hindurch das Bild gesehen,

dann dringt die Kunde davon mit tausend stärkeren Nuancen, die dieser, jener Witzbold hinzufügt, durch die ganze Stadt. Alles Lächerliche, alles Alberne, das man von Ihnen erzählt hat und noch erzählt, wird aufgefrischt mit neuen, glänzenden Farben, jeder, dem Sie begegnen, lacht Ihnen ins Gesicht, und was das Schlimmste ist, man spricht dabei unaufhörlich von dem Verlust, den Sie durch Campbells Fall erlitten, und Ihr Kredit ist hin."

"0 Gott", rief der Kommissionsrat, "o Gott! — Aber er muß mir das Bild herausgeben, der Bösewicht, ja, das muß er morgen mit dem frühsten Tage."

"Und", sprach der Goldschmied weiter, "und täte er das wirklich, woran ich sehr zweifle, was würd es Ihnen helfen? Er radiert Ihre werte Person, wie ich es erst beschrieben, auf eine Kupferplatte, besorgt viele hundert Abdrücke, illuminiert sie selbst recht con amore und schickt sie in die ganze Welt, nach Hamburg, Bremen, Lübeck, Stettin, ja nach London -"

"Halten Sie ein", unterbrach der Kommissionsrat den Goldschmied, "halten Sie ein! — Gehen Sie hin zu dem entsetzlichen Menschen, bieten Sie ihm funfzig -ja - bieten Sie ihm hundert Taler, wenn er die Sache mit meinem Bilde ganz unterläßt

"Ha, ha, ha!" lachte der Goldschmied, "Sie vergessen, daß sich Lehsen ganz und gar nichts macht aus dem Gelde, daß seine Eltern wohlhabend sind, daß seine Großtante, die Demoiselle Lehsen, die in der Breiten Straße wohnt, ihm längst ihr ganzes Vermögen vermacht hat, das nicht weniger als bare achtzigtausend Taler beträgt!"

"Was", rief der Kommissionsrat, erbleicht vor plötzlichem Erstaunen, "was sagen Sie - achtzig - — Hören Sie, Herr Leonhard, ich glaube, Albertinchen ist ganz vernarrt in den jungen Lehsen - ich bin nun einmal ein guter Kerl - ein weichmütiger Vater - kann keinen Tränen, keinen Bitten widerstehen - zudem gefällt mir der junge Mensch. Er ist ein tüchtiger Künstler - Sie wissen, was die Kunst betrifft,

da bin ich ein rechter Narr mit meiner Vorliebe - erbat hübsche Eigenschaften, der liebe, gute Lehsen - achtzig - nun, wissen Sie was, Leonhard, aus purer Herzensgüte geb ich ihm meine Tochter, dem artigen Jungen!"

"Hm", sprach der Goldschmied, "ich muß Ihnen doch etwas Spaßhaftes erzählen. Soeben komme ich aus dem Tiergarten. Dicht an dem großen Bassin fand ich Ihren alten Freund und Schulkameraden, den Geheimen Kanzleisekretär Tusmann, der, darüber, daß ihn Albertine verschmäht, in wilde Verzweiflung geraten, sich ins Wasser stürzen wollte. Nur mit Mühe gelang es mir, ihn von der Ausführung seines schrecklichen Entschlusses abzuhalten, indem ich ihm vorstellte, daß Sie, mein wackrer Kommissionsrat, gewiß Ihr treu gegebenes Wort halten und durch väterliche Ermahnungen Albertinen dahin bringen würden, ihm unverweigerlich die Hand zu reichen. Geschieht dies nun nicht, geben Sie Albertinens Hand dem jungen Lehsen, so springt Ihr Geheimer in das Bassin, das ist so gut wie gewiß. Denken Sie, was dieser entsetzliche Selbstmord des soliden Mannes für Aufsehn erregen würde? —Jeder klagt Sie - Sie allein als Tusmanns Mörder an und begegnet Ihnen mit tiefer Verachtung. Sie werden nirgends mehr zur Tafel geladen, und finden Sie sich auf irgendeinem Kaffeehause ein, um Neues zu erwischen, so wirft man Sie zur Tür hinaus - die Treppe hinunter. Aber noch mehr! —Der Geheime Kanzleisekretär ist hochgeachtet von allen seinen Vorgesetzten, sein Ruf als tüchtiger Geschäftsmann hat alle Bureaus durchdrungen. Haben Sie nun durch Ihren Wankelmut, durch Ihre Falschheit den Ärmsten zum Selbstmorde gebracht, so ist gar nicht daran zu denken, daß Sie jemals in Ihrem ganzen Leben noch einen Geheimen Legations-, einen Geheimen Oberfinanzrat zu Hause finden sollten, die Wirklichen am allerwenigsten. Keine Behörde, deren Geneigtheit Ihr Geschäft bedarf, nimmt sich hinfort Ihrer mehr im mindesten an. Von simplen Kommerzienräten werden Sie verhöhnt, Expedienten verfolgen Sie mit Mordwaffen, und Kanzleiboten

drücken, Ihnen begegnend, die Hüte fester auf den Kopf. Man nimmt Ihnen den Titel als Kommissionsrat, Stoß erfolgt auf Stoß, Ihr Kredit ist hin, Ihr Vermögen gerät in Verfall, schlechter und schlechter geht's, bis Sie zuletzt in Verachtung, Armut und Elend -"

"Hören Sie auf", schrie der Kommissionsrat, "Sie martern mich! — Wer hätte denken sollen, daß der Geheime noch in seinen Jahren solch ein verliebter Affe sein würde! — Aber Sie haben recht. — Mag es nun gehen, wie es in der Welt will, ich muß dem Geheimen Wort halten, sonst bin ich ein ruinierter Mann. — Ja, es ist beschlossen, der Geheime erhält Albertinens Hand."

"Sie vergessen", sprach der Goldschmied, "die Bewerbung des Barons Dümmerl. Sie vergessen den fürchterlichen Fluch des alten Manasse! — An diesem haben Sie, wird Bensch verschmäht, den fürchterlichsten Feind. In allen Ihren Spekulationen tritt Ihnen Manasse entgegen. Er scheut kein Mittel, Ihren Kredit zu schmälern, er benutzt jede Gelegenheit, Ihnen zu schaden, er ruht nicht, bis er Sie in Schimpf und Schande heruntergebracht hat, bis der Dales, den er Ihnen auf den Hals geflucht hat, wirklich eingekehrt ist in Ihr Haus. — Genug, Sie mögen nun Albertinens Hand diesem oder jenem der drei Freier geben, immer geraten Sie in Not, und ebendeshalb nannte ich Sie vorhin einen armen, bedauernswürdigen Mann."

Der Kommissionsrat rannte wie unsinnig im Zimmer auf und ab, rief ein Mal über das andere: "Ich bin verloren - ein unglücklicher Mensch, ein ruinierter Kommissionsrat -. Hätt ich nur das Mädchen garnicht auf dem Halse. Möge sie alle der Satan davonführen, den Lehsen, den Bensch und — meinen Geheimen dazu -"

"Nun, nun", begann der Goldschmied, "noch gibt es wohl ein Mittel, Sie aus aller Verlegenheit zu reißen."

"Welches", sprach der Kommissionsrat, indem er plötzlich stillstand und den Goldschmied starr anblickte, "welches? Ich gehe alles ein."

"Haben Sie", fragte der Goldschmied, "haben Sie in dem Theater den ,Kaufmann von Venedig' gesehen?"

"Das ist", erwiderte der Kommissionsrat, "das ist das Stück, in welchem Herr Devrient einen mordsüchtigen Juden spielt, namens Shylock, dem es gelüstet nach frischem Negoziantenfleisch. — Allerdings habe ich dies Stück gesehen, aber was sollen jetzt die Possen?"

"Kennen Sie", fuhr der Goldschmied fort, "den ,Kaufmann von Venedig', so werden Sie sich erinnern, daß darin ein gewisses reiches Fräulein Porzia vorkommt, deren Vater vermöge testamentlicher Verfügung die Hand seiner Tochter zum Gewinst in einer Art von Lotterie gemacht hatte. Drei Kästchen werden hingestellt, unter denen die Bewerber eins wählen und öffnen müssen. Derjenige von den Bewerbern erhält Porzias Hand, der in dem Kästchen, das er gewählt, ihr Porträt eingeschlossen findet. Machen Sie es, Kommissionsrat, als lebendiger Vater wie Porzias verstorbener. Sagen Sie den drei Freiem, daß, da Ihnen einer so lieb wäre als der andere, Sie die Entscheidung dem Zufall überlassen wollten. Drei verschlossene Kästchen werden hingestellt den Freiem zur Wahl, und der, der Albertinens Bildnis gefunden, erhält ihre Hand."

"Welch ein abenteuerlicher Vorschlag", rief der Kommissionsrat. "Und ging ich wirklich darauf ein, glauben Sie denn, werter Herr Leonhard, daß mir das im mindesten etwas helfen, daß ich mir nicht, hat auch der Zufall entschieden, den Zorn und Haß derjenigen auf den Hals laden würde, die das Porträt nicht getroffen, hinfolglich abziehen müssen?"

"Halt", sprach der Goldschmied, "das ist eben der wichtigste Punkt! — Sehn Sie, Kommissionsrat, ich verspreche Ihnen hiermit feierlichst, die Sache mit den Kästchen so einzurichten, daß sich alles glücklich und friedlich enden soll. Die beiden, welche fehlgegriffen, werden in ihren Kästchen keinesweges, wie die Prinzen von Marokko und Aragon, eine schnöde Abfertigung finden, vielmehr etwas erhalten,

welches sie dermaßen befriedigt, daß sie an die Heirat mit Albertinen garnicht mehr denken und noch dazu Sie, Kommissionsrat, für den Schöpfer eines gar nicht geahnten Glücks halten." "Wäre das möglich!"rief der Kommissionsrat. "Nicht allein möglich", erwiderte der Goldschmied, "es wird, es muß so kommen, wie ich es Ihnen sage, mein festes Wort darauf."

Nun nahm der Kommissionsrat keinen Anstand mehr, einzugehen in des Goldschmieds Plan, und beide kamen darin überein, daß in der Mittagsstunde des nächsten Sonntags die Wahl vor sich gehen solle. Die drei Kästchen versprach der Goldschmied herbeizuschaffen.


Sechstes Kapitel



worin von der Art, wie die Brautwahl vor sich ging, gehandelt, dann aber die Geschichte geschlossen wird

Man kann denken, daß Albertine ganz und gar in Verzweiflung geriet, als der Kommissionsrat sie mit der unglückseligen Lotterie, in der ihre Hand gewonnen werden sollte, bekannt machte, als alles Bitten, alles Flehen, alles trostlose Weinen nicht vermochte, ihn von dem einmal gefaßten Entschluß abzubringen. Dazu kam, daß Leisen ihr so gleichgültig, so indolent schien, wie es keiner sein kann, der wirklich liebt, da er nicht das mindeste versuchte, sie heimlich zu sehen oder ihr wenigstens eine Liebesbotschaft zuzustecken. Am Sonnabend vor dem verhängnisvollen Sonntage, der ihr Schicksal entscheiden sollte, saß, als schon tiefe Abenddämmerung eingebrochen, Albertine einsam in ihrem Zimmer. Ganz erfüllt von dem Gedanken an das Unglück, von dem sie bedroht, kam es ihr ein, ob es nicht besser sei, einen raschen Entschluß zu fassen, schnell aus dem väterlichen Hause zu entfliehen, als das Fürchterlichste abzuwarten, zur Heirat gezwungen zu werden mit dem alten, pedantischen Geheimen Kanzleisekretär oder gar mit dem

ekelhaften Baron Bensch. Da kam ihr aber auch plötzlich der rätselhafte Goldschmied in den Sinn und die seltsame zauberische Art, wie erden zudringlichen Bensch ihr vom Leibe gehalten. Es war ihr nur zu gewiß, daß er dem Lehsen beigestanden, und so dämmerte in ihr die Hoffnung auf, daß es eben der Goldschmied sein müsse, von dem Hülfe zu hoffen in dem kritischen Moment. Sie empfand den lebhaften Wunsch, den Goldschmied zu sprechen, und war im Innern überzeugt, daß sie sich nicht im mindesten entsetzen würde, sollte der Goldschmied sich ihr auch im Augenblick offenbaren auf gespenstige Weise.

Es geschah auch wirklich, daß Albertine nicht im mindesten erschrak, als sie gewahrte, daß das, was sie für den Ofen gehalten, eigentlich der Goldschmied Leonhard war, der sich ihr näherte und mit sanfter, sonorer Stimme folgendermaßen begann:

"Laß, mein liebes Kind, all deine Traurigkeit, all dein Herzeleid fahren. Wisse, daß Edmund Lehsen, den du wenigstens jetzt zu lieben vermeinst, wisse, daß er mein Schützling ist, dem ich mit aller Macht beistehe. Wisse ferner, daß ich es bin, der deinen Vater auf den Gedanken der Lotterie gebracht, daß ich es bin, der die verhängnisvollen Kästchen besorgt hat, und nun kannst du es dir doch wohl denken, daß niemand anders dein Bild finden wird als eben Edmund." — Albertine wollte aufjauchzen vor Entzücken; der Goldschmied fuhr fort:

"Edmund deine Hand zu verschaffen wäre mir auch auf andere Weise gelungen; es war mir aber daran gelegen, zu gleicher Zeit die Mitbewerber, den Geheimen Kanzleisekretär Tusmann und den Baron Bensch, ganz und gar zufriedenzustellen. Auch das wird geschehen, und ihr beide, du und dein Vater, werdet vor jeder Anfechtung der verschmähten Freier sicher sein."

Albertine strömte über in heißen Dank. Sie wäre dem alten Goldschmied beinahe zu Füßen gesunken, sie drückte seine Hand an ihre Brust, sie versicherte, daß sie trotz aller

Zauberkünste, die er treibe, ja selbst bei der gespenstigen Art, wie er auch heute abend plötzlich in ihrem Zimmer erschienen, durchaus nichts Unheimliches in seiner Nähe fühle, und schloß mit der naiven Frage, was es denn eigentlich für eine Bewandtnis mit ihm habe, wer er denn eigentlich sei.

"Ei, mein liebes Kind", begann der Goldschmied lächelnd, "sehr schwer wird es mir zu sagen, wer ich eigentlich bin. Mir geht es so wie vielen, die weit besser wissen, wofür sie die Leute halten, als was sie eigentlich sind! — Erfahre also, mein liebes Kind, daß manche mich für niemand anders halten als für jenen Goldschmied Leonhard Turnhäuser, der in den funfzehnhundertundachtziger Jahren am Hofe des Kurfürsten Johann George in solch großem Ansehen stand und der, als Neid und Bosheit ihn zu verderben trachteten, verschwunden war, man wußte nicht wie und wohin. Geben mich nun solche Leute, die man Romantiker oder Phantasten zu nennen pflegt, für jenen Turnhäuser, mithin für einen gespenstischen Mann aus, so kannst du dir denken, welchen Verdruß ich von den soliden, aufgeklärten Leuten, die als tüchtige Bürger und Geschäftsmänner den Teufel was nach Romantik und Poesie fragen, auszustehen habe. Ja selbst handfeste Ästhetiker wollen mir zu Leibe, verfolgen mich wie die Doktoren und Schriftgelehrten zu Johann Georgs Zeiten und suchen mir das bißchen Existenz, das ich mir anmaße, zu verbittern und zu verkümmern, wie sie nur können.

Ach, mein liebes Kind, ich merk es schon, ungeachtet ich mich des jungen Edmund Lehsen und deiner so sorglich annehme und überall wie ein echter Deus ex machina erscheine, so werden doch viele, die mit jenen Ästhetikern gleichen Sinnes sind, mich in der Geschichte gar nicht leiden wollen, da sie an meine wirkliche Existenz nun einmal durchaus nicht glauben können! — Um mich nur einigermaßen sicherzustellen, habe ich niemals geradehin zugestehen mögen, daß ich der schweizerische Goldschmied Leonhard Turnhäuser aus dem sechzehnten Jahrhundert bin.

Jenen Leuten bleibt es daher vergönnt anzunehmen, ich sei ein geschickter Taschenspieler, und die Erklärung aller Spukereien, wie sie vorgekommen, in Wieglebs ,Natürlicher Magie' oder sonst aufzusuchen. Freilich habe ich in diesem Augenblick noch ein Kunststück vor, das mir kein Philidor, kein Philadelphia, kein Cagliostro nachmacht und das als durchaus unerklärlich jenen Leuten ein ewiger Anstoß bleiben wird; indessen kann ich davon deshalb keinesweges abstehen, da es zur Vollendung der berlinischen Geschichte, welche von der Brautwahl dreier bekannten Personen, die sich um die Hand der hübschen Demoiselle Albertine Voßwinkel bewerben, handelt, unumgänglich nötig ist. — Nun also Mut gefaßt, mein liebes Kind, stehe morgen fein früh auf, ziehe das Kleid an, das du am liebsten trägst, weil es dir am besten steht, flechte dein Haar auf in den zierlichsten Zöpfen und erwarte das übrige, wie es sich dann begeben mag, ruhig und in bescheidener Geduld."

Hierauf verschwand der Goldschmied, wie er gekommen. Sonntags um die bestimmte Stunde, das heißt Punkt eilf Uhr, fanden eicheln der alte Manasse mit seinem hoffnungsvollen Neffen, der Geheime Kanzleisekretär Tusmann und Edmund Lehsen mit dem Goldschmied. Die Freier, den Baron Bensch nicht ausgenommen, erschraken beinahe, als sie Albertinen erblickten, denn noch niemals war sie ihnen so überaus schön und anmutig vorgekommen. Jedem Mädchen, jeder Dame, die etwas hält auf geschmackvollen Anzug und zierlichen Schmuck (und wo wäre diejenige hier in Berlin zu finden, die das nicht täte), kann ich aber auch versichern, daß die Garnitur des Kleides, welches Albertine trug, von ausnehmender Eleganz, das Kleid aber gerade kurz genug war, um den niedlichen, weiß beschuhten Fuß zu zeigen, daß die kurzen Ärmel sowie der Busenstreif aus den kostbarsten Spitzen bestanden, daß die weißen französischen Glacéhandschuhe, nur was weniges über die Ellbogen heraufgestreift, den schönsten Oberarm sehen ließen, daß der Kopfputz in nichts weiter als in einem zierlichen,

goldenen, mit Steinen besetzten Kamm bestand, kurz, daß zu dem bräutlichen Schmuck nichts weiter fehlte als die Myrtenkrone in den dunkeln Flechten. Warum aber Albertine eigentlich viel reizender aussah als sonst, kam wohl daher, daß Liebe und Hoffnung in den Augen strahlten, auf den Wangen blühten.

In einem Anfall von Gastlichkeit hatte der Kommissionsrat ein Gabelfrühstück bereiten lassen. Mit hämischen, scheelen Blicken betrachtete der alte Manasse den gedeckten Tisch, und da der Kommissionsrat ihn einlud zuzulangen, las man auf seinem Antlitz jene Antwort Shylocks: "Ja, um Schinken zu riechen, von der Behausung zu essen, wo euer Prophet, der Nazarener, den Teufel hineinbeschwor. Ich will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, und was dergleichen mehr ist; aber ich will nicht mit euch essen, mit euch trinken noch mit euch beten!"

Baron Bensch war weniger gewissenhaft, denn er aß viel mehr Beefsteaks als ziemlich und schwatzte dabei sehr läppisches Zeug, wie es in seiner Art lag.

Der Kommissionsrat verleugnete in der verhängnisvollen Stunde ganz und gar seine Natur; denn außer dem, daß er rücksichtlos Madera und Portwein einschenkte, ja sogar verriet, daß er hundertjährigen Malaga im Keller habe, machte er auch, nachdem das Frühstück beendet, den Freiem die Art, wie über die Hand seiner Tochter entschieden werden sollte, in einer solchen wohlgesetzten Rede bekannt, wie man es ihm gar nicht bitte zutrauen sollen. Die Freier mußten es sich einprägen, daß nur der Albertinens Besitz errungen, der das Kästchen, worin ihr Bild befindlich, gewählt.

Mit dem Glockenschlage zwölf ging die Türe des Saals auf, und man erblickte in der Mitte desselben einen mit einem reichen Teppich behängten Tisch, auf welchem drei kleine Kästchen standen.

Das eine, von gleißendem Gold, hatte auf dem Deckel einen Kranz von funkelnden Dukaten, in dessen Mitte die Worte standen:

"Wer mich erwählt, Glück ihm nach seines Sinnes Art!"

Das zweite Kästchen war sehr zierlich in Silber gearbeitet. Auf dem Deckel standen zwischen mancherlei Schriftzügen fremder Sprachen die Worte:

"Wer mich erwählt, bekömmt viel mehr, als er gehofft!"

Das dritte Kästchen, sauber aus Elfenbein geschnitzt, trug die Aufschrift: "Wer mich erwählt, dem wird geträumte Seligkeit!"

Albertine nahm Platz auf einem Lehnsessel hinter dem Tisch, ihr zur Seite stellte sich der Kommissionsrat; Manasse und der Goldschmied zogen sich zurück in den Hintergrund des Zimmers.

Als das Los entschieden, daß der Geheime Kanzleisekretär Tusmann zuerst wählen sollte, mußten Bensch und Lehsen abtreten ins Nebenzimmer.

Der Geheime Kanzleisekretär trat bedächtig an den Tisch, betrachtete mit Sorgfalt die Kästchen, las ein Mal über das andere die Inschriften. Bald fühlte er sich aber durch die schönen verschlungenen Schriftzüge, die auf dem silbernen Kästchen befindlich, unwiderstehlich angezogen. "Gerechter", rief er begeistert aus, "welch schöne Schrift, wie angenehm paart sich hier das Arabische mit römischer Fraktur! Und: ,Wer mich erwählt, bekömmt viel mehr, als er gehofft.' — Habe ich denn noch gehofft, daß Demoiselle Albertine Voßwinkel mich mit ihrer werten Hand jemals beglücken werde? Bin ich nicht vielmehr in totale Verzweiflung geraten? — Habe ich mich nicht - im Bassin -. Nun! hier ist Trost, hier ist mein Glück! — Kommissionsrat! — Demoiselle Albertine -ich wähle das silberne Kästchen

Albertine stand auf und reichte dem Geheimen Kanzleisekretär einen kleinen Schlüssel, mit dem er sofort das Kästchen öffnete. Doch wie erschrak er, als er keinesweges Albertinens Bild, wohl aber ein kleines, in Pergament gebundenes

Buch vorfand, das, als er es aufschlug, nur leere, weiße Blätter enthielt.

Dabei lag ein Zettel mit den Worten:

War dein Treiben auch verkehrt,
Großes Heil dir widerfährt.
Was du findest, ist bewährt,
 Ignorantiam macht's gelehrt,
Sapientiam dir's beschert!

"Gerechter", stammelte der Geheime Kanzleisekretär, "ein Buch - nein, kein Buch - gebundenes Papier statt des Bildes -alle Hoffnung zerstört. — O geschlagener Geheimer Kanzleisekretär! mit dir ist es aus, rein aus! — fort in den Froschteich!"

Tusmann wollte davon, da vertrat ihm aber der Goldschmied den Weg und sprach: "Tusmann, Ihr seid nicht gescheut, kein Schatz kann Euch ersprießlicher sein als der, den Ihr gefunden! Die Verse hätten Euch schon darauf aufmerksam machen sollen. Tut mir den Gefallen und steckt das Buch, das Ihr aus dem Kästchen nahmt, in die Tasche." — Tusmann tat es.

"Nun", fuhr der Goldschmied fort, "nun denkt Euch ein Buch, das Ihr gern in diesem Augenblick bei Euch tragen möchtet."

"0 Gott", sprach der Geheime Kanzleisekretär verdutzt, "o Gott, unbesonnener-, unchristlicherweise warf ich Thomasii ,Kurzen Entwurf der politischen Klugheit' in den Froschteich!"

"Faßt in die Tasche, zieht das Buch hervor", rief der Goldschmied.

Tusmann tat, wie ihm geheißen, und siehe - das Buch war eben kein anderes als Thomasii "Entwurf".

"Ha, was ist das", rief der Geheime Kanzleisekretär ganz außer sich, "o Gott, mein lieber Thomasius gerettet vor den feindlichen Rachen schnöder Frösche, die doch nimmermehr daraus Conduite gelernt!"

"Still", unterbrach ihn der Goldschmied, "steckt das Buch wieder in die Tasche." —Tusmann tat es.

"Denkt", fuhr der Goldschmied fort, "denkt Euch jetzt irgendein seltnes Werk, dem Ihr vielleicht lange vergebens nachgetrachtet, das Ihr aus keiner Bibliothek erhalten konntet."

"0 Gott", sprach der Geheime Kanzleisekretär beinahe wehmütig, "o Gott, da ich nun auch zu meiner Erheiterung bisweilen die Oper zu besuchen gesonnen, wollte ich mich vorher etwas in der edlen Musica feststellen und trachtete bis jetzt vergebens, ein kleines Büchlein zu erhalten, das allegorischerweise die ganze Kunst des Komponisten und Virtuosen darlegt. Ich meine nichts anders als Johannes Beers ,Musikalischen Krieg oder Die Beschreibung des Haupttreffens zwischen beiden Heroinen, als der Komposition und Harmonie, wie diese gegeneinander zu Felde gezogen, gescharmutzieret und endlich nach blutigem Treffen wieder verglichen worden'."

"Faßt in die Tasche", rief der Goldschmied, und vor Freude jauchzte der Geheime Kanzleisekretär laut auf, als er das Buch aufschlug, das nun eben wieder Johannes Beers "Musikalischen Krieg" enthielt.

"Seht Ihr wohl", sprach nun der Goldschmied, "mittelst des Buchs, das Ihr in dem Kästchen gefunden, habt Ihr die reichste, vollständigste Bibliothek erlangt, die jemals einer besessen und die Ihr noch dazu beständig bei Euch tragen könnt. Denn habt Ihr dieses merkwürdige Buch in der Tasche, so wird es, zieht Ihr es hervor, jedesmal das Werk sein, das Ihr eben zu lesen wünscht."

Ohne auf Albertine, ohne auf den Kommissionsrat zu achten, sprang der Geheime Kanzleisekretär schnell in die Ecke des Zimmers, warf sich in einen Lehnsessel, steckte das Buch in die Tasche, zog es wieder hervor, und man sah an dem Entzücken, das in seinen Augen strahlte, wie herrlich eintraf, was der Goldschmied verheißen.

Nun kam die Reihe der Wahl an den Baron Bensch. Er

trat hinein, schritt nach seiner läppischen tölpelhaften Manier geradezu los auf den Tisch, beschaute mit der Lorgnette die Kästchen und murmelte die Inschriften her. Aber bald fesselte ihn ein natürlicher unwiderstehlicher Instinkt an das goldene Kästchen mit den blinkenden Dukaten auf dem Deckel. "Wer mich erwählt, Glück ihm nach seines Sinnes Art'. — Nun ja, Dukaten, die sind nach meinem Sinn, und Albertine, die ist auch nach meinem Sinn, was ist da lange zu wählen und zu überlegen!" So sprach Bensch, griff nach dem goldenen Kästchen, empfing von Albertinen den Schlüssel, öffnete und fand - eine kleine saubere englische Feile! Dabei lag ein Zettel mit den Versen:
Hast gewonnen, was dein Herz
Wünschen konnt mit wehem Schmerz.
Alles andre ist nur Scherz,
Immer vor, niemals rückwärts
Geht ein blühendes Kommerz.

"He", rief er erbost, "was tu ich mit der Feile? — ist die Feile ein Porträt, ist die Feue Albertinens Porträt? Ich nehm das Kästchen und schenk es Albertinen als Brautgabe. — Kommen Sie, mein Mädchen -"

Damit wollt er los auf Albertinen, aber der Goldschmied hielt ihn bei den Schultern zurück, indem er sprach: "Halt, mein Herr, das ist wider die Abrede. Sie müssen mit der Feile zufrieden sein und werden es unbezweifelt sein, sobald Sie den Wert, den unschätzbaren Wert des köstlichen Kleinods, das Sie erhalten, erkannt haben, den schon die Verse andeuten. — Haben Sie einen schönen rändigen Dukaten in der Tasche?"

"Nun ja", erwiderte Bensch verdrießlich, "nun ja, was soll's?"

"Nehmen Sie", fuhr der Goldschmied fort, "einen solchen Dukaten aus der Tasche und feilen Sie den Rand ab."

Bensch tat es mit einer Geschicklichkeit, die von langer Übung zeugte. Und siehe - noch schöner kam der Rand des

Dukatens zum Vorschein, und so ging es mit dem zweiten, dritten Dukaten, je mehr Bensch feilte, desto rändiger wurden sie.

Manasse hatte bis jetzt ruhig alles, was sich begeben, mit angesehen, doch jetzt sprang er mit wildfunkelnden Augen los auf den Neffen und schrie mit hohler entsetzlicher Stimme: "Gott meiner Väter - was ist das - mir her die Feue - mir her die Feile - es ist das Zauberstück, für das ich meine Seele verkauft vor mehr als dreihundert Jahren. — Gott meiner Väter -her mit der Feile."

Damit wollte er die Feile dem Bensch entreißen, der stieß ihn aber zurück und schrie: "Weg von mir, alter Narr, ich habe die Feile gefunden, nicht du -"

Darauf Manasse in voller Wut: "Natter - wurmstichige Frucht meines Stammes, her mit der Feile! — Alle Teufel über dich, verfluchter Dieb

Unter einem Strom hebräischer Schimpfwörter krallte sich Manasse nun fest an den Baron und strengte knirschend und schäumend alle seine Kraft an, ihm die Feile zu entwinden. Bensch verteidigte aber das Kleinod wie die Löwin ihr Junges, bis zuletzt Manasse schwach ward. Da packte der Neffe den lieben Onkel mit derben Fäusten, warf ihn zur Türe hinaus, daß ihm die Glieder knackten, kehrte pfeilschnell zurück, schob einen kleinen Tisch in die Ecke des Zimmers, dem Geheimen Kanzleisekretär gegenüber, schüttete eine ganze Handvoll Dukaten aus und fing mit Eifer an zu feilen.

"Nun", sprach der Goldschmied, "nun sind wir den entsetzlichen Menschen, den alten Manasse, auf immer los. Man will behaupten, er sei ein zweiter Ahasverus und spuke seit dem Jahre eintausendfünfhundertundzweiundsiebzig umher. Damals wurde er unter dem Namen des Münzjuden Lippold wegen teuflischer Zauberei hingerichtet. — Aber der Teufel rettete ihn vom Tode um den Preis seiner unsterblichen Seele. Viele Leute, die sich auf so etwas verstehen, haben ihn hier in Berlin unter verschiedenen Gestalten be

merkt, woher denn die Sage entsteht, daß es noch zur Zeit nicht einen, sondern viele, viele Lippolds gäbe. — Nun! — ich habe ihm, da ich auch einige Erfahrung in geheimnisvollen Dingen besitze, den Garaus gemacht!"

Es würde dich, sehr geliebter Leser, ungemein langweilen müssen, wenn ich nun noch weitläuftig erzählen wollte, was du, da es sich von selbst versteht, schon längst weißt. Ich meine, daß Edmund Lehsen das elfenbeinerne Kästchen mit der Aufschrift:



"Wer mich erwählt, dem wird geträumte Seligkeit"

wählte und darin Albertinens wohlgetroffenes Miniaturbild mit den Versen fand:

Ja, du trafst es, lies dein Glück
In der Schönsten Liebesblick.
Was da war, kommt nie zurück,
So will's irdisches Geschick.
Was dein Traum dir schaffen muß,
Lehrt dich der Geliebten Kuß.

Daß ferner Edmund, dem Bassanio gleich, der Anweisung der letzten Worte folgte und die in glühendem Purpur errötende Geliebte an sein Herz drückte - küßte und daß der Kommissionsrat ganz vergnügt war und glücklich über den fröhlichen Ausgang der verwickeltsten aller Heiratsangelegenheiten.

Der Baron Bensch hatte ebenso emsig fortgefeilt, als der Geheime Kanzleisekretär fortgelesen. Beide nahmen von dem, was sich eben begeben, nicht eher Notiz, als bis der Kommissionsrat laut verkündete, daß Edmund Lehsen das Kästchen, worin Albertinens Porträt befindlich, gewählt, folglich ihre Hand erhalte. Der Geheime Kanzleisekretär schien darüber außer sich vor Freuden, indem er nach der Art, wie er sein Vergnügen zu äußern pflegte, sich die Hände rieb, zwei-, dreimal etwas weniges in die Höhe sprang und eine feine Lache aufschlug. Den Baron Bensch

schien die Heirat gar nicht weiter zu interessieren; dafür umarmte er aber den Kommissionsrat, nannte ihn einen vortrefflichen Gentleman, der ihn durch das solide Geschenk der Feile ganz und gar glücklich gemacht habe, und versicherte, daß er in jedem Geschäft auf ihn rechnen könne. Dann entfernte er sich schnell.

Ebenso dankte der Geheime Kanzleisekretär dem Kommissionsrat unter vielen Tränen der innigsten Rührung, daß er ihn durch das seltenste aller Bücher, welches er ihm aus seiner Bibliothek verehrt habe, zum glücklichsten aller Menschen gemacht, und folgte, nachdem er sich noch in galanter Höflichkeit gegen Albertine, Edmund und den alten Goldschmied erschöpft, dem Baron eiligst nach.

Bensch quälte von nun an nicht mehr die literarische Welt mit ästhetischen Mißgeburten, wie er sonst getan, sondern verwandte lieber die Zeit, Dukaten abzufeilen. Tusmann fiel dagegen nicht mehr den Bibliothekaren zur Last, die ihm sonst tagelang alte, längst vergessene Bücher herbeischaffen mußten.

Nach einigen Wochen des Entzückens und der Freude ging in des Kommissionsrats Hause aber schreckliches Herzeleid los. Der Goldschmied hatte nämlich den jungen Edmund dringend ermahnt, seiner Kunst, sich selbst zur Ehre, sein gegebenes Wort zu halten und nach Italien zu gehen.

Edmund, so schmerzlich ihm die Trennung von der Geliebten werden mußte, fühlte doch den dringenden Trieb, zu wallfahrten nach dem Lande der Kunst, und auch Albertine dachte, während sie die bittersten Tränen vergoß, daran, wie interessant es sein würde, in diesem, jenem Tee Briefe, die sie aus Rom erhalten, aus dem Strickkörbchen hervorzuziehen.

Edmund ist nun schon länger als ein Jahr in Rom, und man will behaupten, daß der Briefwechsel mit Albertinen immer seltener und kälter werde. Wer weiß, ob am Ende einmal gar aus der Heirat der beiden jungen Leute etwas wird. Ledig bleibt Albertine auf keinen Fall, dazu ist sie

viel zu hübsch, viel zu reich. Überdies bemerkt man auch, daß der Referendarius Gloxin, ein hübscher junger Mann, mit schmaler, eng eingeschnürter Taille, zwei Westen und auf englische Art geknüpftem Halstuch, die Demoiselle Albertine Voßwinkel, mit der er den Winter hindurch auf den Bällen die angenehmsten Françoisen getanzt, häufig nach dem Tiergarten führt und daß der Kommissionsrat dem Pärchen nachtrippelt mit der Miene des zufriedenen Vaters. Zudem hat der Referendarius Gloxin schon das zweite Examen bei dem Kammergericht gemacht und ist nach Aussage der Examinatoren, die ihn in der frühsten Morgenstunde sattsam gequält oder, wie man zu sagen pflegt, auf den Zahn gefühlt haben, welches weh tut, vorzüglich wenn der Zahn hohl, vortreiflich bestanden. Eben aus diesem Examen soll sich denn auch ergeben haben, daß der Referendarius offenbar Heiratsgedanken im Kopfe hat, da er in der Lehre von gewagten Geschäften ganz vorzüglich bewandert.

Vielleicht heiratet Albertine gar den artigen Referendarius, wenn er einen guten Posten erschwungen. — Nun! man muß abwarten, was geschieht!



"Das ist", sprach Ottmar, als Lothar geendet hatte, "das ist ein wunderlich tolles Ding, was du da aufgeschrieben hast. Mir will deine sogenannte Geschichte mit den unwahrscheinlichen Abenteuern vorkommen wie eine aus allerlei bunten Steinen willkürlich zusammengefügte Mosaik, die das Auge verwirrt, so daß es keine bestimmte Figur zu erfassen vermag." — "Was mich betrifft", nahm Theodor das Wort, "so leugne ich nicht, daß ich manches in Lothars Erzählung ergötzlich genug finde, und es ist sogar möglich, daß das Ganze hätte ziemlich gut geraten können, wenn Lothar nicht unvorsichtigerweise den Hafftitz las. Die beiden spukhaften Männer aus jener Zeit, der Goldschmied und der Münzjude, mußten nun einmal hinein in die ,Brautwahl', es half nichts, und nun erscheinen die beiden unglückseligen Revenants als fremdartige Prinzipe, die mit ihren Zauberkräften nur auf gezwungene Weise einwirken in die Handlung. Es ist gut, daß deine Erzählung nicht gedruckt wird, Lothar, sonst würdest du schlecht wegkommen vor dem strengen Richterstuhl der Kritik."

"Könnte", sprach Lothar, nach seiner skurrilen Art lächelnd, "könnte meine angenehme Geschichte von den seltsamen Drangsalen des Geheimen Kanzleisekretärs Tusmann nicht wenigstens einen Berliner Almanach zieren? Ich würde nicht unterlassen, die Lokalität noch lokaler zu machen, einige zelebre Namen hinzuzufügen und mir so den Beifall wenigstens des literarisch-ästhetischen Theaterpublikums erwerben [*]. Doch nun im Ernste gesprochen, Leute! Habt ihr nicht, während ich las, manchmal recht herzlich gelacht, und sollte das nicht die Strenge eurer Kritik beugen? — Vergleichst du, Ottmar, meine Geschichte mit einer bunten, willkürlich zusammengefügten Mosaik, so sei wenigstens nachgiebig genug, dem Dinge, das du wunderlich toll nennst, eine kaleidoskopische Natur einzuräumen, nach welcher die heterogensten Stoffe, willkürlich durcheinandergeschüttelt, doch zuletzt artige Figuren bilden. Wenigstens für artig sollt ihr nämlich manche Figur in meiner ,Brautwahl' erkennen, und an die Spitze dieser artigen Personen stelle ich den liebenswürdigen Baron Bensch, der durchaus der Familie des Münzjuden Lippold entsprossen sein muß. — Doch schon viel zuviel von meinem Machwerk, das euch nur als ein bizarrer Scherz für den Augenblick aufregen sollte. Übrigens gewahrt ihr, daß ich meinem Hange, das Märchenhafte in die Gegenwart, in das wirkliche Leben zu versetzen, wiederum treulich gefolgt bin." Diese Äußerung Lothars zeigt, was er schon damals im Sinne trug. Seine Erzählung "Die Brautwahl" erschien nämlich in der Tat abgedruckt in dem "Berliner Taschenbuch für das Jahr 1820", und es sind wirklich zelebre Namen aus der Berliner Kunstwelt genannt und manche Lokalitäten hinzugefügt. Wie gerecht aber der Tadel der Freunde, beweiset der Umstand, daß die Redaktion jenes Taschenbuchs den Verfasser dringend bat, sich künftig doch im Gebiet der Möglichkeit zu halten.D. H.

"Und diesen Hang", begann Theodor, "nehme ich gar sehr in Schutz. Sonst war es üblich, ja Regel, alles, was nur Märchen hieß, ins Morgenland zu verlegen und dabei die Märchen der Dschehezerade zum Muster zu nehmen. Die Sitten des Morgenlandes nur eben berührend, schuf man sich eine Welt, die haltlos in den Lüften schwebte und vor unsern Augen verschwamm. Deshalb gerieten aber jene Märchen meistens frostig, gleichgültig und vermochten nicht den innern Geist zu entzünden und die Phantasie aufzuregen. Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag. Befindet er sich dann, immer höher und höher hinaufgeklettert, in einem phantastischen Zauberreich, so wird er glauben, dies Reich gehöre auch noch in sein Leben hinein und sei eigentlich der wunderbar herrlichste Teil desselben. Es ist ihm der schöne prächtige Blumengarten vor dem Tore, in dem er zu seinem hohen Ergötzen lustwandeln kann, hat er sich nur entschlossen, die düstern Mauern der Stadt zu verlassen."

"Vergiß", sprach Ottmar, "vergiß aber nicht, Freund Theodor, daß mancher gar nicht die Leiter besteigen mag, weil das Klettern einem verständigen gesetzten Manne nicht ziemt, mancher schon auf der dritten Sprosse schwindlicht wird, mancher aber auch wohl die auf der breiten Straße des Lebens befestigte Leiter, bei der er täglich, ja stündlich vorübergeht, gar nicht bemerkt! — Was aber die Märchen der ,Tausendundeinen Nacht' betrifft, so ist es seltsam genug, daß die mehrsten Nachahmer gerade das übersehen, was ihnen Leben und Wahrheit gibt und was eben auf Lothars Prinzip hinausläuft. All die Schuster, Schneider, Lastträger, Derwische, Kaufleute etc., wie sie in jenen Märchen vorkommen, sind Gestalten, wie man sie täglich auf den Straßen sah, und da nun das eigentliche Leben nicht von Zeit und Sitte abhängt, sondern in der tieferen Bedingung ewig dasselbe bleibt und bleiben muß, so kommt es, daß wir glauben, jene Leute, denen sich mitten in der Alltäglichkeit

der wunderbarste Zauber erschloß, wandelten noch unter uns. So groß ist die Macht der Darstellung in jenem ewigen Buch."

Der Abend wurde kühler und kühler. Des kaum genesenen Theodors halber fanden es daher die Freunde geraten, in den Gartensaal zu treten und statt jedes starken nervenreizenden Getränks in aller Demut und Milde Tee zu genießen.

Als die Teemaschine auf dem Tische stand und wie gewöhnlich ihr Liedchen zischte und summte, sprach Ottmar: "Wahrhaftig, keinen bessern Anlaß hätte ich finden können, euch eine Erzählung vorzulesen, die ich schon vor langer Zeit aufschrieb und die gerade mit einem Tee beginnt. Zum voraus bemerke ich, daß sie in Cyprians Manier abgefaßt ist.

Ottmar las:


Der unheimliche Gast

Der Sturm brauste durch die Lüfte, den heranziehenden Winter verkündigend, und trieb die schwarzen Wolken vor sich her, die zischende, prasselnde Ströme von Regen und Hagel hinabschleuderten.

"Wir werden", sprach, als die Wanduhr sieben schlug, die Obristin von G. zu ihrer Tochter, Angelika geheißen, "wir werden heute allein bleiben, das böse Wetter verscheucht die Freunde. Ich wollte nur, daß mein Mann heimkehrte." In dem Augenblick trat der Rittmeister Moritz von R. hinein. Ihm folgte der junge Rechtsgelehrte, der durch seinen geistreichen, unerschöpflichen Humor den Zirkel belebte, der sich jeden Donnerstag im Hause des Obristen zu versammeln pflegte, und so war, wie Angelika bemerkte, ein einheimischer Kreis beisammen, der die größere Gesellschaft gern vermissen ließ. — Es war kalt im Saal, die Obristin ließ Feuer im Kamin anschüren und den Teetisch hinanrücken.

"Euch beiden Männern", sprach sie nun, "euch beiden Männern, die ihr mit wahrhaft ritterlichem Heroismus durch Sturm und Braus zu uns gekommen, kann ich wohl gar nicht zumuten, daß ihr vorliebnehmen sollt mit unserm nüchternen, weichlichen Tee, darum soll euch Mademoiselle Marguerite das gute nordische Getränk bereiten, das allem bösen Wetter widersteht."

Marguerite, Französin, der Sprache, anderer weiblicher Kunstfertigkeiten halber Gesellschafterin des Fräuleins Angelika, dem sie an Jahren kaum überlegen, erschien und tat, wie ihr geheißen.

Der Punsch dampfte, das Feuer knisterte im Kamin, man setzte sich enge beisammen an den kleinen Tisch. Da fröstelten und schauerten alle, und so munter und laut man erst, im Saal auf und nieder gehend, gesprochen, entstand jetzt eine augenblickliche Stille, in der die wunderlichen Stimmen, die der Sturm in den Rauchfängen aufgestört hatte, recht vernehmbar pfiff en und heulten.

"Es ist", fing Dagobert, der junge Rechtsgelehrte, endlich an, "es ist nun einmal ausgemacht, daß Herbst, Sturmwind, Kaminfeuer und Punsch ganz eigentlich zusammengehören, um die heimlichsten Schauer in unserm Innern aufzuregen." — "Die aber gar angenehm sind", fiel ihm Angelika in die Rede. "Ich meinesteils kenne keine hübschere Empfindung als das leise Frösteln, das durch alle Glieder fährt und in dem man, der Himmel weiß wie, mit offenen Augen einen jähen Blick in die seltsamste Traumwelt hineinwirft." "Ganz recht", fuhr Dagobert fort, "ganz recht. Dieses angenehme Frösteln überfiel uns eben jetzt alle, und bei dem Blick, den wir dabei unwillkürlich in die Traumwelt werfen mußten, wurden wir ein wenig stille. Wohl uns, daß das vorüber ist und daß wir so bald aus der Traumwelt zurückgekehrt sind in die schöne Wirklichkeit, die uns dies herrliche Getränk darbietet!" Damit stand er auf und leerte, sich anmutig gegen die Obristin verneigend, das vor ihm stehende Glas. "Ei", sprach nun Moritz, "ei, wenn du, so

wie das Fräulein, so wie ich selbst, alle Süßigkeit jener Schauer, jenes träumerischen Zustandes empfindest, warum nicht gerne darin verweilen?" — "Erlaube", nahm Dagobert das Wort, "erlaube, mein Freund, zu bemerken, daß hier von jener Träumerei, in welcher der Geist sich in wunderlichem wirrem Spiel selbst erlustigt, gar nicht die Rede ist. Die echten Sturmwind-, Kamin- und Punschschauer sind nichts anders als der erste Anfall jenes unbegreiflichen geheimnisvollen Zustandes, der tief in der menschlichen Natur begründet ist, gegen den der Geist sich vergebens auflehnt und vor dem man sich wohl hüten muß. Ich meine das Grauen - die Gespensterfurcht. Wir wissen alle, daß das unheimliche Volk der Spukgeister nur des Nachts, vorzüglich gern aber bei bösem Unwetter der dunklen Heimat entsteigt und seine irre Wanderung beginnt; billig ist's daher, daß wir zu solcher Zeit irgendeines grauenhaften Besuchs gewärtig sind." — "Sie scherzen", sprach die Obristin, "Sie scherzen, Dagobert, und auch das darf ich Ihnen nicht einräumen, daß das kindische Grauen, von dem wir manchmal befallen, ganz unbedingt in unserer Natur begründet sein sollte, vielmehr rechne ich es den Ammenmärchen und tollen Spukgeschichten zu, mit denen uns in der frühesten Jugend unsere Wärterinnen überschütteten."

"Nein", rief Dagobert lebhaft, "nein, gnädige Frau! Nie würden jene Geschichten, die uns als Kinder doch die allerliebsten waren, so tief und ewig in unserer Seele widerhallen, wenn nicht die widertönenden Saiten in unserm eignen Innern lägen. Nicht wegzuleugnen ist die geheimnisvolle Geisterwelt, die uns umgibt und die oft in seltsamen Klängen, ja in wunderbaren Visionen sich uns offenbart. Die Schauer der Furcht, des Entsetzens mögen nur herrühren von dem Drange des irdischen Organismus. Es ist das Weh des eingekerkerten Geistes, das sich darin ausspricht." — "Sie sind", sprach die Obristin, "ein Geisterseher wie alle Menschen von reger Phantasie. Gehe ich aber auch wirklich ein in Ihre Ideen, glaube ich wirklich, daß es einer

unbekannten Geisterwelt erlaubt sei, in vernehmbaren Tönen, ja in Visionen sich uns zu offenbaren, so sehe ich doch nicht ein, warum die Natur die Vasallen jenes geheimnisvollen Reichs so feindselig uns gegenübergestellt haben sollte, daß sie nur Grauen, zerstörendes Entsetzen über uns zu bringen vermögen." — "Vielleicht", fuhr Dagobert fort, "vielleicht liegt darin die Strafe der Mutter, deren Pflege, deren Zucht wir entartete Kinder entflohen. Ich meine, daß in jener goldnen Zeit, als unser Geschlecht noch im innigsten Einklange mit der ganzen Natur lebte, kein Grauen, kein Entsetzen uns verstörte, eben weil es in dem tiefsten Frieden, in der seligsten Harmonie alles Seins keinen Feind gab, der dergleichen über uns bringen konnte. Ich sprach von seltsamen Geisterstimmen, aber wie kommt es denn, daß alle Naturlaute, deren Ursprung wir genau anzugeben wissen, uns wie der schneidendste Jammer tönen und unsere Brust mit dem tiefsten Entsetzen erfüllen? — Der merkwürdigste jener Naturtöne ist die Luftmusik oder sogenannte Teufelsstimme auf Ceylon und in den benachbarten Ländern, deren Schubert in seinen ,Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft' gedenkt. Diese Naturstimme läßt sich in stillen heitern Nächten, den Tönen einer tiefklagenden Menschenstimme ähnlich, bald wie aus weiter - weiter Ferne daherschwebend, bald ganz in der Nähe schallend, vernehmen. Sie äußert eine solche tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt, daß die ruhigsten, verständigsten Beobachter sich eben des tiefsten Entsetzens nicht erwehren können." — "So ist es", unterbrach hier Moritz den Freund, "so ist es in der Tat. Nie war ich auf Ceylon noch in den benachbarten Ländern, und doch hörte ich jenen entsetzlichen Naturlaut, und nicht ich allein, jeder, der ihn vernahm, fühlte die Wirkung, wie sie Dagobert beschrieben." — "So wirst du", erwiderte Dagobert, "mich recht erfreuen und am besten die Frau Obristin überzeugen, wenn du erzählst, wie sich alles begeben."

"Sie wissen", begann Moritz, "daß ich in Spanien unter

Wellington wider die Franzosen focht. Mit einer Abteilung spanischer und englischer Kavallerie biwakierte ich vor der Schlacht bei Viktoria zur Nachtzeit auf offenem Felde. Ich war, von dem Marsch am gestrigen Tage bis zum Tode ermüdet, fest eingeschlafen, da weckte mich ein schneidender Jammerlaut. Ich fuhr auf, ich glaubte nichts anders, als daß sich dicht neben mir ein Verwundeter gelagert, dessen Todesseufzer ich vernommen, doch schnarchten die Kameraden um mich her, und nichts ließ sich weiter hören. Die ersten Strahlen des Frührots brachen durch die dicke Finsternis, ich stand auf und schritt, über die Schläfer wegsteigend, weiter vor, um vielleicht den Verwundeten oder Sterbenden zu finden. Es war eine stille Nacht, nur leise, leise fing sich der Morgenwind an zu regen und das Laub zu schütteln. Da ging zum zweitenmal ein langer Klagelaut durch die Lüfte und verhallte dumpf in tiefer Ferne. Es war, als schwangen sich die Geister der Erschlagenen von den Schlachtfeldern empor und riefen ihr entsetzliches Weh durch des Himmels weiten Raum. Meine Brust erbebte, mich erfaßte ein tiefes namenloses Grauen. — Was war aller Jammer, den ich jemals aus menschlicher Kehle ertönen gehört, gegen diesen herzzerschneidenden Laut! Die Kameraden rappelten sich nun auf aus dem Schlafe. Zum drittenmal erfüllte stärker und gräßlicher der Jammerlaut die Lüfte. Wir erstarrten im tiefsten Entsetzen, selbst die Pferde wurden unruhig und schnaubten und stampften. Mehrere von den Spaniern sanken auf die Knie nieder und beteten laut. Ein englischer Offizier versicherte, daß er dies Phänomen, das sich in der Atmosphäre erzeuge und elektrischen Ursprungs sei, schon öfters in südlichen Gegenden bemerkt habe und daß wahrscheinlich die Witterung sich ändern werde. Die Spanier, zum Glauben an das Wunderbare geneigt, hörten die gewaltigen Geisterstimmen überirdischer Wesen, die das Ungeheure verkündeten, das sich nun begeben werde. Sie fanden ihren Glauben bestätigt, als folgenden Tages die Schlacht mit all ihren Schrecken daherdonnerte."

"Dürfen wir", sprach Dagobert, "dürfen wir denn nach Ceylon gehen oder nach Spanien, um die wunderbaren Klagetöne der Natur zu vernehmen? Kann uns das dumpfe Geheul des Sturmwinds, das Geprassel des herabstürzenden Hagels, das Ächzen und Krächzen der Windfahnen nicht ebensogut wie jener Ton mit tiefem Grausen erfüllen? — Ei! gönnen wir doch nur ein geneigtes Ohr der tollen Musik, die hundert abscheuliche Stimmen hier im Kamin aborgeln, oder horchen wir doch nur was weniges auf das gespenstische Liedlein, das eben jetzt die Teemaschine zu singen beginnt!"

"0 herrlich!" rief die Obristin, "o überaus herrlich! — Sogar in die Teemaschine bannt unser Dagobert Gespenster, die sich uns in grausigen Klagelauten offenbaren sollen!" — "Ganz unrecht", nahm Angelika das Wort, "ganz unrecht, liebe Mutter, hat unser Freund doch nicht. Das wunderliche Pfeifen und Knattern und Zischen im Kamin könnte mir wirklich Schauer erregen, und das Liedchen, was die Teemaschine so tiefklagend absingt, ist mir so unheimlich, daß ich nur gleich die Lampe auslöschen will, damit es schnell ende."

Angelika stand auf, ihr entfiel das Tuch, Moritz bückte sich schnell darnach und überreichte es dem Fräulein. Sie ließ den seelenvollen Blick ihrer Himmelsaugen auf ihm ruhen, er ergriff ihre Hand und drückte sie mit Inbrunst an die Lippen.

In demselben Augenblicke zitterte Marguerite, wie berührt von einem elektrischen Schlag, heftig zusammen und ließ das Glas Punsch, das sie soeben eingeschenkt und Dagobert darreichen wollte, auf den Boden fallen, daß es in tausend Stücke zerklirrte. Laut schluchzend warf sie sich der Obristin zu Füßen, nannte sich ein dummes ungeschicktes Ding und bat sie, zu vergönnen, daß sie sich in ihr Zimmer entferne. Alles, was eben jetzt erzählt worden, habe ihr, unerachtet sie es keinesweges ganz verstanden, innerlichen Schauer erregt; ihre Angst hier am Kamin sei unbeschreiblich,

sie fühle sich krank, sie wolle sich ins Bett legen. —Und dabei küßte sie der Obristin die Hände und benetzte sie mit den heißen Tränen, die ihr aus den Augen stürzten.

Dagobert fühlte das Peinliche des ganzen Auftritts und die Notwendigkeit, der Sache einen andern Schwung zu geben. Auch er stürzte plötzlich der Obristin zu Füßen und flehte mit der weinerlichsten Stimme, die ihm nur zu Gebote stand, um Gnade für die Verbrecherin, die sich unterfangen, das köstlichste Getränk zu verschütten, das je eines Rechtsgelehrten Zunge genetzt und sein frostiges Herz erwärmt. Was den Punschfleck auf dem gebohnten Fußboden betreffe, so schwöre er morgenden Tages sich Wachsbürsten unter die Füße zu schrauben und in den göttlichsten Touren, die jemals in eines Hoftanzmeisters Kopf und Beine gekommen, eine ganze Stunde hindurch den Saal zu durchrutschen.

Die Obristin, die erst sehr finster Marguerite angeblickt, erheiterte sich bei Dagoberts klugem Beginnen. Sie reichte lachend beiden die Hände und sprach: "Steht auf und trocknet eure Tränen, ihr habt Gnade gefunden vor meinem strengen Richterstuhl! — Du, Marguerite, hast es allein deinem geschickten Anwalt und seiner heroischen Aufopferung rücksichts des Punschflecks zu verdanken, daß ich dein ungeheures Verbrechen nicht schwer ahnde. Aber ganz erlassen kann ich dir die Strafe nicht. Ich befehle daher, daß du, ohne an Kränkelei zu denken, fein im Saal bleibest, unsern Gästen fleißiger als bisher Punsch einschenkest, vor allen Dingen aber deinem Retter zum Zeichen der innigsten Dankbarkeit einen Kuß gibst!"

"So bleibt die Tugend nicht unbelohnt", rief Dagobert mit komischem Pathos, indem er Margueritens Hand ergriff. "Glauben Sie", sprach er dann, "glauben Sie nur, Holde, daß es noch auf der Erde heroische Juriskonsulten gibt, die sich rücksichtslos aufopfern für Unschuld und Recht! — Doch! — geben wir nun unserer strengen Richterin nach - vollziehen wir ihr Urteil, von dem keine Appellation möglich."

Damit drückte er einen flüchtigen Kuß auf Margueritens Lippen und führte sie sehr feierlich auf den Platz zurück, den sie vorher eingenommen. Marguerite, über und über rot, lachte laut auf, indem ihr noch die hellen Tränen in den Augen standen. "Alberne Törin", rief sie auf französisch, "alberne Törin, die ich bin! — muß ich denn nicht alles tun, was die Frau Obristin befiehlt? Ich werde ruhig sein, ich werde Punsch einschenken und von Gespenstern sprechen hören, ohne mich zu fürchten." —"Bravo", nahm Dagobert das Wort, "bravo, englisches Kind, mein Heroismus hat dich begeistert, und mich die Süßigkeit deiner holden Lippen! — Meine Phantasie ist neu beschwingt, und ich fühle mich aufgelegt, das Schauerlichste aus dem regno di pianto aufzutischen zu unserer Ergötzlichkeit." — "Ich dächte", sprach die Obristin, "ich dächte, wir schwiegen von dem fatalen unheimlichen Zeuge." — "Bitte", fiel ihr Angelika ins Wort, "bitte, liebe Mutter, lassen Sie unsern Freund Dagobert gewähren. Gestehen will ich's nur, daß ich recht kindisch bin, daß ich nichts lieber hören mag als hübsche Spukgeschichten, die so recht durch alle Glieder frösteln." —"Oh, wie mich das freut", rief Dagobert, "oh, wie mich das freut! Nichts ist liebenswürdiger bei jungen Mädchen, als wenn sie recht graulich sind, und ich möchte um alles in der Welt keine Frau heiraten, die sich nicht vor Gespenstern recht tüchtig ängstigt." — "Du behauptetest", sprach Moritz, "du behauptetest, lieber Freund Dagobert, vorhin, daß man sich vor jedem träumerischen Schauer, als dem ersten Anfall der Gespensterfurcht, wohl hüten müsse, und bist uns die nähere Erklärung, weshalb? noch schuldig." — "Es bleibt", erwiderte Dagobert, "sind nur die Umstände darnach, niemals bei jenen angenehmen träumerischen Schauern, die der erste Anfall herbeiführt. Ihnen folgt bald Todesangst, haarsträubendes Entsetzen, und so scheint jenes angenehme Gefühl nur die Verlockung zu sein, mit der uns die unheimliche Geisterwelt bestrickt. Wir sprachen erst von uns erklärlichen Naturtönen und ihrer gräßlichen Wirkung auf unsere Sinne. Zuweilen vernehmen wir aber seltsamere Laute, deren Ursache uns durchaus unerforschlich ist und die in uns ein tiefes Grauen erregen. Alle beschwichtigende Gedanken, daß irgendein verstecktes Tier, die Zugluft oder sonst etwas jenen Ton auf ganz natürliche Art hervorbringen könne, hilft durchaus nichts. Jeder hat es wohl erfahren, daß in der Nacht das kleinste Geräusch, was in abgemessenen Pausen wiederkehrt, allen Schlaf verjagt und die innerliche Angst steigert und steigert bis zur Verstörtheit aller Sinne. — Vor einiger Zeit stieg ich auf der Reise in einem Gasthof ab, dessen Wirt mir ein hohes, freundliches Zimmer einräumte. Mitten in der Nacht erwachte ich plötzlich aus dem Schlafe. Der Mond warf seine hellen Strahlen durch die unverhüllten Fenster, so daß ich alle Möbeln, auch den kleinsten Gegenstand im Zimmer, deutlich erkennen konnte. Da gab es einen Ton, wie wenn ein Regentropfen hinabfiele in ein metallnes Becken. Ich horchte auf! — In abgemessenen Pausen kehrte der Ton wieder. Mein Hund, der sich unter dem Bette gelagert, kroch hervor und schnupperte winselnd und ächzend im Zimmer umher und kratzte bald an den Wänden, bald an dem Boden. Ich fühlte, wie Eisströme mich durchglitten, wie kalte Schweißtropfen auf meiner Stirne hervortröpfelten. Doch, mich mit Gewalt ermannend, rief ich erst laut, sprang dann aus dem Bette und schritt vor bis in die Mitte des Zimmers. Da fiel der Tropfe dicht vor mir, ja wie durch mein Inneres nieder in das Metall, das in gellendem Laut erdröhnte. Übermannt von dem tiefsten Entsetzen, taumelte ich nach dem Bett und barg mich halb ohnmächtig unter der Decke. Da war es, als wenn der immer noch in gemessenen Pausen zurückkehrende Ton, leiser und immer leiser hallend, in den Lüften verschwebe. Ich fiel in tiefen Schlaf, aus dem ich erst am hellen Morgen erwachte, der Hund hatte sich dicht an mich geschmiegt und sprang erst, als ich mich aufrichtete, herab vom Bette, lustig blaffend, als sei auch ihm jetzt erst alle Angst entnommen. Mir kam der Gedanke, daß vielleicht mir nur die ganz natürliche Ursache jenes wunderbaren Klangs verborgen geblieben sein könne, und ich erzählte dem Wirt mein wichtiges Abenteuer, dessen Grausen ich in allen Gliedern fühlte. Er werde, schloß ich, gewiß mir alles erklären können und habe unrecht getan, mich nicht darauf vorzubereiten. Der Wirt erblaßte und bat mich um des Himmels willen, doch niemanden mitzuteilen, was sich in jenem Zimmer begeben, da er sonst Gefahr laufe, seine Nahrung zu verlieren. Mehrere Reisende, erzählte er, hätten schon vormals über jenen Ton, den sie in mondhellen Nächten vernommen, geklagt. Er habe alles auf das genaueste untersucht, ja selbst die Dielen in diesem Zimmer und den anstoßenden Zimmern aufreißen lassen, sowie in der Nachbarschaft emsig nachgeforscht, ohne auch im mindesten der Ursache jenes grauenvollen Klangs auf die Spur kommen zu können. Schon seit beinahe Jahresfrist sei es still geblieben, und er habe geglaubt, von dem bösen Spuk befreit zu sein, der nun, wie er zu seinem großen Schrecken vernehmen müsse, sein unheimliches Wesen aufs neue treibe. Unter keiner Bedingung werde er mehr irgendeinen Gast in jenem verrufenen Zimmer beherbergen!"

"Ach", sprach Angelika, indem sie sich wie im Fieberfrost schüttelte, "das ist schauerlich, das ist sehr schauerlich, nein, ich wäre gestorben, wenn mir dergleichen begegnet. Oft ist es mir aber schon geschehen, daß ich, aus dem Schlaf plötzlich erwachend, eine unbeschreibliche innere Angst empfand, als habe ich irgend etwas Entsetzliches erfahren. Und doch hatte ich auch nicht die leiseste Ahnung davon, ja nicht einmal die Erinnerung irgendeines fürchterlichen Traumes, vielmehr war es mir, als erwache ich aus einem völlig bewußtlosen todähnlichen Zustande."

"Diese Erscheinung kenne ich wohl", fuhr Dagobert fort. "Vielleicht deutet gerade das auf die Macht fremder psychischer Einflüsse, denen wir uns willkürlos hingeben müssen. So wie die Somnambule sich durchaus nicht ihres somnambulen Zustandes erinnert und dessen, was sich in demselben mit ihr begeben, so kann vielleicht jene grauenhafte

Angst, deren Ursache uns verborgen bleibt, der Nachhall irgendeines gewaltigen Zaubers sein, der uns uns selbst entrückte."

"Ich erinnere mich", sprach Angelika, "noch sehr lebhaft, wie ich, es mögen wohl vier Jahre her sein, in der Nacht meines vierzehnten Geburtstages in einem solchen Zustande erwachte, dessen Grauen mich einige Tage hindurch lähmte. Vergebens rang ich aber darnach, mich auf den Traum zu besinnen, der mich so entsetzt hatte. Deutlich bin ich mir bewußt, daß ich eben auch im Traum jenen schrecklichen Traum diesem, jenem, vor allen aber meiner guten Mutter öfters erzählt habe, aber nur, daß ich jenen Traum erzählt hatte, ohne mich auf seinen Inhalt besinnen zu können, war mir beim Erwachen erinnerlich." — "Dieses wunderbare psychische Phänomen", erwiderte Dagobert, "hängt genau mit dem magnetischen Prinzip zusammen." — "Immer ärger", rief die Obristin, "immer ärger wird es mit unserm Gespräch, wir verlieren uns in Dinge, an die nur zu denken mir unerträglich ist. Ich fordere Sie auf, Moritz, sogleich etwas recht Lustiges, Tolles zu erzählen, damit es nur mit den unheimlichen Spukgeschichten einmal ende."

"Wie gern", sprach Moritz, "wie gern will ich mich Ihrem Befehl, Frau Obristin, fügen, wenn es mir erlaubt ist, nur noch einer einzigen schauerlichen Begebenheit zu gedenken, die mir schon lange auf den Lippen schwebt. Sie erfüllt in diesem Augenblick mein Inneres so ganz und gar, daß es ein vergebliches Mühen sein würde, von andern heitern Dingen zu sprechen."

"So entladen Sie sich denn", erwiderte die Obristin, "alles Schauerlichen, von dem Sie nun einmal befangen. Mein Mann muß bald heimkehren, und dann will ich in der Tat recht gern irgendein Gefecht noch einmal mit euch durchkämpfen oder mit verliebtem Enthusiasmus von schönen Pferden sprechen hören, um nur aus der Spannung zu kommen, in die mich das spukhafte Zeug versetzt, wie ich nicht leugnen mag."

"In dem letzten Feldzuge", begann Moritz, "machte ich die Bekanntschaft eines russischen Obristlieutenants, Livländers von Geburt, kaum dreißig Jahre alt, die, da der Zufall es wollte, daß wir längere Zeit hindurch vereint dem Feinde gegenüberstanden, sehr bald zur engsten Freundschaft wurde. Bogislav, so war der Obristlieutenant mit Vornamen geheißen, hatte alle Eigenschaften, um sich überall die höchste Achtung, die innigste Liebe zu erwerben. Er war von hoher, edler Gestalt, geistreichem, männlich schönem Antlitz, seltner Ausbildung, die Gutmütigkeit selbst und dabei tapfer wie ein Löwe. Er konnte vorzüglich bei der Flasche sehr heiter sein, aber oft übermannte ihn plötzlich der Gedanke an irgend etwas Entsetzliches, das ihm begegnet sein mußte und das die Spuren des tiefsten Grams auf seinem Gesicht zurückgelassen hatte. Er wurde dann still, verließ die Gesellschaft und streifte einsam umher. Im Felde pflegte er nachts rastlos von Vorposten zu Vorposten zu reiten, nur nach der erschöpfendsten Anstrengung überließ er sich dem Schlaf. Kam nun noch hinzu, daß er oft ohne dringende Not sich der drohendsten Gefahr aussetzte und den Tod in der Schlacht zu suchen schien, der ihn floh, da im härtsten Handgemenge ihn keine Kugel, kein Schwertstreich traf, so war es wohl gewiß, daß irgendein unersetzlicher Verlust, ja wohl gar eine rasche Tat sein Leben verstört hatte.

Wir nahmen auf französischem Gebiet ein befestigtes Schloß mit Sturm und harrten dort ein paar Tage, um den erschöpften Truppen Erholung zu gönnen. Die Zimmer, in denen sich Bogislav einquartiert hatte, lagen nur ein paar Schritte von dem meinigen entfernt. In der Nacht weckte mich ein leises Pochen an meine Stubentüre. Ich forschte, man rief meinen Namen, ich erkannte Bogislavs Stimme, stand auf und öffnete. Da stand Bogislav vor mir im Nachtgewande, den Leuchter mit der brennenden Kerze in der Hand, entstellt - bleich wie der Tod - bebend an allen Gliedern - keines Wortes mächtig! — ,Um des Himmels

willen - was ist geschehen - was ist dir, mein teuerster Bogislav!' So rief ich, führte den Ohnmächtigen zum Lehnstuhl, schenkte ihm zwei - drei Gläser von dem starken Wein ein, der gerade auf dem Tische stand, hielt seine Hand in der meinigen fest, sprach tröstende Worte, wie ich nur konnte, ohne die Ursache seines entsetzlichen Zustandes zu wissen.

Bogislav erholte sich nach und nach, seufzte tief auf und begann mit leiser, hohler Stimme: ,Nein! —Nein! —Ich werde wahnsinnig, faßt mich nicht der Tod, dem ich mich sehnend in die Arme werfe! — Dir, mein treuer Moritz, vertraue ich mein entsetzliches Geheimnis. — Ich sagte dir schon, daß ich mich vor mehreren Jahren in Neapel befand. Dort sah ich die Tochter eines der angesehensten Häuser und kam in glühende Liebe. Das Engelsbild gab sich mir ganz hin, und von den Eltern begünstigt, wurde der Bund geschlossen, von dem ich alle Seligkeit des Himmels hoffte. Schon war der Hochzeittag bestimmt, da erschien ein sizilianischer Graf und drängte sich zwischen uns mit eifrigen Bewerbungen um meine Braut. Ich stellte ihn zur Rede, er verhöhnte mich. Wir schlugen uns, ich stieß ihm den Degen durch den Leib. Nun eilte ich zu meiner Braut. Ich fand sie in Tränen gebadet, sie nannte mich den verruchten Mörder ihres Geliebten, stieß mich von sich mit allen Zeichen des Abscheus, schrie auf in trostlosem Jammer, sank ohnmächtig nieder, wie vom giftigen Skorpion berührt, als ich ihre Hand faßte! — Wer schildert mein Entsetzen! Den Eltern war die Sinnesänderung ihrer Tochter ganz unerklärlich. Nie hatte sie den Bewerbungen des Grafen Gehör gegeben. Der Vater versteckte mich in seinem Palast und sorgte mit großmütigem Eifer dafür, daß ich unentdeckt Neapel verlassen konnte. Von allen Furien gepeitscht, floh ich in einem Strich fort bis nach Petersburg! — Nicht die Untreue meiner Geliebten, nein! — ein furchtbares Geheimnis ist es, das mein Leben verstört! — Seit jenem unglücklichen Tage in Neapel verfolgt mich das Grauen, das Entsetzen der Hölle! — Oft bei Tage,

doch öfter zur Nachtzeit vernehme ich bald aus der Ferne, bald dicht neben mir ein tiefes Todesächzen. Es ist die Stimme des getöteten Grafen, die mein Innerstes mit dem tiefsten Grausen durchbebt. Durch den stärksten Kanonendonner, durch das prasselnde Musketenfeuer der Bataillone vernehme ich dicht vor meinen Ohren den gräßlichen Jammerton, und alle Wut, alle Verzweiflung des Wahnsinns erwacht in meinem Busen! — Eben in dieser Nacht' — Bogislav hielt inne, und mich wie ihn faßte das Entsetzen, denn ein lang ausgehaltener herzzerschneidender Jammerton ließ sich, wie vom Gange herkommend, vernehmen. Dann war es, als raffe sich jemand, ächzend und stöhnend, mühsam vom Boden empor und nahe sich schweren, unsichern Trittes. Da erhob sich Bogislav plötzlich, von aller Kraft beseelt, vom Lehnstuhl und rief, wilde Glut in den Augen, mit donnernder Stimme: ,Erscheine mir, Verruchter! wenn du es vermagst - ich nehm es auf mit dir und mit allen Geistern der Hölle, die dir zu Gebote stehn.' — Nun geschah ein gewaltiger Schlag." —

In dem Augenblick sprang die Türe des Saals auf mit dröhnendem Gerassel.



— Sowie Ottmar diese Worte las, sprang auch die Türe des Gartensaals wirklich dröhnend auf, und die Freunde erblickten eine dunkle verhüllte Gestalt, die sich langsam mit unhörbaren Geisterschritten nahte. Alle starrten etwas entsetzt hin, jedem stockte der Atem.

"Ist es recht", schrie endlich Lothar, als der volle Schein der Lichter der Gestalt ins Gesicht fiel und den Freund Cyprianus erkennen ließ, "ist es recht, ehrbare Leute foppen zu wollen mit schnöder Geisterspielerei? — Doch ich weiß es, Cyprian, du begnügst dich nicht, mit Geistern und allerlei seltsamen Visionen und tollem Spuk zu hantieren, du möchtest selbst gern manchmal ein Spuk, ein Gespenst sein. Aber sage, wo kamst du so plötzlich her, wie hast du uns hier

auffinden können?" —"Ja! das sage, das sage!" wiederholten Ottmar und Lothar.

"Ich komme", begann Cyprian, "heute von meiner Reise zurück, ich laufe zu Theodor, zu Lothar, zu Ottmar, keinen treffe ich an! In vollem Unmut renne ich heraus ins Freie, und der Zufall will, daß ich, nach der Stadt zurückkehrend, den Weg einschlage, der bei dem Gartenhause dicht vorbeiführt. Es ist mir, als höre ich eine wohlbekannte Stimme, ich gucke durchs Fenster und erblicke meine würdigen Serapionsbrüder und höre meinen Ottmar den ,Unheimlichen Gast' vorlesen."

"Wie", unterbrach Ottmar den Freund, "wie, du kennst schon meine Geschichte?"

"Du vergissest", fuhr Cyprian fort, "daß du die Ingredienzien zu dieser Erzählung von mir selbst empfingest. Ich bin es, der dich mit der Teufelsstimme, mit der Luftmusik bekannt machte, der dir sogar die Idee der Erscheinung des unheimlichen Gastes gab, und ich bin begierig, wie du mein Thema ausgeführt hast. Übrigens werdet ihr finden, daß, als Ottmar die Türe des Saals aufspringen ließ, ich notwendig ein Gleiches tun und euch erscheinen mußte."

"Doch", nahm Theodor das Wort, "doch gewiß nicht als unheimlicher Gast, sondern als treuer Serapionsbrüder, der, unerachtet er mich, wie ich gern gestehen will, nicht wenig erschreckt hat, mir tausendmal willkommen sein soll."

"Und wenn", sprach Lothar, "er durchaus heute ein Geist sein will, so soll er wenigstens nicht zu den unruhigen Geistern gehören, sondern sich niederlassen, Tee trinkend, ohne zu sehr mit der Tasse zu klappern, dem Freunde Ottmar zuhorchen, auf dessen Geschichte ich um so begieriger bin, da er diesmal ein ihm gegebenes fremdes Thema bearbeitet hat."

Auf Theodor, der von seiner Krankheit her noch sehr reizbar, hatte der Scherz des Freundes in der Tat mehr gewirkt als dienlich. Er war totenbleich, und man gewahrte, daß er sich einige Gewalt antun mußte, um heiter zu scheinen

Cyprian bemerkte dies und war nun über das, was er begonnen, nicht wenig betreten. "In der Tat", sprach er, "ich dachte nicht daran, daß mein teurer Freund kaum von einer bösen Krankheit erstanden. Ich handelte gegen meinen eignen Grundsatz, welcher total verbietet, dergleichen Scherz zu treiben, da es sich oft schon begeben, daß der fürchterliche Ernst der Geisterwelt eingriff in diesen Scherz und das Entsetzliche gebar. Ich erinnere mich zum Beispiel -"

"Halt, halt", rief Lothar, "ich leide durchaus keine längere Unterbrechung. Cyprian steht im Begriff, uns nach seiner gewöhnlichen Weise zu entführen in seinen einheimischen schwarzen Zauberwald. Ich bitte dich, Ottmar, fahre fort."

Ottmar las weiter:



Hinein trat ein Mann, von Kopf bis zu Fuß schwarz gekleidet, bleichen Antlitzes, ernsten, festen Blickes. Er nahte sich mit dem edelsten Anstande der vornehmen Welt der Obristin und bat in gewählten Ausdrücken um Verzeihung, daß er, früher geladen, so spät komme, ein Besuch, den er nicht loswerden können, habe ihn zu seinem Verdruß aufgehalten. — Die Obristin, nicht fähig, sich von dem jähen Schreck zu erholen, stammelte einige unvernehmliche Worte, die ungefähr andeuten sollten, der Fremde möge Platz nehmen. Er rückte einen Stuhl dicht neben der Obristin, Angelika gegenüber, hin, setzte sich, ließ seinen Blick den Kreis durchlaufen. Keiner vermochte, wie gelähmt, ein Wort hervorzubringen. Da begann der Fremde: doppelt müsse er sich entschuldigen, einmal, daß er in so später Stunde, und dann, daß er mit so vielem Ungestüm eingetreten sei. Nicht seine Schuld sei aber auch das letzte, da nicht er, sondern der Diener, den er auf dem Vorsaal getroffen, die Türe so heftig aufgestoßen. Die Obristin, mit Mühe das unheimliche Gefühl, von dem sie ergriffen, bekämpfend, fragte, wen sie bei sich zu sehen das Vergnügen habe. Der Fremde schien die Frage zu überhören, auf Margueriten achtend, die, in ihrem ganzen Wesen plötzlich verändert, laut auflachte, dicht an den Fremden hinantänzelte und, immerfort kichernd, auf französisch erzählte, daß man sich eben in den schönsten Spukgeschichten erlustigt und daß nach dem Willen des Herrn Rittmeisters eben ein böses Gespenst erscheinen sollen, als er, der Fremde, hineingetreten. Die Obristin, das Unschickliche fühlend, den Fremden, der sich als eingeladen angekündigt, nach Stand und Namen zu fragen, mehr aber noch von seiner Gegenwart beängstigt, wiederholte nicht ihre Frage, verwies Margueriten nicht ein Betragen, das beinahe den Anstand verletzte. Der Fremde machte Margueritens Geschwätz ein Ende, indem er, sich zur Obristin, dann zu den übrigen wendend, von irgendeiner gleichgültigen Begebenheit zu sprechen begann, die sich gerade am Orte zugetragen. Die Obristin antwortete, Dagobert versuchte sich ins Gespräch zu mischen, das endlich in einzelnen abgebrochenen Reden mühsam fortschlich. Und dazwischen trillerte Marguerite einzelne Couplets französischer Chansons und figurierte, als besönne sie sich auf die neuesten Touren einer Gavotte, während die andern sich nicht zu regen vermochten. Jeder fühlte seine Brust beengt, jeden drückte wie eine Gewitterschwüle die Gegenwart des Fremden, jedem erstarb das Wort auf den Lippen, wenn er in das todbleiche Antlitz des unheimlichen Gastes schaute. Und doch hatte dieser in Ton und Gebärde durchaus nichts Ungewöhnliches, vielmehr zeigte sein ganzes Betragen den vielerfahrnen gebildeten Weltmann. Der fremde scharfe Akzent, mit dem er deutsch und französisch sprach, ließ mit Recht schließen, daß er weder ein Deutscher noch ein Franzose sein konnte.

Auf atmete die Obristin, als endlich Reuter vor dem Hause hielten und die Stimme des Obristen sich vernehmen ließ.

Bald darauf trat der Obrist in den Saal. Sowie er den Fremden erblickte, eilte er auf ihn zu und rief: "Herzlich willkommen in meinem Hause, lieber Graf! —Auf das herzlichste

willkommen." Dann sich zur Obristin wendend: "Graf S—i, ein teurer, treuer Freund, den ich mir im tiefen Norden erwarb und im Süden wiederfand."

Die Obristin, der nun erst alle Bangigkeit entnommen, versicherte dem Grafen mit anmutigem Lächeln, nur der Schuld ihres Mannes, der unterlassen, sie auf seinen Besuch vorzubereiten, habe er es beizumessen, wenn er vielleicht etwas seltsam und gar nicht auf die Weise, wie es dem vertrauten Freunde gebühre, empfangen worden. Dann erzählte sie dem Obristen, wie den ganzen Abend über von nichts anderm als von Spukereien und unheimlichem Wesen die Rede gewesen sei, wie Moritz eine schauerliche Geschichte erzählt, die ihm und einem seiner Freunde begegnet, wie eben in dem Augenblick, als Moritz gesprochen: "Nun geschah ein entsetzlicher Schlag", die Türe des Saales aufgesprungen und der Graf eingetreten sei.

"Allerliebst!" rief der Obrist laut lachend, "allerliebst, man hat Sie, lieber Graf, für ein Gespenst gehalten! In der Tat, mir scheint, als wenn meine Angelika noch einige Spuren des Schrecks im Gesicht trüge, als wenn der Rittmeister sich noch nicht ganz von den Schauern seiner Geschichte erholen könnte, ja als wenn sogar Dagobert seine Munterkeit verloren. Sagen Sie, Graf! ist es nicht arg, Sie für einen Spuk, für einen schnöden Revenant zu nehmen?"

"Sollte ich", erwiderte der Graf mit seltsamem Blick, "sollte ich vielleicht etwas Gespenstisches an mir tragen? — Man spricht ja jetzt viel von Menschen, die auf andere vermöge eines besondern psychischen Zaubers einzuwirken vermögen, daß ihnen ganz unheimlich zumute werden soll. Vielleicht bin ich gar solchen Zaubers mächtig."

"Sie scherzen, lieber Graf", nahm die Obristin das Wort, "aber wahr ist es, daß man jetzt wieder Jagd macht auf die wunderlichsten Geheimnisse."

"So wie", erwiderte der Graf, "so wie man überhaupt wieder an Ammenmärchen und wunderlichen Einbildungen kränkelt. Ein jeder hüte sich vor dieser sonderbaren Epidemie.

— Doch ich unterbrach den Herrn Rittmeister bei dem spannendsten Punkt seiner Erzählung und bitte ihn, da niemand von seinen Zuhörern den Schluß — die Auflösung gern missen würde, fortzufahren."

Dem Rittmeister war der fremde Graf nicht nur unheimlich, sondern recht im Grunde der Seele zuwider. Er fand in seinen Worten, zumal da er recht fatal dabei lächelte, etwas Verhöhnendes und erwiderte mit flammendem Blick und scharfem Ton, daß er befürchten müsse, durch sein Ammenmärchen die Heiterkeit, die der Graf in den düster gestimmten Zirkel gebracht, zu verstören, er wolle daher lieber schweigen.

Der Graf schien nicht sonderlich des Rittmeisters Worte zu beachten. Mit der goldenen Dose, die er zur Hand genommen, spielend, wandte er sich an den Obristen mit der Frage, ob die aufgeweckte Dame nicht eine geborne Französin sei.

Er meinte Margueriten, die, immerfort trällernd, im Saal herumhüpfte. Der Obrist trat an sie heran und fragte halblaut, ob sie wahnsinnig geworden. Marguerite schlich erschrocken an den Teetisch und setzte sich still hin.

Der Graf nahm nun das Wort und erzählte auf anziehende Weise von diesem, jenem, was sich in kurzer Zeit begeben. — Dagobert vermochte kaum ein Wort herauszubringen. Moritz stand da, über und über rot, mit blitzenden Augen, wie das Zeichen zum Angriff erwartend. Angelika schien ganz in die weibliche Arbeit vertieft, die sie begonnen, sie schlug kein Auge auf! — Man schied in vollem Mißmut auseinander.

"Du bist ein glücklicher Mensch", rief Dagobert, als er sich mit Moritz allein befand, "zweifle nicht länger, daß Angelika dich innig liebt. Tief habe ich es heute in ihren Blicken erschaut, daß sie ganz und gar in Liebe ist zu dir. Aber der Teufel ist immer geschäftig und säet sein giftiges Unkraut unter den schön blühenden Weizen. Marguerite ist entbrannt in toller Leidenschaft. Sie liebt dich mit

allem wütenden Schmerz, wie er nur ein brünstiges Gemüt zerreißen kann. Ihr heutiges wahnsinniges Beginnen war der nicht niederzukämpfende Ausbruch der rasendsten Eifersucht. Als Angelika das Tuch fallen ließ, als du es ihr reichtest, als du ihre Hand küßtest, kamen die Furien der Hölle über die arme Marguerite. Und daran bist du schuld. Du bemühtest dich sonst mit aller möglichen Galanterie um die bildhübsche Französin. Ich weiß, daß du immer nur Angelika meintest, daß alle Huldigungen, die du an Margueriten verschwendetest, nur ihr galten, aber die falsch gerichteten Blitze trafen und zündeten. — Nun ist das Unheil da, und ich weiß in der Tat nicht, wie das Ding enden soll ohne schrecklichen Tumult und gräßlichen Wirrwarr!"

"Geh doch nur", erwiderte der Rittmeister, "geh doch nur mit Margueriten. Liebt mich Angelika wirklich - ach! woran ich wohl noch zweifle -, so bin ich glücklich und selig und frage nichts nach allen Margueriten in der Welt mitsamt ihrer Tollheit! Aber eine andere Furcht ist in mein Gemüt gekommen! Dieser fremde unheimliche Graf, der wie ein dunkles düstres Geheimnis eintrat, der uns alle verstörte, scheint er nicht sich recht feindlich zwischen uns zu stellen? — Es ist mir, als träte aus dem tiefsten Hintergrunde eine Erinnerung - fast möcht ich sagen - ein Traum hervor, der mir diesen Grafen darstellt unter grauenvollen Umständen! Es ist mir, als müsse da, wo er sich hinwendet, irgendein entsetzliches Unheil, von ihm beschworen, aus dunkler Nacht vernichtend hervorblitzen. — Hast du wohl bemerkt, wie oft sein Blick auf Angelika ruhte und wie dann ein fahles Rot seine bleichen Wangen färbte und schnell wieder verschwand? Auf meine Liebe hat es der Unhold abgesehen, darum klangen die Worte, die er an mich richtete, so höhnend, aber ich stelle mich ihm entgegen auf den Tod

Dagobert nannte den Grafen einen gespenstischen Patron, dem man aber keck unter die Augen treten müsse, doch vielleicht sei auch, meinte er, viel weniger dahinter, als man glaube, und alles unheimliche Gefühl nur der besondern

Spannung zuzuschreiben, in der man sich befand, als der Graf eintrat. "Laß uns", so schloß Dagobert, "allem verstörenden Wesen mit festem Gemüt, mit unwandelbarem Vertrauen auf das Leben begegnen. Keine finstere Macht wird das Haupt beugen, was sich kräftig und mit heiterm Mut emporhebt!"

Längere Zeit war vergangen. Der Graf hatte sich, immer öfter und öfter das Haus des Obristen besuchend, beinahe unentbehrlich gemacht. Man war darüber einig, daß der Vorwurf des unheimlichen Wesens auf die zurückfalle, die ihm diesen Vorwurf gemacht. "Konnte", sprach die Obristin, "konnte der Graf nicht mit Recht uns selbst mit unsern blassen Gesichtern, mit unserm seltsamen Betragen unheimliche Leute nennen?" — Der Graf entwickelte in jedem Gespräch einen Schatz der reichhaltigsten Kenntnisse, und sprach er, Italiener von Geburt, zwar im fremden Akzent, so war er doch des geübtesten Vortrags vollkommen mächtig. Seine Erzählungen rissen in lebendigem Feuer unwiderstehlich hin, so daß selbst Moritz und Dagobert, so feindlich sie gegen den Fremden gesinnt, wenn er sprach und über sein blasses, aber schön geformtes ausdrucksvolles Gesicht ein anmutiges Lächeln flog, allen Groll vergaßen und wie Angelika, wie alle übrige, an seinen Lippen hingen.

Des Obristen Freundschaft mit dem Grafen war auf eine Weise entstanden, die diesen als den edelmütigsten Mann darstellte. Im tiefen Norden führte beide der Zufall zusammen, und hier half der Graf dem Obristen auf die uneigennützigste Weise aus einer Verlegenheit, die, was Geld und Gut, ja was den guten Ruf und die Ehre betrifft, die verdrüßlichsten Folgen hätte haben können. Der Obrist, tief fühlend, was er dem Grafen verdankte, hing an ihm mit ganzer Seele.

"Es ist", sprach der Obrist eines Tages zu der Obristin, als sie sich eben allein befanden, "es ist nun an der Zeit, daß ich dir sage, was es mit dem Hiersein des Grafen für eine tiefere Bewandtnis hat. — Du weißt, daß wir, ich

und der Graf, in P., wo ich mich vor vier Jahren befand, uns immer enger und enger aneinandergeschlossen, so daß wir zuletzt zusammen in aneinanderstoßenden Zimmern wohnten. Da geschah es, daß der Graf mich einst an einem frühen Morgen besuchte und auf meinem Schreibtisch das kleine Miniaturbild Angelikas gewahrte, das ich mitgenommen. Sowie er es schärfer anblickte, geriet er auf seltsame Weise außer aller Fassung. Nicht vermögend, mir zu antworten, starrte er es an, er konnte den Blick nicht mehr davon abwenden, er rief begeistert aus: nie habe er ein schöneres, herrlicheres Weib gesehen, nie habe er gefühlt, was Liebe sei, die erst jetzt tief in seinem Herzen in lichten Flammen aufgelodert. Ich scherzte über die wunderbare Wirkung des Bildes, ich nannte den Grafen einen neuen Kalaf und wünschte ihm Glück, daß meine gute Angelika wenigstens keine Turandot sei. Endlich gab ich ihm nicht undeutlich zu verstehen, daß in seinen Jahren, da er, wenn auch nicht gerade im Alter vorgerückt, doch kein Jüngling mehr zu nennen, mich diese romantische Art, sich urplötzlich in ein Bild zu verlieben, ein wenig befremde. Nun schwor er aber mit Heftigkeit, ja mit allen Zeichen des leidenschaftlichen Wahnsinns, wie er seiner Nation eigen, daß er Angelika unaussprechlich liebe und daß ich, solle er nicht in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung stürzen, ihm erlauben müsse, sich um Angelikas Liebe, um ihre Hand zu bewerben. Deshalb ist nun der Graf hieher und in unser Haus gekommen. Er glaubt der Zuneigung Angelikas gewiß zu sein und hat gestern seine Bewerbung förmlich bei mir angebracht. Was hältst du von der Sache?"

Die Obristin wußte selbst nicht, warum des Obristen letzte Worte sie wie ein jäher Schreck durchbebten. "Um des Himmels willen", rief sie, "der fremde Graf unsere Angelika?"

"Fremd", erwiderte der Obriste mit verdüsterter Stirn, "der Graf fremd, dem ich Ehre, Freiheit, ja vielleicht das Leben selbst verdanke? — Ich gestehe ein, daß er, im hohen

Mannesalter, vielleicht rücksichts der Jahre nicht ganz für unser blutjunges Täubchen paßt, aber er ist ein edler Mensch und dabei reich - sehr reich -"

"Und ohne Angelika zu fragen?" fiel ihm die Obristin ins Wort, "und ohne Angelika zu fragen, die vielleicht gar nicht solche Neigung zu ihm hegt, als er sich in verliebter Torheit einbildet."

"Habe ich", rief der Obrist, indem er vom Stuhle aufsprang und sich mit glühenden Augen vor die Obristin hinstellte, "habe ich dir jemals Anlaß gegeben, zu glauben, daß ich, ein toller, tyrannischer Vater, mein liebes Kind auf schnöde Weise verkuppeln könnte? —Aber mit euren romanhaften Empfindeleien und euren Zartheiten bleibt mir vom Halse. Es ist gar nichts Überschwengliches, das tausend phantastische Dinge voraussetzt, wenn sich ein Paar heiratet! — Angelika ist ganz Ohr, wenn der Graf spricht, sie blickt ihn an mit der freundlichsten Güte, sie errötet, wenn er die Hand, die sie gern in der seinigen läßt, an die Lippen drückt. So spricht sich bei einem unbefangenen Mädchen die Zuneigung aus, die den Mann wahrhaft beglückt. Es bedarf keiner romanesker Liebe, die manchmal auf recht verstörende Weise in euren Köpfen spukt!"

"Ich glaube", nahm die Obristin das Wort, "ich glaube, daß Angelikas Herz nicht mehr so frei ist, als sie vielleicht noch selbst wähnen mag."

"Was?" — rief der Obrist erzürnt und wollte eben heftig losbrechen, in dem Augenblick ging die Türe auf, und Angelika trat ein mit dem holdseligsten Himmelslächeln der unbefangensten Unschuld.

Der Obrist, plötzlich von allem Unmut, von allem Zorn verlassen, ging auf sie zu, küßte sie auf die Stirn, faßte ihre Hand, führte sie in den Sessel, setzte sich traulich hin dicht neben das liebe süße Kind. Nun sprach er von dem Grafen, rühmte seine edle Gestalt, seinen Verstand, seine Sinnesart und fragte dann, ob Angelika ihn wohl leiden möge. Angelika erwiderte, daß der Graf anfangs ihr gar fremd und

unheimlich erschienen sei, daß sie dies Gefühl aber ganz überwunden und ihn jetzt recht gern sähe!

"Nun", rief der Obrist voller Freude, "nun, dem Himmel sei es gedankt, so mußt es kommen zu meinem Trost, zu meinem Heil! — Graf S—i, der edle Mann, liebt dich, mein holdes Kind, aus dem tiefsten Grunde seiner Seele, er bewirbt sich um deine Hand, du wirst sie ihm nicht verweigern." — Kaum sprach aber der Obrist diese Worte, als Angelika mit einem tiefen Seufzer wie ohnmächtig zurücksank. Die Obristin faßte sie in ihre Arme, indem sie einen bedeutenden Blick auf den Obristen warf, der verstummt das arme todbleiche Kind anstarrte. — Angelika erholte sich, ein Tränenstrom stürzte ihr aus den Augen, sie rief mit herzzerschneidender Stimme: "Der Graf -der schreckliche Graf! — Nein, nein - nimmermehr!"

Mit aller Sanftmut fragte der Obrist ein Mal über das andere, warum in aller Welt der Graf ihr so schrecklich sei. Da gestand Angelika, in dem Augenblick, als der Obrist es ausgesprochen, daß der Graf sie liebe, sei ihr mit vollem Leben der fürchterliche Traum in die Seele gekommen, den sie vor vier Jahren in der Nacht ihres vierzehnten Geburtstages geträumt und aus dem sie in entsetzlicher Todesangst erwacht, ohne sich auf seine Bilder auch nur im mindesten besinnen zu können. "Es war mir", sprach Angelika, "als durchwandle ich einen sehr anmutigen Garten, in dem fremdartige Büsche und Blumen standen. Plötzlich stand ich vor einem wunderbaren Baum mit dunklen Blättern und großen, seltsam duftenden Blüten, beinahe dem Holunder ähnlich. Der rauschte mit seinen Zweigen so lieblich und winkte mir zu, wie mich einladend in seine Schatten. Von unsichtbarer Kraft unwiderstehlich hingezogen, sank ich hin auf die Rasen unter dem Baume. Da war es, als gingen seltsame Klagelaute durch die Lüfte und berührten wie Windeshauch den Baum, der in bangen Seufzern aufstöhnte. Mich befing ein unbeschreibliches Weh, ein tiefes Mitleid regte sich in meiner Brust, selbst wußte ich nicht weshalb.

Da fuhr plötzlich ein brennender Strahl in mein Herz, wie es zerspaltend! — Der Schrei, den ich ausstoßen wollte, konnte sich nicht der mit namenloser Angst belasteten Brust entwinden, er wurde zum dumpfen Seufzer. Der Strahl, der mein Herz durchbohrt, war aber der Blick eines menschlichen Augenpaars, das mich aus dem dunklen Gebüsch anstarrte. In dem Augenblick standen die Augen dicht vor mir, und eine schneeweiße Hand wurde sichtbar, die Kreise um mich her beschrieb. Und immer enger und enger wurden die Kreise und umspannen mich mit Feuerfaden, daß ich zuletzt in dem dichten Gespinst mich nicht regen und bewegen konnte. Und dabei war es, als erfasse nun der furchtbare Blick der entsetzlichen Augen mein innerstes Wesen und bemächtige sich meines ganzen Seins; der Gedanke, an dem es nur noch wie an einer schwachen Faser hing, war mir marternde Todesangst. Der Baum neigte seine Blüten tief zu mir herab, und aus ihnen sprach die liebliche Stimme eines Jünglings: ,Angelika, ich rette dich - ich rette dich!' — Aber -"

Angelika wurde unterbrochen; man meldete den Rittmeister von R., der den Obristen in Geschäften sprechen wollte. Sowie Angelika des Rittmeisters Namen nennen hörte, rief sie, indem ihr aufs neue die Tränen aus den Augen strömten, mit dem Ausdruck des schneidendsten Wehs, mit der Stimme, die nur aus der vom tiefsten Liebesschmerz wunden Brust stöhnt: "Moritz - ach, Moritz!"

Der Rittmeister hatte eintretend diese Worte gehört. Er erblickte Angelika, in Tränen gebadet, die Arme nach ihm ausstreckend. Wie außer sich, stieß er das Kaskett vom Haupte, daß es klirrend zu Boden fiel, stürzte Angelika zu Füßen, faßte sie, als sie, von Wonne und Schmerz übermannt, niedersank, in seine Arme, drückte sie mit Inbrunst an seine Brust. — Der Obrist betrachtete, sprachlos vor Erstaunen, die Gruppe. "Ich habe geahnet", lispelte die Obristin leise, "ich habe es geahnet, daß sie sich lieben, aber ich wußte kein Wort davon."

"Rittmeister von R.", fuhr nun der Obrist zornig heraus, "was haben Sie mit meiner Tochter?"

Moritz, schnell zu sich selbst kommend, ließ die halbtote Angelika sanft in den Lehnstuhl nieder, dann raffte er das Kaskett vom Boden auf, trat, glutrot im Antlitz, mit niedergesenktem Blick, vor den Obristen hin und versicherte auf Ehre, daß er Angelika unaussprechlich, aus der Tiefe seines Herzens liebe, daß aber auch bis zu diesem Augenblick nicht das leiseste Wort, das einem Geständnisse seines Gefühls gleiche, über seine Lippen gekommen sei. Nur zu sehr habe er gezweifelt, daß Angelika sein Gefühl erwidern könne. Erst dieser Moment, dessen Anlaß er nicht zu ahnen vermöge, habe ihm alle Seligkeit des Himmels erschlossen, und er hoffe nicht von dem edelmütigsten Mann, von dem zärtlichsten Vater zurückgestoßen zu werden, wenn er ihn anflehe, einen Bund zu segnen, den die reinste, innigste Liebe geschlossen.

Der Obrist maß den Rittmeister, maß Angelika mit finstern Blicken, dann schritt er, die Arme übereinandergeschlagen, im Zimmer schweigend auf und ab wie einer, der ringt, irgendeinen Entschluß zu fassen. Er blieb stehen vor der Obristin, die Angelika in die Arme genommen und ihr tröstend zuredete. "Was für einen Bezug", sprach er dumpf mit zurückgehaltenem Zorn, "was für einen Bezug hat dein alberner Traum auf den Grafen?"

Da warf sich Angelika ihm zu Füßen, küßte seine Hände, benetzte sie mit Tränen, sprach mit halb erstickter Stimme: "Ach, mein Vater! — mein geliebtester Vater, jene entsetzlichen Augen, die mein Innerstes erfaßten, es waren die Augen des Grafen, seine gespenstische Hand umwob mich mit dem Feuergespinst! — Aber die tröstende Jünglingsstimme, die mir zurief aus den duftenden Blüten des wunderbaren Baums -das war Moritz - mein Moritz!"

"Dein Moritz?" rief der Obrist, indem er sich rasch umwandte, so daß Angelika beinahe zu Boden gestürzt. Dann sprach er dumpf vor sich hin: "Also kindischen Einbildungen,

verstohlner Liebe wird der weise Beschluß des Vaters, die Bewerbung eines edlen Mannes geopfert!" — Wie zuvor schritt er nun schweigend im Zimmer auf und ab. Endlich zu Moritz: "Rittmeister von R., Sie wissen, wie hoch ich Sie achte, keinen liebem Eidam als eben Sie hätte ich mir gewünscht, aber ich gab mein Wort dem Grafen von S—i, dem ich verpflichtet bin, wie es nur ein Mensch sein kann dem andern. Doch glauben Sie ja nicht, daß ich den eigensinnigen tyrannischen Vater spielen werde. Ich eile hin zum Grafen, ich entdecke ihm alles. Ihre Liebe wird mir eine blutige Fehde, vielleicht das Leben kosten, doch es sei nun einmal so - ich gebe mich! — Erwarten Sie hier meine Zurückkunft!"

Der Rittmeister versicherte mit Begeisterung, daß er lieber hundertmal in den Tod gehen als dulden werde, daß der Obrist sich auch nur der mindesten Gefahr aussetze. Ohne ihm zu antworten, eilte der Obrist von dannen.

Kaum hatte der Obrist das Zimmer verlassen, als die Liebenden im Übermaß des Entzückens sich in die Arme fielen und sich ewige unwandelbare Treue schworen. Dann versicherte Angelika, erst in dem Augenblick, als der Obrist sie mit der Bewerbung des Grafen bekannt gemacht, habe sie es in der tiefsten Seele gefühlt, wie unaussprechlich sie Moritz liebe und daß sie lieber sterben als eines andern Gattin werden könne. Es sei ihr gewesen, als wisse sie ja längst, daß auch Moritz sie ebensosehr liebe. Nun erinnerten sich beide jedes Augenblicks, in dem sie ihre Liebe verraten, und waren entzückt, alles Widerspruchs, alles Zorns des Obristen vergessend, und jauchzten wie frohe selige Kinder. Die Obristin, die die aufkeimende Liebe längst bemerkt und mit vollem Herzen Angelikas Neigung billigte, gab tief gerührt ihr Wort, ihrerseits alles aufzubieten, daß der Obrist abstehe von einer Verbindung, die sie, selbst wisse sie nicht warum, verabscheue.

Es mochte eine Stunde vergangen sein, als die Türe aufging und zum Erstaunen aller der Graf S—i eintrat. Ihm

folgte der Obrist mit leuchtenden Blicken. Der Graf näherte sich Angeliken, ergriff ihre Hand, blickte sie mit bitterm schmerzlichem Lächeln an. Angelika bebte zusammen und murmelte kaum hörbar, einer Ohnmacht nahe: "Ach - diese Augen!"

"Sie verblassen", begann nun der Graf, "Sie verblassen, mein Fräulein, wie damals, als ich zum erstenmal in diesen Kreis trat. — Bin ich Ihnen denn wirklich ein grauenhaftes Gespenst? — Nein! — entsetzen Sie sich nicht, Angelika! fürchten Sie nichts von einem harmlosen Mann, der Sie mit allem Feuer, mit aller Inbrunst des Jünglings liebte, der nicht wußte, daß Sie Ihr Herz verschenkt, der töricht genug war, sich um Ihre Hand zu bewerben. — Nein! — selbst das Wort des Vaters gibt mir nicht das kleinste Recht auf eine Seligkeit, die Sie nur zu spenden vermögen. Sie sind frei, mein Fräulein! — Selbst mein Anblick soll Sie nicht mehr an die trüben Augenblicke erinnern, die ich Ihnen bereitet. Bald, vielleicht morgen schon kehre ich zurück in mein Vaterland!" —"Moritz - mein Moritz", rief Angelika im Jubel der höchsten Wonne und warf sich dem Geliebten an die Brust. Durch alle Glieder zuckte es dem Grafen, seine Augen glühten auf in ungewöhnlichem Feuer, seine Lippen bebten, er stieß einen leisen unartikulierten Laut aus. Sich schnell zur Obristin mit einer gleichgültigen Frage wendend, gelang es ihm, sein aufwallendes Gefühl niederzukämpfen.

Aber der Obrist rief ein Mal über das andere: "Welch ein Edelmut! — welch hoher Sinn! wer gleicht diesem herrlichen Mann! — meinem Herzensfreunde immerdar!" — Dann drückte er den Rittmeister, Angelika, die Obristin an sein Herz und versicherte lachend, er wolle nun von dem garstigen Komplott, das sie im Augenblick gegen ihn geschmiedet, nichts weiter wissen und hoffe übrigens, daß Angelika fürder nicht mehr Leid erfahren werde von gespenstischen Augen.

Es war hoher Mittag worden, der Obrist lud den Rittmeister, den Grafen ein, das Mahl bei ihm einzunehmen. Man

schickte hin nach Dagobert, der sich bald in voller Freude und Fröhlichkeit einstellte.

Als man sich zu Tische setzen wollte, fehlte Marguerite. Es hieß, daß sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen und erklärt habe, sie fühle sich krank und sei unfähig, in der Gesellschaft zu erscheinen. "Ich weiß nicht", sprach die Obristin, "was sich mit Margueriten seit einiger Zeit begibt, sie ist voll der eigensinnigsten Launen, sie weint und lacht ohne Ursache, ja voller seltsamer Einbildung kann sie es oft bis zum Unerträglichen treiben." —"Dein Glück", lispelte Dagobert dem Rittmeister leise ins Ohr, "dein Glück ist Margueritens Tod!" —"Geisterseher", erwiderte der Rittmeister ebenso leise, "Geisterseher, störe mir nicht meinen Frieden."

Nie war der Obrist froher gewesen, nie hatte auch die Obristin, manchmal wohl um ihr liebes Kind besorgt und nun dieser Sorge entnommen, sich so in tiefer Seele glücklich gefühlt. Kam nun noch hinzu, daß Dagobert in heller Fröhlichkeit schwelgte, daß der Graf, den Schmerz der ihm geschlagenen Wunde vergessend, das vollste Leben seines vielgewandten Geistes herausstrahlen ließ, so konnt es nicht fehlen, daß alle sich um das selige Paar schlossen, wie ein heitrer, herrlich blühender Kranz.

Die Dämmerung war eingebrochen, der edelste Wein perlte in den Gläsern, man trank jubelnd und jauchzend auf das Wohl des Brautpaars. Da ging die Türe des Vorsaals leise auf, und hinein schwankte Marguerite, im weißen Nachtkleide, mit herabhängenden Haaren, bleich, entstellt wie der Tod. "Marguerite, was für Streiche", rief der Obrist, doch ohne auf ihn zu achten, schritt Marguerite langsam gerade los auf den Rittmeister, legte ihre eiskalte Hand auf seine Brust, drückte einen leisen Kuß auf seine Stirne, murmelte dumpf und hohl: "Der Kuß der Sterbenden bringt Heil dem frohen Bräutigam!" und sank hin auf den Boden.

"Da haben wir das Unheil", sprach Dagobert leise zu dem Grafen, "die Törin ist verliebt in den Rittmeister." — "Ich weiß es", erwiderte der Graf, "wahrscheinlich hat sie

die Narrheit so weit getrieben, Gift zu nehmen." — "Um Gottes willen!" schrie Dagobert entsetzt, sprang auf und eilte hin zu dem Lehnsessel, in den man die Arme hineingetragen. Angelika und die Obristin waren um sie beschäftigt, sie besprengend, ihr die Stirn reibend mit geistigen Wassern. Als Dagobert hinzutrat, schlug sie gerade die Augen auf. Die Obristin sprach: "Ruhig, mein liebes Kind, du bist krank, es wird vorübergehen Da erwiderte Marguerite mit dumpfer hohler Stimme: "Ja! bald ist es vorüber - ich habe Gift!" — Angelika, die Obristin schrien laut auf, der Obrist rief wild: "Tausend Teufel, die Wahnsinnige! — Man renne nach dem Arzt - fort! den ersten besten, der aufzutreiben ist, hergebracht zur Stelle!" — Die Bedienten, Dagobert selbst wollten forteilen. —"Halt!" — rief der Graf, der bisher ruhig geblieben war und mit Behaglichkeit den mit seinem Lieblingswein, dem feurigen Syrakuser, gefüllten Pokal geleert hatte, "halt! — Hat Marguerite Gift genommen, so bedarf es keines Arztes, denn ich bin in diesem Fall der beste, den es geben kann. Man lasse mich gewähren." Er trat zu Marguerite, die in tiefer Ohnmacht lag und nur zuweilen krampfhaft zuckte. Er bückte sich über sie hin, man bemerkte, daß er ein kleines Futteral aus der Tasche zog, etwas heraus und zwischen die Finger nahm und leise hinstrich über Margueritens Nacken und Herzgrube. Dann sprach der Graf, indem er von ihr abließ, zu den übrigen: "Sie hat Opium genommen, doch ist sie zu retten durch besondere Mittel, die mir zu Gebote stehen." Marguerite wurde auf des Grafen Geheiß in ihr Zimmer heraufgebracht, er blieb allein bei ihr. — Die Kammerfrau der Obristin hatte indessen in Margueritens Gemach das Fläschchen gefunden, in dem die Opiumtropfen, die der Obristin vor einiger Zeit verschrieben, enthalten waren und das die Unglückliche ganz geleert hatte.

"Der Graf", sprach Dagobert mit etwas ironischem Ton, "der Graf ist wahrhaftig ein Wundermann. Er hat alles erraten. Wie er Margueriten nur erschaute, wußte er gleich, daß

sie Gift genommen, und dann erkannte er gar, von welcher Sorte und Farbe."

Nach einer halben Stunde trat der Graf in den Saal und versicherte, daß alle Gefahr für Margueritens Leben vorüber sei. Mit einem Seitenblick auf Moritz setzte er hinzu, daß er auch hoffe, den Grund alles Übels aus ihrem Innern wegzubannen. Er wünsche, daß die Kammerfrau bei Margueriten wache, er selbst werde die Nacht über in dem anstoßenden Zimmer bleiben, um so bei jedem Zufall, der sich noch etwa ereignen sollte, gleich bei der Hand sein zu können. Zu dieser ärztlichen Hülfe wünschte er sich aber noch durch ein paar Gläser edlen Weins zu stärken.

Damit setzte er sich zu den Männern an den Tisch, während Angelika und die Obristin, im Innersten ergriffen von dem Vorgang, sich entfernten.

Der Obrist ärgerte sich über den verfluchten Narrenstreich, wie er Margueritens Beginnen nannte, Moritz, Dagobert fühlten sich auf unheimliche Weise verstört. Je verstimmter aber diese waren, desto mehr ließ der Graf eine Lustigkeit ausströmen, die man sonst gar nicht an ihm bemerkt hatte und die in der Tat etwas Grauenhaftes in sich trug.

"Dieser Graf", sprach Dagobert zu seinem Freunde, als sie nach Hause gingen, "bleibt mir unheimlich auf seltsame Weise. Es ist, als wenn es irgendeine geheimnisvolle Bewandtnis mit ihm habe."

"Ach!" erwiderte Moritz, "zentnerschwer liegt es mir auf der Brust - die finstre Ahnung irgendeines Unheils, das meiner Liebe droht, erfüllt mein Innres!"

Noch in derselben Nacht wurde der Obrist durch einen Kurier aus der Residenz geweckt. Andern Morgens trat er etwas bleich zur Obristin. "Wir werden", sprach er mit erzwungener Ruhe, "wir werden abermals getrennt, mein liebes Kind! — Der Krieg beginnt nach kurzer Ruhe von neuem. In der Nacht erhielt ich die Ordre. Sobald als es nur möglich ist, vielleicht schon in künftiger Nacht, breche ich auf

mit dem Regiment." Die Obristin erschrak heftig, sie brach in Tränen aus. Der Obrist sprach tröstend, daß er überzeugt sei, wie dieser Feldzug ebenso glorreich enden werde als der frühere, daß der frohe Mut im Herzen ihn an kein Unheil denken lasse, das ihm widerfahren könne. "Du magst", setzte er dann hinzu, "du magst indessen, bis wir den Feind aufs neue gedemütigt und der Friede geschlossen, mit Angelika auf unsere Güter gehen. Ich gebe euch einen Begleiter mit, der euch alle Einsamkeit, alle Abgeschiedenheit eures Aufenthalts vergessen lassen wird. Der Graf S—i geht mit euch!" —"Wie", rief die Obristin, "um des Himmels willen! Der Graf soll mit uns gehen? Der verschmähte Bräutigam? — der ränkesüchtige Italiener, der tief im Innersten seinen Groll zu verschließen weiß, um ihn bei der besten Gelegenheit mit aller Macht ausströmen zu lassen? Dieser Graf, der mir in seinem ganzen Wesen, selbst weiß ich nicht warum, seit gestern wieder aufs neue widerwärtiger geworden ist als jemals!" — "Nein", fiel der Obrist ihr ins Wort, "nein, es ist nicht auszuhalten mit den Einbildungen, mit den tollen Träumen der Weiber! — Sie begreifen nicht die Seelengröße eines Mannes von festem Sinn! — Der Graf ist die ganze Nacht, so wie er sich vorgesetzt, in dem Nebenzimmer bei Margueriten geblieben. Er war der erste, dem ich die Nachricht brachte vom neuen Feldzuge. Seine Rückkehr ins Vaterland ist nun kaum möglich. Er war darüber betreten. Ich bot ihm den Aufenthalt auf meinen Gütern an. Nach vieler Weigerung entschloß er sich dazu und gab mir sein Ehrenwort, alles aufzubieten, euch zu beschirmen, euch die Zeit der Trennung zu verkürzen, wie es nur in seiner Macht stehe. Du weißt, was ich dem Grafen schuldig, meine Güter sind ihm jetzt eine Freistatt, darf ich die versagen?" — Die Obristin konnte - durfte hierauf nichts mehr erwidern. — Der Obrist hielt Wort. Schon in der folgenden Nacht wurde zum Aufbruch geblasen, und aller namenlose Schmerz und herzzerschneidende Jammer der Trennung kam über die Liebenden.

Wenige Tage darauf, als Marguerite völlig genesen, reiste die Obristin mit ihr und Angelika nach den Gütern. Der Graf folgte mit mehrerer Dienerschaft.

Mit der schonendsten Zartheit ließ sich der Graf in der ersten Zeit nur bei den Frauen sehen, wenn sie es ausdrücklich wünschten, sonst blieb er in seinem Zimmer oder machte einsame Spaziergänge.

Der Feldzug schien erst dem Feinde günstig zu sein, bald wurden aber glorreiche Siege erfochten. Da war nun der Graf immer der erste, der die Siegesbotschaften erhielt, ja der die genauesten Nachrichten über die Schicksale des Regiments hatte, das der Obrist führte. In den blutigsten Kämpfen hatte weder den Obristen noch den Rittmeister eine Kugel, ein Schwertstreich getroffen; die sichersten Briefe aus dem Hauptquartier bestätigten das.

So erschien der Graf bei den Frauen immer wie ein Himmeisbote des Sieges und des Glücks. Dazu kam, daß sein ganzes Betragen die innigste, reinste Zuneigung aussprach, die er für Angelika hegte, daß er sich wie der zärtlichste, um ihr Glück besorgteste Vater zeigte. Beide, die Obristin und Angelika, mußten sich gestehen, daß der Obrist wohl den bewährten Freund richtig beurteilt hatte und daß jenes Vorurteil gegen ihn die lächerlichste Einbildung gewesen. Auch Marguerite schien von ihrer törichten Leidenschaft geheilt, sie war wieder ganz die muntere gesprächige Französin.

Ein Brief des Obristen an die Obristin, dem ein Brief vom Rittmeister an Angelika beilag, verscheuchte den letzten Rest der Besorgnis. Die Hauptstadt des Feindes war genommen, der Waffenstillstand geschlossen.

Angelika schwamm in Wonne und Seligkeit, und immer war es der Graf, der mit hinreißender Lebendigkeit von den kühnen Waffentaten des braven Moritz, von dem Glück sprach, das der holden Braut entgegenblühe. Dann ergriff er Angelikas Hand und drückte sie an seine Brust und fragte, ob er ihr denn noch so verhaßt sei als ehemals. Vor Scham hoch errötend, Tränen im Auge, versicherte Angelika, sie

armes Kind habe ja niemals gehaßt, aber zu innig, zu sehr mit ganzer Seele ihren Moritz geliebt, um sich nicht vor jeder andern Bewerbung zu entsetzen. Sehr ernst und feierlich sprach dann der Graf: "Sieh mich an, Angelika, für deinen treuen väterlichen Freund" und hauchte einen leisen Kuß auf ihre Stirne, welches sie, ein frommes Kind, gern litt, da es ihr war, als sei es ihr Vater selbst, der sie auf diese Weise zu küssen pflegte.

Man konnte beinahe hoffen, der Obrist werde wenigstens auf kurze Zeit in das Vaterland zurückkehren, als ein Brief von ihm anlangte, der das Gräßlichste enthielt. Der Rittmeister war, als er mit seinem Reitknecht ein Dorf passierte, von bewaffneten Bauern angefallen worden, die ihn an der Seite des braven Reuters, dem es gelang, sich durchzuschlagen, niederschossen und fortschleppten. — So wurde die Freude, die das ganze Haus beseelte, plötzlich in Entsetzen, in tiefes Leid, in trostlosen Jammer verkehrt.



Das ganze Haus des Obristen war in geräuschvoller Bewegung. Treppauf, treppab liefen die in reicher Staatsliverei geputzten Diener, rasselnd fuhren die Wagen auf den Schloßhof mit den geladenen Gästen, die der Obrist, die neuen Ehrenzeichen auf der Brust, die ihm der letzte Feldzug erworben, feierlich empfing.

Oben im einsamen Zimmer saß Angelika bräutlich geschmückt, in der vollendetsten Schönheit üppiger Jugendblüte prangend, neben ihr die Obristin.

"Du hast", sprach die Obristin, "du hast, mein liebes Kind, in voller Freiheit den Grafen S—i zu deinem Gatten gewählt. Sosehr ehemals dein Vater diese Verbindung wünschte, sowenig hat er jetzt nach dem Tode des unglücklichen Moritz darauf bestanden. Ja, es ist mir jetzt, als teile er mit mir dasselbe schmerzliche Gefühl, das ich dir nicht verhehlen darf. — Es bleibt mir unbegreiflich, daß du so bald deinen Moritz vergessen konntest. — Die entscheidendste Stunde naht - du gibst deine Hand dem Grafen - prüfe

wohl dein Herz - noch ist es Zeit! — Möge nie das Andenken an den Vergessenen wie ein finstrer Schatten dein heitres Leben vertrüben!"

"Niemals 1" rief Angelika, indem Tränen wie Tautropfen in ihren Augen perlten, "niemals werde ich meinen Moritz vergessen, ach, niemals mehr lieben, wie ich ihn geliebt. Das Gefühl, was ich für den Grafen hege, mag wohl ein ganz anderes sein! — Ich weiß nicht, wie der Graf meine innigste Zuneigung so ganz und gar gewonnen! Nein! — ich liebe ihn nicht, ich kann ihn nicht lieben, wie ich Moritz liebte, aber es ist mir, als könne ich ohne ihn gar nicht leben, ja nur durch ihn denken - empfinden! Eine Geisterstimme sagt es mir unaufhörlich, daß ich mich ihm als Gattin anschließen muß, daß sonst es kein Leben mehr hienieden für mich gibt. — Ich folge dieser Stimme, die ich für die geheimnisvolle Sprache der Vorsehung halte."

Die Kammerfrau trat herein mit der Nachricht, daß man Margueriten, die seit dem frühen Morgen vermißt worden, noch immer nicht gefunden, doch habe der Gärtner soeben ein kleines Briefchen an die Obristin gebracht, das er von Margueriten erhalten mit der Anweisung, es abzugeben, wenn er seine Geschäfte verrichtet und die letzten Blumen nach dem Schlosse getragen. In dem Billett, das die Obristin öffnete, stand:



Sie werden mich nie wiedersehen. — Ein düstres Verhängnis treibt mich fort aus Ihrem Hause. Ich flehe Sie an, Sie, die mir sonst eine teure Mutter waren, lassen Sie mich nicht verfolgen, mich nicht zurückbringen mit Gewalt. Der zweite Versuch, mir den Tod zu geben, würde besser gelingen als der erste. — Möge Angelika das Glück genießen in vollen Zügen, das mir das Herz durchbohrt. Leben Sie wohl auf ewig - vergessen Sie die unglückliche

Marguerite.



"Was ist das", rief die Obristin heftig, "was ist das? Hat es die Wahnsinnige darauf abgesehen, unsere Ruhe zu verstören? — Tritt sie immer feindselig dazwischen, wenn du die Hand reichen willst dem geliebten Gatten? — Möge sie hinziehen, die undankbare Törin, die ich wie meine Tochter gehegt und gepflegt, möge sie hinziehen, nie werd ich mich um sie kümmern."

Angelika brach in laute Klagen aus um die verlorne Schwester, die Obristin bat sie um des Himmels willen, nicht Raum zu geben dem Andenken an eine Wahnsinnige in diesen wichtigen entscheidenden Stunden. — Die Gesellschaft war im Saal versammelt, um, da eben die bestimmte Stunde schlug, nach der kleinen Kapelle zu ziehen, wo ein katholischer Geistlicher das Paar trauen sollte. Der Obrist führte die Braut herein, alles erstaunte über ihre Schönheit, die noch erhöht wurde durch die einfache Pracht des Anzuges. Man erwartete den Grafen. Eine Viertelstunde verging nach der andern, er ließ sich nicht blicken. Der Obrist begab sich nach seinem Zimmer. Er traf auf den Kammerdiener, welcher berichtete, der Graf habe sich, nachdem er völlig angekleidet, plötzlich unwohl gefühlt und einen Gang nach dem Park gemacht, um sich in freier Luft zu erholen, ihm, dem Kammerdiener, aber zu folgen verboten.

Selbst wußte er nicht, warum ihm des Grafen Beginnen so schwer aufs Herz fiel, warum ihm der Gedanke kam, irgend etwas Entsetzliches könne dem Grafen begegnen.

Er ließ hineinsagen, der Graf würde in weniger Zeit erscheinen, und den berühmten Arzt, der sich in der Gesellschaft befand, insgeheim herausrufen. Mit diesem und dem Kammerdiener ging er nun in den Park, um den Grafen aufzusuchen. Aus der Hauptallee ausbiegend, gingen sie nach einem von dichtem Gebüsch umgebenen Platz, der, wie sich der Obrist erinnerte, der Lieblingsaufenthalt des Grafen war. Da saß der Graf, ganz schwarz gekleidet, den funkelnden Ordensstern auf der Brust, mit gefalteten Händen auf einer Rasenbank, den Rücken an den Stamm eines blühenden Holunderbaums gelehnt, und starrte sie regungslos an. Sie erbebten vor dem gräßlichen Anblick, denn des

Grafen hohle, düster funkelnde Augen schienen ohne Sehkraft. "Graf S—i! — was ist geschehen!" rief der Obrist, aber keine Antwort, keine Bewegung, kein leiser Atemzug! — Da sprang der Arzt hinzu, riß dem Grafen die Weste auf, die Halsbinde, den Rock herab, rieb ihm die Stirne. Er wandte sich zum Obristen mit den dumpfen Worten: "Hier ist menschliche Hülfe nutzlos - er ist tot - der Nervenschlag hat ihn getroffen in diesem Augenblick -" — Der Kammerdiener brach in lauten Jammer aus. Der Obrist, mit aller Manneskraft sein tiefes Entsetzen niederkämpfend, gebot ihm Ruhe. "Wir töten Angelika auf der Stelle, wenn wir nicht mit Vorsicht handeln." So sprach der Obrist, packte die Leiche an, trug sie auf einsamen Nebenwegen zu einem entfernten Pavillon, dessen Schlüssel er bei sich hatte, ließ sie dort unter Acht des Kammerdieners, begab sich mit dem Arzt nach dem Schlosse zurück. Von Entschluß zu Entschluß wankend, wußte er nicht, ob er der armen Angelika das Entsetzliche, was geschehen, verschweigen, ob er es wagen sollte, ihr alles mit ruhiger Fassung zu sagen.

Als er in den Saal trat, fand er alles in größter Angst und Bestürzung. Mitten im heitern Gespräch hatte Angelika plötzlich die Augen geschlossen und war in tiefer Ohnmacht niedergesunken. Sie lag in einem Nebenzimmer auf dem Sofa. — Nicht bleich - nicht entstellt, nein höher, frischer als je blühten die Rosen ihrer Wangen, eine unbeschreibliche Anmut, ja die Verklärung des Himmels war auf ihrem ganzen Gesicht verbreitet. Sie schien von der höchsten Wonne durchdrungen. — Der Arzt, nachdem er sie lange mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtet, versicherte, es sei hier nicht die mindeste Gefahr vorhanden, das Fräulein befinde sich, freilich auf eine unbegreifliche Weise, in einem magnetischen Zustande. Sie gewaltsam zu erwecken, getraue er sich nicht, sie werde bald von selbst erwachen.

Indessen entstand unter den Gästen ein geheimnisvolles Flüstern. Der jähe Tod des Grafen mochte auf irgendeine

Weise bekannt geworden sein. Alle entfernten sich nach und nach still und düster, man hörte die Wagen fortrollen.

Die Obristin, über Angelika hingebeugt, fing jeden ihrer Atemzüge auf. Es war, als lispele sie leise Worte, die niemanden verständlich. Der Arzt litt nicht, daß man Angelika entkleide, ja daß man sie auch nur von den Handschuhen befreie, jede Berührung könne ihr schädlich sein.

Plötzlich schlug Angelika die Augen auf, fuhr in die Höhe, sprang mit dem gehenden Ruf: "Er ist da - er ist da!" — vom Sofa, rannte in voller Furie zur Türe heraus - durch den Vorsaal - die Stiegen herab. — "Sie ist wahnsinnig", schrie die Obristin entsetzt, "o Herr des Himmels, sie ist wahnsinnig!" —"Nein, nein", tröstete der Arzt, "das ist nicht Wahnsinn, aber irgend etwas Unerhörtes mag sich begeben!" Und damit stürzte er dem Fräulein nach!

Er sah, wie Angelika durch das Tor des Schlosses auf dem breiten Landweg mit hoch emporgestreckten Armen pfeilschnell fortlief, daß das reiche Spitzengewand in den Lüften flatterte und das Haar sich losnestelte, ein Spiel der Winde.

Ein Reuter sprengte ihr entgegen, warf sich herab vom Pferde, als er sie erreicht, schloß sie in seine Arme. Zwei andere Reuter folgten, hielten und stiegen ab.

Der Obrist, der in voller Hast dem Arzte gefolgt, stand in sprachlosem Erstaunen vor der Gruppe, rieb sich die Stirne, als mühe er sich, die Gedanken festzuhalten!

Moritz war es, der Angelika fest gedrückt hielt an seiner Brust; bei ihm standen Dagobert und ein junger schöner Mann in reicher russischer Generalsuniform.

"Nein", rief Angelika ein Mal über das andere, indem sie den Geliebten umklammerte, "nein! niemals war ich dir untreu, mein geliebter, teurer Moritz!" Und Moritz: "Ach, ich weiß es ja! — ich weiß es ja! Du mein holdes Engelsbild. Er hat dich verlockt durch satanische Künste!"

Und damit trug mehr als führte er Angelika nach dem Schlosse, während die andern schweigend folgten. Erst im

Tor des Schlosses seufzte der Obrist tief auf, als gewänne er nun erst seine Besinnung wieder, und rief, sich mit fragenden Blicken umschauend: "Was für Erscheinungen, was für Wunder!"

"Alles wird sich aufklären", sprach Dagobert und stellte dem Obristen den Fremden vor als den russischen General Bogislav von S-en, des Rittmeisters vertrautesten innigsten Freund.

In den Zimmern des Schlosses angekommen, fragte Moritz, ohne der Obristin schreckhaftes Staunen zu beachten, mit wildem Blick: "Wo ist der Graf S—i?" — "Bei den Toten!" erwiderte der Obrist dumpf, "vor einer Stunde traf ihn der Nervenschlag!" — Angelika bebte zusammen. "Ja", sprach sie, "ich weiß es, in demselben Augenblick, als er starb, war es mir, als bräche in meinem Innern ein Kristall klingend zusammen - ich fiel in einen sonderbaren Zustand - ich mag wohl jenen entsetzlichen Traum fortgeträumt haben, denn als ich mich wieder besann, hatten die furchtbaren Augen keine Macht mehr über mich, das Feuergespinst zerriß — ich fühlte mich frei - Himmelsseligkeit umfing mich — ich sah Moritz - meinen Moritz - er kam - ich flog ihm entgegen!" — Und damit umklammerte sie den Geliebten, als fürchte sie, ihn aufs neue zu verlieren.

"Gelobt sei Gott", sprach die Obristin mit zum Himmel gerichtetem Blick, "nun ist mir die Last vom Herzen genommen, die mich beinahe erdrückte, ich bin frei von der unaussprechlichen Angst, die mich überfiel in dem Augenblick, als Angelika ihre Hand dem unseligen Grafen reichen sollte. Immer war es mir, als würde mein Herzenskind mit dem Trauringe unheimlichen Mächten geweiht."

Der General von S-en verlangte die Leiche zu sehen, man führte ihn hin. Als man die Decke, womit der Leichnam verhüllt, hinabzog und der General das zum Tode erstarrte Antlitz des Grafen schaute, bebte er zurück, indem er laut ausrief: "Er ist es! — Bei Gott im Himmel, er ist es!" — In des Rittmeisters Arme war Angelika in sanften

Schlaf gesunken. Man brachte sie zur Ruhe. Der Arzt meinte, daß nichts wohltätiger über sie kommen könne als dieser Schlaf, der die bis zur Überspannung gereizten Lebensgeister wieder beruhige. So entgehe sie gewiß bedrohlicher Krankheit.

Keiner von den Gästen war mehr im Schlosse. "Nun ist es", rief der Obrist, "nun ist es einmal Zeit, die wunderbaren Geheimnisse zu lösen. Sage, Moritz, welch ein Engel des Himmels rief dich wieder ins Leben?"

"Sie wissen", begann Moritz, "auf welche meuchelmörderische Weise ich, als schon der Waffenstillstand geschlossen, in der Gegend von S. überfallen wurde. Von einem Schuß getroffen, sank ich entseelt vom Pferde. Wie lange ich in tiefer Todesohnmacht gelegen haben mag, weiß ich nicht. Im ersten Erwachen des dunklen Bewußtseins hatte ich die Empfindung des Fahrens. Es war finstre Nacht. Mehrere Stimmen flüsterten leise um mich her. Es war französisch, was sie sprachen. Also schwer verwundet und in der Gewalt des Feindes! — Der Gedanke faßte mich mit allen Schrecken, und ich versank abermals in tiefe Ohnmacht. Nun folgte ein Zustand, der mir nur einzelne Momente des heftigsten Kopfschmerzes als Erinnerung zurückgelassen hat. Eines Morgens erwachte ich zum hellsten Bewußtsein. Ich befand mich in einem saubern, beinahe prächtigen Bette, mit seidenen Gardinen und großen Quasten und Troddeln verziert. So war auch das hohe Zimmer mit seidenen Tapeten und schwer vergoldeten Tischen und Stühlen auf altfränkische Weise ausstaffiert. Ein fremder Mensch schaute mir, ganz hingebeugt, ins Gesicht und sprang dann an eine Klingelschnur, die er stark anzog. Wenige Minuten hatte es gewährt, als die Türe aufging und zwei Männer hineintraten, von denen der bejahrtere ein altmodisch gesticktes Kleid und das Ludwigskreuz trug. Der jüngere trat auf mich zu, fühlte meinen Puls und sprach zu dem ältern auf französisch: ,Alle Gefahr ist vorüber - er ist gerettet!'

Nun kündigte sich mir der Ältere als den Chevalier von T.

an, in dessen Schloß ich mich befände. Auf einer Reise begriffen, so erzählte er, kam er durch das Dorf gerade in dem Augenblick, als die meuchelmörderischen Bauern mich niedergestreckt hatten und mich auszuplündern im Begriff standen. Es gelang ihm, mich zu befreien. Er ließ mich auf einen Wagen packen und nach seinem Schloß, das weit entfernt aus aller Kommunikation mit den Militärstraßen lag, bringen. Hier unterzog sich sein geschickter Hauschirurgus mit Erfolg der schwierigen Kur meiner bedeutenden Kopfwunde. Er liebe, beschloß er, meine Nation, die ihm einst in der verworrenen bedrohlichen Zeit der Revolution Gutes erzeigt, und freue sich, daß er mir nützlich sein könne. Alles, was zu meiner Bequemlichkeit, zu meinem Trost gereichen könne, stehe mir in seinem Schloß zu Diensten, und dulden werde er unter keiner Bedingung, daß ich ihn früher verlasse, als bis alle Gefahr, die meine Wunde sowohl als die fortdauernde Unsicherheit der Straßen herbeiführe, vorüber sei. Er bedauerte übrigens die Unmöglichkeit, meinen Freunden zur Zeit Nachricht von meinem Aufenthalt zu geben.

Der Chevalier war Witwer, seine Söhne abwesend, so daß nur er allein mit dem Chirurgus und zahlreicher Dienerschaft das Schloß bewohnte. Ermüden könnt es nur, wenn ich weitläuftig erzählen wollte, wie ich unter den Händen des grundgeschickten Chirurgus immer mehr und mehr gesundete, wie der Chevalier alles aufbot, mir das einsiedlerische Leben angenehm zu machen. Seine Unterhaltung war geistreicher und sein Blick tiefer, als man es sonst bei seiner Nation findet. Er sprach über Kunst und Wissenschaft, vermied aber, so wie es nur möglich war, sich über die neuen Ereignisse auszulassen. Darf ich's denn versichern, daß mein einziger Gedanke Angelika war, daß es in meiner Seele brannte, sie in Schmerz versunken zu wissen über meinen Tod! — Ich lag dem Chevalier unaufhörlich an, Briefe von mir zu besorgen nach dem Hauptquartier. Er wies das von der Hand, indem er für die Richtigkeit der Besorgung nicht

einstehen könne, zumal der neue Feldzug so gut als gewiß sei. Er vertröstete mich, daß er, sowie ich nur ganz genesen, dafür sorgen werde, mich, geschehe auch, was da wolle, wohlbehalten in mein Vaterland zurückzubringen. Aus seinen Äußerungen mußt ich beinahe schließen, daß der Krieg wirklich aufs neue begonnen, und zwar zum Nachteil der Verbündeten, was er mir aus Zartgefühl verschwiege.

Doch nur der Erwähnung einzelner Momente bedarf es, um die seltsamen Vermutungen zu rechtfertigen, die Dagobert in sich trägt.

Beinahe fieberfrei war ich schon, als ich auf einmal zur Nachtzeit in einen unbegreiflichen träumerischen Zustand verfiel, vor dem ich noch erbebe, unerachtet mir nur die dunkle Erinnerung daran blieb. Ich sah Angelika, aber es war, als verginge die Gestalt in zitternden Schimmer, und vergebens ränge ich darnach, sie festzuhalten. Ein anderes Wesen drängte sich dazwischen und legte sich an meine Brust und erfaßte in meinem Innersten mein Herz, und in der glühendsten Qual untergehend, wurde ich durchdrungen von einem fremden wunderbaren Wonnegefühl. — Andern Morgens fiel mein erster Blick auf ein Bild, das dem Bette gegenüber hing und das ich dort niemals bemerkt. Ich erschrak bis in tiefster Seele, denn es war Marguerite, die mich mit ihren schwarzen, lebendigen Augen anstrahlte. Ich fragte den Bedienten, wo das Bild herkomme und wen es vorstelle. Er versicherte, es sei des Chevaliers Nichte, die Marquise von T., und das Bild habe immer da gehangen, nur sei es von mir bisher nicht bemerkt worden, weil es erst gestern vom Staube gereinigt. Der Chevalier bestätigte dies. So wie ich nun Angelika, wachend, träumend erschauen wollte, stand Marguerite vor mir. Mein eignes Ich schien mir entfremdet, eine fremde Macht gebot über mein Sein, und in dem tiefen Entsetzen, das mich erfaßte, war es mir, als könne ich Margueriten nicht lassen. Nie vergesse ich die Qual dieses grauenhaften Zustandes.

Eines Morgens liege ich im Fenster, mich erlabend in den

süßen Düften, die der Morgenwind mir zuweht; da erschallen in der Ferne Trompetenklänge. — Ich erkenne den fröhlichen Marsch russischer Reuterei, mein ganzes Herz geht mir auf in heller Lust, es ist, als wenn auf den Tönen freundliche Geister zu mir wallen und zu mir sprechen mit lieblichen tröstenden Stimmen, als wenn das wiedergewonnene Leben mir die Hände reicht, mich aufzurichten aus dem Sarge, in dem mich eine feindliche Macht verschlossen! — Mit Blitzesschnelle sprengen einzelne Reuter daher - auf den Schloßhof! —Ich schaue herab -,Bogislav! —mein Bogislav!' schrie ich auf im Übermaß des höchsten Entzückens! — Der Chevalier tritt ein, bleich - verstört - von unverhoffter Einquartierung - ganz fataler Unruhe stammelnd! — Ohne auf ihn zu achten, stürze ich herab und liege meinem Bogislav in den Armen!

Zu meinem Erstaunen erfuhr ich nun, daß der Friede schon längst geschlossen und der größte Teil der Truppen in vollem Rückmarsch begriffen. Alles das hatte mir der Chevalier verschwiegen und mich auf dem Schlosse wie seinen Gefangenen gehalten. Keiner, weder ich noch Bogislav konnten irgendein Motiv dieser Handlungsweise ahnen, aber jeder fühlte dunkel, daß hier irgend Unlauteres im Spiel sein müsse. Der Chevalier war von Stund an nicht mehr derselbe, bis zur Unart mürrisch, langweilte er uns mit Eigensinn und Kleinigkeitskrämerei, ja, als ich im reinsten Gefühl der Dankbarkeit mit Enthusiasmus davon sprach, wie er mir das Leben gerettet, lächelte er recht hämisch dazwischen und gebärdete sich wie ein launischer Grillenfänger.

Nach achtundvierzigstündiger Rast brach Bogislav auf, ich schloß mich ihm an. Wir waren froh, als wir die altväterische Burg, die mir nun vorkam wie ein düstres unheimliches Gefängnis, im Rücken hatten. — Aber nun fahre du fort, Dagobert, denn recht eigentlich ist nun an dir die Reihe, die seltsamen Ereignisse, die uns betroffen, fortzuspinnen."

"Wie mag", begann Dagobert, "wie mag man doch nur das wunderbare Ahnungsvermögen bezweifeln, das tief in der menschlichen Natur liegt. Nie habe ich an meines Freundes Tod geglaubt. Der Geist, der in Träumen verständlich aus dem Innern zu uns spricht, sagte es mir, daß Moritz lebe und daß die geheimnisvollsten Bande ihn irgendwo umstrickt hielten. Angelikas Verbindung mit dem Grafen zerschnitt mir das Herz. — Als ich vor einiger Zeit herkam, als ich Angelika in einer Stimmung fand, die mir, ich gestehe es, ein inneres Entsetzen erregte, weil ich, wie in einem magischen Spiegel, ein fürchterliches Geheimnis zu erblicken glaubte - ja! da reifte in mir der Entschluß, das fremde Land so lange zu durchpilgern, bis ich meinen Moritz gefunden. — Kein Wort von der Seligkeit, von dem Entzücken, als ich schon in A. auf deutschem Grund und Boden meinen Moritz wiederfand und mit ihm den General von S-en.

Alle Furien der Hölle erwachten in meines Freundes Brust, als er Angelikas Verbindung mit dem Grafen vernahm. Aber alle Verwünschungen, alle herzzerschneidende Klagen, daß Angelika ihm untreu worden, schwiegen, als ich ihm gewisse Vermutungen mitteilte, als ich ihm versicherte, daß es in seiner Macht stehe, alles Unwesen auf einmal zu zerstören. Der General S-en bebte zusammen, als ich den Namen des Grafen nannte, und als ich auf sein Geheiß sein Antlitz, seine Figur beschrieben, rief er aus: ,Ja, kein Zweifel mehr, er ist es, er ist es selbst.'"

"Vernehmen Sie", unterbrach hier der General den Redner, "vernehmen Sie mit Erstaunen, daß Graf S—i mir vor mehreren Jahren in Neapel eine teure Geliebte raubte durch satanische Künste, die ihm zu Gebote standen. Ja, in dem Augenblick, als ich ihm den Degen durch den Leib stieß, erfaßte sie und mich ein Höllenblendwerk, das uns auf ewig trennte! — Längst wußte ich, daß die Wunde, die ich ihm beigebracht, nicht einmal gefährlich gewesen, daß er sich um meiner Geliebten Hand beworben, ach! — daß sie an

demselben Tage, als sie getraut werden sollte, vom Nervenschlag getroffen, niedersank!"

"Gerechter Gott", rief die Obristin, "drohte denn nicht wohl gleiches Schicksal meinem Herzenskinde? — Doch wie komme ich denn darauf, dies zu ahnen?"

"Es ist", sprach Dagobert, "es ist die Stimme des ahnenden Geistes, Frau Obristin, die wahrhaft zu Ihnen spricht."

"Und die gräßliche Erscheinung", fuhr die Obristin fort, "von der uns Moritz erzählte an jenem Abende, als der Graf so unheimlich bei uns eintrat?"

"Es fiel", nahm Moritz das Wort, "es fiel, so erzählte ich damals, ein entsetzlicher Schlag, ein eiskalter Todeshauch wehte mich an, und es war, als rausche eine bleiche Gestalt in zitternden, kaum kenntlichen Umrissen durch das Zimmer. Mit aller Kraft des Geistes bezwang ich mein Entsetzen. Ich behielt die Besinnung, mein Bogislav war erstarrt zum Tode. Als er nach vielem Mühen zu sich selbst gebracht wurde vom herbeigerufenen Arzt, reichte er mir wehmütig die Hand und sprach: ,Bald - morgen schon enden meine Leiden!' — Es geschah, wie er vorausgesetzt, aber wie die ewige Macht des Himmels es beschlossen, auf ganz andere Weise, als er es wohl gemeint. Im dicksten wütendsten Gefecht am andern Morgen traf ihn eine matte Kartätschenkugel auf die Brust und warf ihn vom Pferde. Die wohltätige Kugel hatte das Bild der Ungetreuen, das er noch immer auf der Brust trug, in tausend Stücke zersplittert. Leicht war die Kontusion geheilt, und seit der Zeit hat mein Bogislav niemals etwas Unheimliches verspürt, das verstörend in sein Leben getreten sein sollte."

"So ist es", sprach der General, "und selbst das Andenken an die verlorne Geliebte erfüllt mich nur mit dem milden Schmerz, der dem innern Geist so wohltut. — Doch mag unser Freund Dagobert nur erzählen, wie es sich weiter mit uns begab."

"Wir eilten", nahm Dagobert das Wort, "wir eilten fort von A. Heute in der frühesten Morgendämmerung trafen

wir ein in dem kleinen Städtchen P., das sechs Meilen von hier entfernt. Wir gedachten einige Stunden zu rasten und dann weiterzureisen geradesweges hieher. Wie ward uns, meinem Moritz und mir, als aus einem Zimmer des Gasthofes uns Marguerite entgegenstürzte, den Wahnsinn im bleichen Antlitz. Sie fiel dem Rittmeister zu Füßen, umschlang heulend seine Knie, nannte sich die schwärzeste Verbrecherin, die hundertmal den Tod verdient, flehte ihn an, sie auf der Stelle zu ermorden. Moritz stieß sie mit dem tiefsten Abscheu von sich und rannte fort." —"Ja!" fiel der Rittmeister dem Freunde ins Wort, "ja, als ich Marguerite zu meinen Füßen erblickte, kamen alle Qualen jenes entsetzlichen Zustandes, den ich im Schlosse des Chevaliers erlitten, über mich und entzündeten eine nie gekannte Wut in mir. Ich war im Begriff, Margueriten den Degen durch die Brust zu stoßen, als ich, mich mit Gewalt bezähmend, davonrannte."

"Ich hob", fuhr Dagobert fort, "ich hob Margueriten von der Erde auf, ich trug sie in das Zimmer, es gelang mir, sie zu beruhigen und in abgerissenen Reden von ihr zu erfahren, was ich geahnet. Sie gab mir einen Brief, den sie von dem Grafen gestern um Mitternacht erhalten. Hier ist er!"

Dagobert zog einen Brief hervor, schlug ihn auseinander und las:

"Fliehen Sie, Marguerite! — Alles ist verloren! — Er naht, der Verhaßte. Alle meine Wissenschaft reicht nicht hin gegen das dunkle Verhängnis, das mich erfaßt am höchsten Ziel meines Seins. — Marguerite! ich habe Sie in Geheimnisse eingeweiht, die das gewöhnliche Weib, das darnach strebte, vernichtet haben würden. Aber mit besonderer geistiger Kraft, mit festem starkem Willen ausgerüstet, waren Sie eine würdige Schülerin des tief erfahrnen Meisters. Sie haben mir beigestanden. Durch Sie herrschte ich über Angelikas Gemüt, über ihr ganzes inneres Wesen. Dafür wollt ich Ihnen das Glück des Lebens bereiten, wie es in Ihrer Seele

lag, und betrat die geheimnisvollsten gefährlichsten Kreise, begann Operationen, vor denen ich oft mich selbst entsetzte. Umsonst! — fliehen Sie, sonst ist Ihr Untergang gewiß. — Bis zum höchsten Moment trete ich kühn der feindlichen Macht entgegen. Aber ich fühl es, dieser Moment gibt mir den jähen Tod! — Ich werde einsam sterben. Sowie der Augenblick gekommen, wandre ich zu jenem wunderbaren Baum, unter dessen Schatten ich oft von den wunderbaren Geheimnissen zu Ihnen sprach, die mir zu Gebote stehen. Marguerite! — entsagen Sie für immer diesen Geheimnissen. Die Natur, die grausame Mutter, die abhold geworden den entarteten Kindern, wirft den vorwitzigen Spähern, die mit kecker Hand an ihrem Schleier zupfen, ein glänzendes Spielzeug hin, das sie verlockt und seine verderbliche Kraft gegen sie selbst richtet. — Ich erschlug einst ein Weib in dem Augenblick, als ich wähnte, es in der höchsten Inbrunst aller Liebe zu umfangen. Das lähmte meine Kraft, und doch hoffte ich wahnsinniger Tor noch auf irdisches Glück! — Leben Sie wohl, Marguerite! — Gehen Sie in Ihr Vaterland zurück. — Gehen Sie nach S. Der Chevalier von T. wird für Ihr Glück sorgen. — Leben Sie wohl!" —

Als Dagobert den Brief gelesen, fühlten sich alle von innerm Schauer durchbebt.

"So muß ich", begann endlich die Obristin leise, "so muß ich an Dinge glauben, gegen die sich mein innerstes Gemüt sträubt. Aber gewiß ist es, daß es mir ganz unbegreiflich blieb, wie Angelika so bald ihren Moritz vergessen und sich ganz dem Grafen zuwenden konnte. Nicht entgangen ist mir indessen, daß sie sich fast beständig in einem exaltierten Zustande befand, und eben dies erfüllte mich mit den quälendsten Besorgnissen. Ich erinnere mich, daß sich Angelikas Neigung zum Grafen zuerst äußerte auf besondere Weise. Sie vertraute mir nämlich, wie sie beinahe in jeder Nacht von dem Grafen sehr lebhaft und angenehm träume."

"Ganz recht", nahm Dagobert das Wort, "Marguerite gestand

mir ein, daß sie auf des Grafen Geheiß Nächte über bei Angelika zugebracht und leise, leise, mit lieblicher Stimme ihr des Grafen Namen ins Ohr gehaucht. Ja, der Graf selbst sei manchmal um Mitternacht in die Türe getreten, habe minutenlang den starren Blick auf die schlafende Angelika gerichtet und sich dann wieder entfernt. — Doch bedarf es jetzt, da ich des Grafen bedeutungsvollen Brief vorgelesen, wohl noch eines Kommentars? — Gewiß ist es, daß er darauf ausging, durch allerlei geheime Künste auf das innere Gemüt psychisch zu wirken, und daß ihm dies vermöge besonderer Naturkraft gelang. Er stand mit dem Chevalier von T. in Verbindung und gehörte zu jener unsichtbaren Schule, die in Frankreich und Italien einzelne Glieder zählt und aus der alten P-schen Schule entstanden sein soll. — Auf seinen Anlaß hielt der Chevalier den Rittmeister fest in seinem Schlosse und übte an ihm allerlei bösen Liebeszauber. — Ich könnte weiter eingehen in die geheimnisvollen Mittel, vermöge der der Graf wußte sich des fremden psychischen Prinzips zu bemeistern, wie sie Marguerite mir entdeckte, ich könnte manches erklären aus einer Wissenschaft, die mir nicht unbekannt, deren Namen ich aber nicht nennen mag, aus Furcht, mißverstanden zu werden - doch man erlasse mir dieses wenigstens für heute." — "Oh, für immer", rief die Obristin mit Begeisterung, "nichts mehr von dem finstern unbekannten Reich, wo das Grauen wohnt und das Entsetzen! — Dank der ewigen Macht des Himmels, die mein liebes Herzenskind gerettet, die uns befreit hat von dem unheimlichen Gast, der so verstörend in unser Haus trat." — Man beschloß, andern Tages nach der Stadt zurückzukehren. Nur der Obrist und Dagobert blieben, um die Beerdigung des Grafen zu besorgen.

Längst war Angelika des Rittmeisters glückliche Gattin. Da geschah es, daß an einem stürmischen Novemberabend die Familie mit Dagobert in demselben Saal am lodernden Kaminfeuer saß wie damals, als Graf S—i so gespenstisch durch die Türe hineinschritt. Wie damals heulten und pfiffen

wunderliche Stimmen durcheinander, die der Sturmwind in den Rauchfängen aus dem Schlafe aufgestört. "Wißt ihr wohl noch", fragte die Obristin mit leuchtenden Blicken — "erinnert ihr euch noch?" — "Nur keine Gespenstergeschichten!" rief der Obrist, aber Angelika und Moritz sprachen davon, was sie an jenem Abende empfunden und wie sie schon damals sich über alle Maßen geliebt, und konnten nicht aufhören, des kleinsten Umstandes zu erwähnen, der sich damals begeben, wie in allem nur der reine Strahl ihrer Liebe sich abgespiegelt und wie selbst die süßen Schauer des Grauens sich nur aus liebender sehnsüchtiger Brust erhoben und wie nur der unheimliche Gast, von den gespenstischen Unkenstimmen verkündigt, alles Entsetzen über sie gebracht. "Ist es", sprach Angelika, "ist es, mein Herzens-Moritz, denn nicht so, als wenn die seltsamen Töne des Sturmwindes, die sich eben jetzt hören lassen, gar freundlich zu uns von unserer Liebe sprächen?" — "Ganz recht", nahm Dagobert das Wort, "ganz recht, und selbst das Pfeifen und Zirpen und Zischen der Teemaschine klingt gar nicht im mindesten mehr graulich, sondern, wie mich dünkt, ungefähr so, als besänne sich das darin verschlossene artige Hausgeistlein auf ein hübsches Wiegenlied."

Da barg Angelika das in hellen Rosenflammen aufglühende Antlitz im Busen des überglücklichen Moritz. Der schlang aber den Arm um die holde Gattin und lispelte leise: "Gibt es denn noch hienieden eine höhere Seligkeit als diese?"



"Ich merk es wohl", sprach Ottmar, als er die Erzählung geendet hatte und die Freunde in mürrischem Stillschweigen verharrten, "ich merk es wohl, ihr seid von meinem Geschichtlein eben nicht sonderlich erbaut. Wir wollen daher nicht weiter viel darüber reden, sondern es der Vergessenheit hingeben."

"Das Beste, was wir tun können", erwiderte Lothar.

"Und doch", nahm Cyprian das Wort, "und doch muß ich meinen Freund in Schutz nehmen. Zwar könntet ihr sagen, daß ich in gewisser Art Partei bin, da Ottmar zu seinem Gericht manches Gewürz von mir empfing und diesmal ganz eigentlich in meiner Küche kochte, mir also gar kein Urteil anmaßen darf, indessen werdet ihr doch selbst, wollt ihr nicht, echte Rhadamanthen, alles schonungslos verdammen, zugestehen müssen, daß manches in Ottmars Erzählung für serapiontisch gelten kann, wie zum Beispiel gleich der Anfang -" "Ganz recht", unterbrach Theodor den Freund, "die Gesellschaft bei der Teemaschine mag für lebendig gelten, sowie manches andere im Verlauf der Geschichte, aber aufrichtig gestanden, mit dergleichen gespenstischen unheimlichen Gestalten wie der fremde Graf sind wir schon ein wenig stark geschoren worden, und es möchte schwerfallen, ihnen noch fürder Neuheit und Originalität zu geben. Der fremde Graf gleicht dem Alban in dem ,Magnetiseur' (ihr kennt die Geschichte), so wie überhaupt diese Erzählung mit Ottmars seiner eigentlich dieselbe Basis hat. Ich möchte daher sowohl unsern Ottmar als dich, mein Cyprianus, bitten, dergleichen Unholde künftig ganz aus dem Spiel zu lassen. Ottmarn wird das möglich sein, dir, Cyprian, aber, glaub ich, niemals. Dir werden wir daher wohl erlauben müssen, dann und wann solch einen Spuk aufzustellen, und nur die Bedingung machen können, daß er wahrhaft serapiontisch, das heißt recht aus der Tiefe deiner Phantasie hervorgegangen sei. Außerdem aber scheint der ,Magnetiseur' rhapsodisch, der ,Unheimliche Gast' ist es aber in der Tat."

"Auch hier", sprach Cyprian, "muß ich meinen Freund in Schutz nehmen. — Wißt, daß unlängst hier ganz in der Nähe sich wirklich eine Begebenheit zutrug, die Ähnliches hat mit dem Inhalt des ,Unheimlichen Gastes'. In einen stillen gemütlichen Familienkreis trat, als eben allerlei Gespenstergeschichten aufgetischt wurden, plötzlich ein Fremder,

der allen unheimlich und grauenhaft erschien, seiner scheinbaren Flachheit und Alltäglichkeit unerachtet. Dieser Fremde verstörte aber durch sein Erscheinen nicht nur den frohen Abend, sondern dann das Glück, die Ruhe der ganzen Familie auf lange Zeit. Ein glückliches Weib ergreifen noch heute Todesschauer, wenn sie an die Arglist und Bosheit denkt, mit der jener Fremde sie in sein Netz verlocken wollte. Diese Begebenheit erzählte ich nun damals Ottmarn, und nichts wirkte auf ihn mehr als der Moment, wie der Fremde plötzlich gespenstisch hineintritt und mit dem jähen Schreck, zu dem das aufgeregte Gemüt geneigt, die Ahnung des feindlichen Prinzips alle ergreift. Dieser Moment ging lebendig auf in Ottmars Innern und schuf die ganze Erzählung."

"Da aber", unterbrach Ottmar lächelnd den Freund, "ein einzelner Moment, eine Situation noch lange keine Erzählung ist, vielmehr diese in ihrem ganzen Umfange, mit allen Einzelnheiten, Beziehungen und sonst, fix und fertig hervorspringen muß wie Minerva aus Jupiters Haupt, so konnte das Ganze nicht besonders geraten, und es half mir wenig, daß ich einzelne Züge aus der Wirklichkeit nutzte und doch vielleicht nicht ohne alles Geschick in das Phantastische hineinschob."

"Ja", sprach Lothar, "du hast recht, mein Freund! Ein einzelner frappanter Moment ist noch lange keine Erzählung, so wie eine einzelne glückliche erfundene dramatische Situation noch lange kein Theaterstück. Mir fällt dabei die Art ein, wie ein Theaterdichter, der nicht mehr auf der Erde wandelt und dessen Schauer und Entsetzen erregender Tod wohl seine ärgsten Widersacher versöhnt, sein Schuldbuch vertilgt haben mag, wie der seine Theaterstücke zu fabrizieren pflegte. In einer Gesellschaft, der ich selbst beiwohnte, gestand er ohne Hehl, daß er irgendeine gute dramatische Situation, die ihm aufgegangen, erfasse und dann, dieser allein zu Gefallen, irgendeinen Kanevas zusammenleime, gleichsam so drum herum hinge. — Seine eigenen Worte! —

Diese Erklärung gab mir den vollständigsten Aufschluß über das innerste Wesen, den eigentümlichsten Charakter der Stücke jenes Dichters, vorzüglich aus der letzten Zeit. Keinem derselben fehlt es an irgendeiner sehr glücklich, ja oft genial erfundenen Situation. Um diese herum sind aber die Szenen, welche einen magern alltäglichen Stoff mühsam fortschleppen, gewoben wie ein lockres loses Gespinst, jedoch ist die im Technischen vielgeübte Hand des Webers niemals zu verkennen."

"Niemals?" sprach Theodor, "ich dächte doch jedesmal da, wo der nur Gemeinplätzen und alltäglicher Erbärmlichkeit huldigende Dichter sich ins Romantische, wahrhaft Poetische versteigen wollte. Das merkwürdigste traurigste Beispiel davon gibt das sogenannte romantische Schauspiel ,Deodata', ein kurioser Wechselbalg, an dem ein wackrer Komponist nicht gute Musik hätte verschwenden sollen. Es gibt kein naiveres Bekenntnis des gänzlichen Mangels an innerer Poesie, des gänzlichen Nichtahnens höheren dramatischen Lebens, als wenn der Dichter der ,Deodata' in dem Vorwort die Oper deshalb verwirft, weil es unnatürlich sei, daß die Leute auf dem Theater sängen, und dann versichert, er habe sich bemüht, in folgendem romantischem Schauspiel den Gesang, den er eingemischt, natürlich herbeizuführen." "Laß ruhn, laß ruhn die Toten", rief Cyprian. "Und das", sprach Lothar, "und das um so mehr, als, wie mich dünkt, schon die Mitternachtsstunde naht, die der selige Mann nutzen könnte, uns, wie er es im Leben seinen Rezensenten anzutun pflegte, einige Ohrfeigen zuzuteilen mit unsichtbarer Krallenfaust." In dem Augenblick rollte der Wagen heran, den Lothar des noch entkräfteten Theodors halber herausbestellt hatte und in dem die Freunde zurückkehrten nach der Stadt.


Sechster Abschnitt

Den Sylvester, den sonst nichts in der Welt zu bewegen vermochte, zur schönen Jahreszeit das Land zu verlassen, hatte doch eine unwiderstehliche psychische Gewalt nach der Stadt gezogen. Es sollte nämlich ein kleines Theaterstück, das er unlängst gedichtet, aufgeführt werden, und es scheint unmöglich, daß ein Dichter die erste Darstellung seines Werks versäume, hat er auch dabei mit vieler Angst und Not zu kämpfen.

Auch Vinzenz hatte sich wieder aus dem Gewühl hervorgefunden, so war aber der Serapionsklub wenigstens für den Augenblick wiederhergestellt, und die Brüder versammelten sich in demselben freundlichen Gastgarten, in dem sie ihre letzte Zusammenkunft gehalten.

Sylvester schien nicht derselbe, er war heitrer, gesprächiger als jemals und schien überhaupt wie einer, dem ein großes Glück widerfahren.

"War es", sprach Lothar, "war es nicht vernünftig, daß wir unsere Zusammenkunft aufschoben, bis unseres Freundes Stück aufgeführt worden? — Wir hätten unsern guten Serapionsbrüder zerstreut, teilnahmlos, ja wie von einer schweren Last gedrückt gefunden. Immer hätte ihn sein eignes Werk wie ein böser Popanz geneckt und gefoppt, aber nun, nachdem es eigentlich erst entpuppt und als schöner Schmetterling emporgeflattert, der um mannigfache Gunst

nicht umsonst gebuhlt hat, nun ist alles klar und hell in seinem Gemüt. Er steht verklärt in dem Glanz des verdienten, ihm reichlich gespendeten Beifalls, und wir wollen es ihm nicht einen Augenblick verdenken, wenn er heute etwas stolz auf uns herabsieht, da keiner imstande, es ihm nachzumachen und sechs- oder achthundert Menschen mit einem Schlage zu elektrisieren. — Aber jedem das Seine, dein kleines Stück ist gut, Sylvester, aber du mußt es gestehen, daß die vortreffliche Aufführung dem Werk erst recht tüchtige Flügel ansetzte. Du bist gewiß mit den Schauspielern im höchsten Grade zufrieden."

"Allerdings", erwiderte Sylvester, "wiewohl es sehr schwer ist, daß ein Theaterdichter mit der Aufführung seines Werks zufrieden sein solle. Ist er nicht selbst jede Person seines Stücks, deren eigentümlichste Charakteristik mit allen ihren Bedingungen sich in seinem eignen Innern erzeugt hat, und scheint es nicht unmöglich, daß ein anderer sich jenen innersten Gedanken, der die Person geboren, so aneigne oder vielmehr so ganz in sich aufnehme, um ihn rein und unverstört zum regen Leben herauszufordern? —Aber der störrische Dichter will, daß dies geschehe, und je lebendiger die Person des Stücks in ihm aufgegangen, desto unzufriedener wird er mit der geringsten Abweichung sein, die er in der Gestaltung, in dem Spiel des Schauspielers findet. Gewiß ist es, daß daher der Dichter an einer Befangenheit leidet, die ihm den Genuß seines Werks verdirbt, und daß nur dann, wenn er sich dieser Befangenheit zu entschwingen, wenn er seine Dichtung, seine Personen als losgelöst von seinem Innern, objektiv zu betrachten vermag, sein Werk ihn nach Umständen erfreuen kann."

"Aber", nahm Ottmar das Wort, "aller Ärger, den ein Theaterdichter empfinden mag, wenn er, statt seiner, andere und noch dazu den seinen ganz unähnliche Personen auftreten sieht, wird reichlich aufgewogen durch den Beifall des Publikums, für den sich kein Künstler verschließen kann und soll."

"Allerdings", sprach Sylvester weiter, "allerdings, und da der Beifall zunächst dem darstellenden Künstler gezollt wird, so überzeugt sich der Dichter, der auf seinem entfernten Plätzchen mit Zittern und Zagen, ja oft mit Ärger und Unmut zuschaut, zuletzt, auch die fremde Person, die auf den Brettern der seinigen wenigstens die Worte nachspricht, sei gar nicht so übel, wie man denken solle. Gewiß ist es auch, und kein humaner, nicht in sich selbst ganz versessener Dichter wird es leugnen, daß mancher geniale Schauspieler, dem die Person des Stücks in wahrer Lebensfarbe aufgegangen, dem Dichter eine Charakteristik zu erschließen vermag, an die er selbst wenigstens nicht deutlich dachte und dennoch für wahr anerkennen muß. Der Dichter schaut eine Person, die aus seinen innersten Elementen geboren, jedoch in ihm fremdartiger Gestaltung, aber eben diese Gestaltung entspricht jenen Elementen, ja es scheint unmöglich, daß sie anders sein könne, und er gerät über das, was, ohne sein zu scheinen, doch sein ist, in ein freudiges Erstaunen, als ob er im engen Stüblein plötzlich einen Schatz gefunden, dessen Existenz er nicht geahnet."

"Da", nahm Ottmar das Wort, "da höre ich meinen lieben gutmütigen Sylvester, dem jene Eitelkeit völlig fremd ist, an der manches große wahrhafte Talent den Erstickungstod stirbt. Irgendein Theaterdichter hat einmal unverhohlen geäußert, daß es durchaus keine Schauspieler gebe, die imstande sein sollten, den ihm inwohnenden Geist zu erkennen und die Personen, die er schaffe, darzustellen. —Wie so ganz anders war es mit unserm großen herrlichen Schiller! Der geriet einmal wirklich in jenes freudige Erstaunen, von dem Sylvester spricht, als er den Wallenstein darstellen sah, und versicherte, nun erst stehe sein Held ihm recht lebendig in Fleisch und Blut vor Augen. Der den Wallenstein darstellte, war aber Fleck, der ewig unvergeßliche Heros unsrer Bühne."

"Überhaupt", sprach Lothar, "bin ich überzeugt, und das Beispiel, welches Ottmar soeben anführt, gibt den besten

Beweis davon, daß der Dichter, dem in der Tiefe des Gemüts die wahrhaftige Erkenntnis der Kunst und mit ihr auch die Andacht aufgegangen, die den schaffenden Geist im Universum anbetet, sich nicht herabzuwürdigen vermag zu dem schnöden Götzendienst, der nichts verehrt als sein eignes Ich, als einzig alles Vortreffliche gebärenden Fetisch. — Sehr leicht wird ein großes Talent für ein wahrhaftes Genie geachtet, aber die Zeit vernichtet jede Täuschung, indem das Talent ihren Angriffen erliegt, während sie über das wahrhafte Genie, das in unverletzlicher Schönheit und Stärke fortlebt, nichts vermag! — Um aber wieder auf unsern Sylvester und sein Theaterstück zurückzukommen, so muß ich euch bekennen, daß ich gar nicht zu begreifen vermag, wie jemand zu dem heroischen Entschluß kommen kann, ein Opus, das er seiner regen Phantasie und glücklichen schöpferischen Augenblicken verdankt, vor sich auf den schlüpfrigen schwankenden Brettern des Theaters heragieren zu lassen!"

Die Freunde lachten und meinten, daß Lothar nach seiner gewöhnlichen Art und Weise wieder mit einer ganz absonderlichen Meinung hervortreten würde.

"Bin ich", sprach Lothar, "bin ich denn solch ein absonderlicher Mensch, der manchmal meint, was kein anderer zu meinen gerade aufgelegt ist? — Nun, mag es dem sein, wie ihm wolle, ich wiederhole, daß, wenn ein ordentlicher Dichter mit treuem wahrhaftem Gemüt, wie unser Sylvester, ein Stück aufs Theater bringt, es mich bedünken will, als entschlösse er sich auf gut Glück durchs Fenster zu springen aus dem dritten Stock des Hauses! — Ich will es euch nur gestehen! — Als ich euch versicherte, ich sei, da Sylvesters Stück gegeben wurde, gar nicht im Theater gewesen, sondern urteile nur von Hörensagen, so habe ich euch mit eurer gütigen Erlaubnis belogen! — Allerdings saß ich auf einem entfernten Plätzchen, ein zweiter Sylvester, ein zweiter Dichter des Stücks. Denn unmöglich war bei ihm selbst die Spannung, das seltsame, aus Lust und Unmut, aus beinahe

bis zur Angst gesteigerter Befangenheit zusammengesetzte Gefühl stärker als bei mir. Jedes Wort des Schauspielers, jede seiner Bewegungen, die mir nicht richtig schien, versetzte mir den Atem, und ich dachte: O du mein Himmel, kann das wirken, kann das gefallen? — und ist denn der Dichter daran schuld?"

"Du machst", nahm Sylvester das Wort, "das Ding zu arg. Auch mir versetzt, vorzüglich fängt das Stück an, eine schlimme Beklommenheit den Atem, die sich, geht das Ding gut vonstatten, äußert sich das Publikum gnädig, aber immer mehr und mehr verliert und einem sehr angenehmen Gefühl Platz macht, woran freilich das egoistische Wohlgefallen an der eignen Schöpfung den größten Anteil haben mag."

"0 ihr Theaterdichter", rief Vinzenz, "ihr seid die eitelsten, die es gibt, euch ist der Beifall der Menge der wahre Honig von Hybla, den ihr genießt mit süßen Mienen! — Doch ich will den Advocatum diaboli machen und beibringen, daß euch eure Angst, eure Beklommenheit, die mancher bloß für den Krampf der Eitelkeit, der Gefallsucht halten möchte, ebensowenig zu verdenken ist als jedem, der ein hohes gewagtes Spiel spielt. Ihr setzt euer Ich ein, und Beifall ist der Gewinn, der Verlust aber nicht allein verwundender Tadel, sondern noch, steigt dieser bis zu unverhohlner öffentlicher Äußerung, jener Makel des Lächerlichen, der das ärgste und wenigstens nach der Meinung der Franzosen die fürchterlichste Verdammnis ist, die ein Mensch hienieder dulden kann. — Tugendhafte Franzmänner wollen daher ja auch viel lieber für ausgemachte Schurken gelten, als lächerlich erscheinen. — Ganz gewiß ist es, daß den ausgepochten Theaterdichter immer der Fluch des Lächerlichen trifft, den er oft zeit seines Lebens nicht abschüttelt. Selbst nachheriger Beifall bleibt zweideutig, und schon mancher, dem .dergleichen geschah, ist verzweiflungsvoll in die triste Einöde jener Dichtungen geflohen, die sich wie Schauspiele gebärden, indessen, wie der Autor auf das

heiligste versichert, durchaus nicht für das Theater bestimmt sind."

"Ich gebe", sprach Theodor, "euch beiden, Lothar und Vinzenz, aus tiefer Überzeugung vollkommen recht, daß es für einen Dichter, zumal aber einen Komponisten, ein gar gewagtes Spiel ist, ein Werk auf das Theater zu bringen. Es heißt sein Eigentum preisgeben dem Winde und den Wellen. Bedenkt man nämlich, von welchen tausend Zufälligkeiten die Wirkung eines Stücks abhängt, wie oft der gedachte und wohlberechnete Effekt irgendeiner Stelle an dem Ungeschick eines einzigen Sängers, eines einzigen Instrumentalisten scheitert, wie oft -"

"Hört! hört!" unterbrach Vinzenz den Freund, "hört! hört! rufe ich wie die edlen Lords im englischen Parlament, wenn ein edler Lord im Begriff steht, recht aus der Schule zu schwatzen. Theodor hat eben nichts im Sinn als die Oper, die er vor ein paar Jahren auf das Theater brachte! ,Da ich nun', sprach er ,ein Dutzend mißlungene Proben angeschaut habe, da noch selbst in der letzten Hauptprobe der Maestro mit meiner Partitur nicht ganz im reinen war, so wie mit dem Verständnis des ganzen Werks überhaupt, so bin ich über die Zweideutigkeit des Schicksals, das gleich einer schwarzen Wolke über meiner Dichtung hängt, ganz beruhigt. Fällt mein Werk, so falle es denn! mir ist alle Besorgnis deshalb benommen, ich bin hinweg über alle Angst und Beklommenheit des Autors -' — und was dergleichen schöne Redensarten noch mehr waren. Genug, als ich am Tage der Aufführung meinen Freund sah und die Zeit da war, nach dem Theater zu gehen, wurde er plötzlich leichenblaß, lachte aber dabei ungemein, niemand wußte recht worüber, versicherte sehr heftig, beinahe habe er vergessen, daß seine Oper heute gegeben würde, wollte durchaus, als er den Überrock anzuziehen unternahm, den rechten Arm in den linken Ärmel stecken, so daß ihm meine Beihülfe nötig, rannte dann, ohne ein Wort zu sprechen, wie besessen über die Straße und fiel, als in dem Augenblick, da er in die Loge

treten wollte, der erste Akkord der Ouvertüre losschlug, dem erschrockenen Logenschließer in die Arme, dann aber -"

"Still! still!" rief Theodor, "was meine Oper und deren Aufführung betrifft, so will ich euch, sollt es euch einmal wieder gemütlich sein, über Musik zu sprechen, manches darüber sagen, aber heute kein Wort davon, kein einziges Wörtchen -"

"Schon viel zuviel", nahm Lothar das Wort, "haben wir überdem über ein und dasselbe geschwatzt, und zum Schluß will ich nur noch bemerken, daß mir das Anekdötchen von Voltaire sehr wohl gefällt, der einmal, als ein Trauerspiel - irr ich nicht, so war es ,Zaire' — gegeben werden sollte, über das Schicksal seines Werks in solch schrecklicher Angst war, daß er es gar nicht wagte, in das Theater zu gehen. Auf dem ganzen Wege von dem Theater bis zu seiner Wohnung waren aber Boten ausgestellt, die von Moment zu Moment ihm telegraphische Nachrichten von dem Gange des Stücks zubringen mußten, so daß er auf seiner Stube im Schlafrock alle Qualen, alle Lust des Autors gemächlich zu empfinden imstande war."

"Sollte", sprach Sylvester, "sollte dies Anekdötlein nicht eine gute Theaterszene geben und zugleich eine tüchtige Aufgabe für einen Schauspieler sein, der die sogenannten Charakterrollen spielt? — Man denke sich Voltaire auf der Bühne - er empfängt die Nachrichten: ,Das Publikum ist unruhig!' — ,Ha', ruft er, ,ist es möglich, deine Teilnahme zu erregen, leichtsinniges Volk! —' —,Das Publikum applaudiert, schreit vor Entzücken!' — ,Ha! wackre Franzosen, ihr versteht euern Voltaire und habt ihn -' — ,Das Publikum zischt, auch lassen sich Pfeiflein hören!' — ,Verräter, treulose! — das mir, das mir -"

"Halt, halt", rief Ottmar, "Sylvester macht uns hier in der Begeisterung des Beifalls, den er errungen, auf der Stelle ein ganzes Lustspiel, statt daß er als ein würdiger Serapionsbrüder für uns sorgen und die Erzählung vorlesen soll,

deren sehr anziehenden Stoff er mir vor einiger Zeit brieflich mitteilte und die er, wie ich weiß, ausgearbeitet und mitgebracht hat."

"Wir haben", sprach Sylvester, "soeben an Voltaire ge. dacht, ihr möget daher, meine teuren Serapionsbrüder, an sein ,Siecle de Louis XIV.' und an dies Zeitalter überhaupt selbst denken, aus dem ich die Erzählung entnommen, die ich demütigst eurer gütigen Aufnahme empfehle." Sylvester las:


Das Fräulein von Scudéri



Erzählung aus dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten

In der Straße St. Honoré war das kleine Haus gelegen, welches Magdaleine von Scudéri, bekannt durch ihre anmutigen Verse, durch die Gunst Ludwig des XIV. und der Maintenon, bewohnte.

Spät um Mitternacht - es mochte im Herbste des Jahres 1680 sein - wurde an dieses Haus hart und heftig angeschlagen, daß es im ganzen Flur laut widerhallte. — Baptiste, der in des Fräuleins kleinem Haushalt Koch, Bedienten und Türsteher zugleich vorstellte, war mit Erlaubnis seiner Herrschaft über Land gegangen zur Hochzeit seiner Schwester, und so kam es, daß die Martiniere, des Fräuleins Kammerfrau, allein im Hause noch wachte. Sie hörte die wiederholten Schläge, es fiel ihr ein, daß Baptiste fortgegangen und sie mit dem Fräulein ohne weitern Schutz im Hause geblieben sei; aller Frevel von Einbruch, Diebstahl und Mord, wie er jemals in Paris verübt worden, kam ihr in den Sinn, es wurde ihr gewiß, daß irgendein Haufen Meuter, von der Einsamkeit des Hauses unterrichtet, da draußen tobe und, eingelassen, ein böses Vorhaben gegen die Herrschaft ausführen wolle, und so blieb sie in ihrem Zimmer, zitternd und zagend und den Baptiste verwünschend samt seiner Schwester Hochzeit. Unterdessen donnerten

die Schläge immer fort, und es war ihr, als rufe eine Stimme dazwischen: "So macht doch nur auf um Christus willen, so macht doch nur auf!" Endlich, in steigender Angst, ergriff die Martiniere schnell den Leuchter mit der brennenden Kerze und rannte hinaus auf den Flur; da vernahm sie ganz deutlich die Stimme des Anpochenden: "Um Christus willen, so macht doch nur auf!" In der Tat, dachte die Martiniere, so spricht doch wohl kein Räuber; wer weiß, ob nicht gar ein Verfolgter Zuflucht sucht bei meiner Herrschaft, die ja geneigt ist zu jeder Wohltat. Aber laßt uns vorsichtig sein! — Sie öffnete ein Fenster und rief hinab, wer denn da unten in später Nacht so an der Haustür tobe und alles aus dem Schlafe wecke, indem sie ihrer tiefen Stimme so viel Männliches zu geben sich bemühte als nur möglich. In dem Schimmer der Mondesstrahlen, die eben durch die finstern Wolken brachen, gewahrte sie eine lange, in einen hellgrauen Mantel gewickelte Gestalt, die den breiten Hut tief in die Augen gedrückt hatte. Sie rief nun mit lauter Stimme, so daß es der unten vernehmen konnte: "Baptiste, Claude, Pierre, steht auf und seht einmal zu, welcher Taugenichts uns das Haus einschlagen will!" Da sprach es aber mit sanfter, beinahe klagender Stimme von unten herauf: "Ach! la Martiniere, ich weiß ja, daß Ihr es seid, liebe Frau, sosehr Ihr Eure Stimme zu verstellen trachtet, ich weiß ja, daß Baptiste über Land gegangen ist und Ihr mit Eurer Herrschaft allein im Hause seid. Macht mir nur getrost auf, befürchtet nichts. Ich muß durchaus mit Eurem Fräulein sprechen, noch in dieser Minute." — "Wo denkt Ihr hin", erwiderte die Martiniere, "mein Fräulein wollt Ihr sprechen mitten in der Nacht? Wißt Ihr denn nicht, daß sie längst schläft und daß ich sie um keinen Preis wecken werde aus dem ersten süßesten Schlummer, dessen sie in ihren Jahren wohl bedarf." —"Ich weiß", sprach der Untenstehende, "ich weiß, daß Euer Fräulein soeben das Manuskript ihres Romans, ,Clelia' geheißen, an dem sie rastlos arbeitet, beiseite gelegt hat und jetzt noch einige Verse aufschreibt, die sie morgen bei der Marquise de Maintenon vorzulesen gedenkt. Ich beschwöre Euch, Frau Martiniere, habt die Barmherzigkeit und öffnet mir die Türe. Wißt, daß es darauf ankommt, einen Unglücklichen vom Verderben zu retten, wißt, daß Ehre, Freiheit, ja das Leben eines Menschen abhängt von diesem Augenblick, in dem ich Euer Fräulein sprechen muß. Bedenkt, daß Eurer Gebieterin Zorn ewig auf Euch lasten würde, wenn sie erführe, daß Ihr es waret, die den Unglücklichen, welcher kam, ihre Hülfe zu erflehen, hartherzig von der Türe wieset." — "Aber warum sprecht Ihr denn meines Fräuleins Mitleid an in dieser ungewöhnlichen Stunde, kommt morgen zu guter Zeit wieder", so sprach die Martiniere herab; da erwiderte der unten: "Kehrt sich denn das Schicksal, wenn es verderbend wie der tötende Blitz einschlägt, an Zeit und Stunde? Darf, wenn nur ein Augenblick Rettung noch möglich ist, die Hülfe aufgeschoben werden? Öffnet mir die Türe, fürchtet doch nur nichts von einem Elenden, der, schutzlos, verlassen von aller Welt, verfolgt, bedrängt von einem ungeheuern Geschick, Euer Fräulein um Rettung anflehen will aus drohender Gefahr!" Die Martiniere vernahm, wie der Untenstehende bei diesen Worten vor tiefem Schmerz stöhnte und schluchzte; dabei war der Ton von seiner Stimme der eines Jünglings, sanft und eindringend tief in die Brust. Sie fühlte sich im Innersten bewegt, ohne sich weiter lange zu besinnen, holte sie die Schlüssel herbei.

Sowie sie die Türe kaum geöffnet, drängte sich ungestüm die im Mantel gehüllte Gestalt hinein und rief, der Martiniere vorbeischreitend in den Flur, mit wilder Stimme: "Führt mich zu Euerm Fräulein!" Erschrocken hob die Martiniere den Leuchter in die Höhe, und der Kerzenschimmer fiel in ein todbleiches, furchtbar entstelltes Jünglingsantlitz. Vor Schrecken hätte die Martiniere zu Boden sinken mögen, als nun der Mensch den Mantel auseinanderschlug und der blanke Griff eines Stiletts aus dem Brustlatz hervorragte. Es blitzte der Mensch sie an mit funkelnden Augen und rief

noch wilder als zuvor: "Führt mich zu Euerm Fräulein, sage ich Euch!" Nun sah die Martiniere ihr Fräulein in der dringendsten Gefahr, alle Liebe zu der teuren Herrschaft, in der sie zugleich die fromme, treue Mutter ehrte, flammte stärker auf im Innern und erzeugte einen Mut, dessen sie wohl selbst sich nicht fähig geglaubt hätte. Sie warf die Türe ihres Gemachs, die sie offengelassen, schnell zu, trat vor dieselbe und sprach stark und fest: "In der Tat, Euer tolles Betragen hier im Hause paßt schlecht zu Euern kläglichen Worten da draußen, die, wie ich nun wohl merke, mein Mitleiden sehr zu unrechter Zeit erweckt haben. Mein Fräulein sollt und werdet Ihr jetzt nicht sprechen. Habt Ihr nichts Böses im Sinn, dürft Ihr den Tag nicht scheuen, so kommt morgen wieder und bringt Eure Sache an! — jetzt schert Euch aus dem Hause!" Der Mensch stieß einen dumpfen Seufzer aus, blickte die Martiniere starr an mit entsetzlichem Blick und griff nach dem Stilett. Die Martiniere befahl im stillen ihre Seele dem Herrn, doch blieb sie standhaft und sah dem Menschen keck ins Auge, indem sie sich fester an die Türe des Gemachs drückte, durch welches der Mensch gehen mußte, um zu dem Fräulein zu gelangen. "Laßt mich zu Euerm Fräulein, sage ich Euch", rief der Mensch nochmals. "Tut, was Ihr wollt", erwiderte die Martiniere, "ich weiche nicht von diesem Platz, vollendet nur die böse Tat, die Ihr begonnen, auch Ihr werdet den schmachvollen Tod finden auf dem Greveplatz wie Eure verruchten Spießgesellen." — "Ha", schrie der Mensch auf, "Ihr habt recht, la Martiniere! ich sehe aus, ich bin bewaffnet wie ein verruchter Räuber und Mörder, aber meine Spießgesellen sind nicht gerichtet, sind nicht gerichtet!" — Und damit zog er, giftige Blicke schießend auf die zum Tode geängstete Frau, das Stilett heraus. "Jesus!" rief sie, den Todesstoß erwartend, aber in dem Augenblick ließ sich auf der Straße das Geklirr von Waffen, der Huftritt von Pferden hören. "Die Marechaussee - die Marechaussee. Hülfe, Hülfe!" schrie die Martiniere. "Entsetzliches Weib, du willst mein Verderben - nun ist alles aus, alles aus! — nimm! — nimm; gib das dem Fräulein heute noch - morgen, wenn du willst" — dies leise murmelnd, hatte der Mensch der Martiniere den Leuchter weggerissen, die Kerzen verlöscht und ihr ein Kästchen in die Hände gedrückt. "Um deiner Seligkeit willen, gib das Kästchen dem Fräulein", rief der Mensch und sprang zum Hause hinaus. Die Martiniere war zu Boden gesunken, mit Mühe stand sie auf und tappte sich in der Finsternis zurück in ihr Gemach, wo sie ganz erschöpft, keines Lautes mächtig, in den Lehnstuhl sank. Nun hörte sie die Schlüssel klirren, die sie im Schloß der Haustüre hatte steckenlassen. Das Haus wurde zugeschlossen, und leise unsichere Tritte nahten sich dem Gemach. Festgebannt, ohne Kraft, sich zu regen, erwartete sie das Gräßliche; doch wie geschah ihr, als die Türe aufging und sie bei dem Scheine der Nachtlampe auf den ersten Blick den ehrlichen Baptiste erkannte; der sah leichenblaß aus und ganz verstört. "Um aller Heiligen willen", fing er an, "um aller Heiligen willen, sagt mir, Frau Martiniere, was ist geschehen? Ach, die Angst! die Angst! — Ich weiß nicht, was es war, aber fortgetrieben hat es mich von der Hochzeit gestern abend mit Gewalt! — Und nun komme ich in die Straße. Frau Martiniere, denk ich, hat einen leisen Schlaf, die wird's wohl hören, wenn ich leise und säuberlich anpoche an die Haustüre, und mich hineinlassen. Da kommt mir eine starke Patrouille entgegen, Reuter, Fußvolk, bis an die Zähne bewaffnet, und hält mich an und will mich nicht fortlassen. Aber zum Glück ist Desgrais dabei, der Marechaussee-Lieutnant, der mich recht gut kennt; der spricht, als sie mir die Laterne unter die Nase halten: ,Ei, Baptiste, wo kommst du her des Wegs in der Nacht? Du mußt fein im Hause bleiben und es hüten. Hier ist es nicht geheuer, wir denken noch in dieser Nacht einen guten Fang zu machen.' Ihr glaubt gar nicht, Frau Martiniere, wie mir diese Worte aufs Herz fielen. Und nun trete ich auf die Schwelle, und da stürzt ein verhüllter Mensch aus dem Hause, das blanke Stilett in der Faust, und rennt mich um und um - das Haus ist offen, die Schlüssel stecken im Schlosse - sagt, was hat das alles zu bedeuten?" Die Martiniere, von ihrer Todesangst befreit, erzählte, wie sich alles begeben. Beide, sie und Baptiste, gingen in den Hausflur, sie fanden den Leuchter auf dem Boden, wo der fremde Mensch ihn im Entfliehen hingeworfen. "Es ist nur zu gewiß", sprach Baptiste, "daß unser Fräulein beraubt und wohl gar ermordet werden sollte. Der Mensch wußte, wie Ihr erzählt, daß Ihr allein wart mit dem Fräulein, ja sogar, daß sie noch wachte bei ihren Schriften; gewiß war es einer von den verfluchten Gaunern und Spitzbuben, die bis ins Innere der Häuser dringen, alles listig auskundschaftend, was ihnen zur Ausführung ihrer teuflischen Anschläge dienlich. Und das kleine Kästchen, Frau Martiniere, das, denk ich, werfen wir in die Seine, wo sie am tiefsten ist. Wer steht uns dafür, daß nicht irgendein verruchter Unhold unserm guten Fräulein nach dem Leben trachtet, daß sie, das Kästchen öffnend, nicht tot niedersinkt, wie der alte Marquis von Tournay, als er den Brief aufmachte, den er von unbekannter Hand erhalten! —" Lange ratschlagend, beschlossen die Getreuen endlich, dem Fräulein am andern Morgen alles zu erzählen und ihr auch das geheimnisvolle Kästchen einzuhändigen, das ja mit gehöriger Vorsicht geöffnet werden könne. Beide, erwägten sie genau jeden Umstand der Erscheinung des verdächtigen Fremden, meinten, daß wohl ein besonderes Geheimnis im Spiele sein könne, über das sie eigenmächtig nicht schalten dürften, sondern die Enthüllung ihrer Herrschaft überlassen müßten.

Baptistes Besorgnisse hatten ihren guten Grund. Gerade zu der Zeit war Paris der Schauplatz der verruchtesten Greueltaten, gerade zu der Zeit bot die teuflischste Erfindung der Hölle die leichtesten Mittel dazu dar.

Glaser, ein teutscher Apotheker, der beste Chemiker seiner Zeit, beschäftigte sich, wie es bei Leuten von seiner Wissenschaft wohl zu geschehen pflegt, mit alchimistischen Versuchen.

Er hatte es darauf abgesehen, den Stein der Weisen zu finden. Ihm gesellte sich ein Italiener zu, namens Exili. Diesem diente aber die Goldmacherkunst nur zum Vorwande. Nur das Mischen, Kochen, Sublimieren der Giftstoffe, in denen Glaser sein Heil zu finden hoffte, wollt er erlernen, und es gelang ihm endlich, jenes feine Gift zu bereiten, das, ohne Geruch, ohne Geschmack, entweder auf der Stelle oder langsam tötend, durchaus keine Spur im menschlichen Körper zurückläßt und alle Kunst, alle Wissenschaft der Ärzte täuscht, die, den Giftmord nicht ahnend, den Tod einer natürlichen Ursache zuschreiben müssen. So vorsichtig Exili auch zu Werke ging, so kam er doch in den Verdacht des Giftverkaufs und wurde nach der Bastille gebracht. In dasselbe Zimmer sperrte man bald darauf den Hauptmann Godin de Sainte Croix ein. Dieser hatte mit der Marquise de Brinvillier lange Zeit in einem Verhältnisse gelebt, welches Schande über die ganze Familie brachte, und endlich, da der Marquis unempfindlich blieb für die Verbrechen seiner Gemahlin, ihren Vater, Dreux d'Aubray, Zivil-Lieutnant zu Paris, nötigte, das verbrecherische Paar durch einen Verhaftsbefehl zu trennen, den er wider den Hauptmann auswirkte. Leidenschaftlich, ohne Charakter, Frömmigkeit heuchelnd und zu Lastern aller Art geneigt von Jugend auf, eifersüchtig, rachsüchtig bis zur Wut, konnte dem Hauptmann nichts willkommner sein als Exilis teuflisches Geheimnis, das ihm die Macht gab, alle seine Feinde zu vernichten. Er wurde Exilis eifriger Schüler und tat es bald seinem Meister gleich, so daß er, aus der Bastille entlassen, allein fortzuarbeiten imstande war.

Die Brinvillier war ein entartetes Weib, durch Sainte Croix wurde sie zum Ungeheuer. Er vermochte sie nach und nach, erst ihren eignen Vater, bei dem sie sich befand, ihn mit verruchter Heuchelei im Alter pflegend, dann ihre beiden Brüder und endlich ihre Schwester zu vergiften; den Vater aus Rache, die andern der reichen Erbschaft wegen. Die Geschichte mehrerer Giftmörder gibt das entsetzliche

Beispiel, daß Verbrechen der Art zur unwiderstehlichen Leidenschaft werden. Ohne weitern Zweck, aus reiner Lust daran, wie der Chemiker Experimente macht zu seinem Vergnügen, haben oft Giftmörder Personen gemordet, deren Leben oder Tod ihnen völlig gleich sein konnte. Das plötzliche Hinsterben mehrerer Armen im Hotel-Dieu erregte später den Verdacht, daß die Brote, welche die Brinvillier dort wöchentlich auszuteilen pflegte, um als Muster der Frömmigkeit und des Wohltuns zu gelten, vergiftet waren. Gewiß ist es aber, daß sie Taubenpasteten vergiftete und sie den Gästen, die sie geladen, vorsetzte. Der Chevalier du Guet und mehrere andere Personen fielen als Opfer dieser höllischen Mahlzeiten. Sainte Croix, sein Gehülfe la Chaussee, die Brinvillier wußten lange Zeit hindurch ihre gräßliche Untaten in undurchdringliche Schleier zu hüllen; doch welche verruchte List verworfener Menschen vermag zu bestehen, hat die ewige Macht des Himmels beschlossen, schon hier auf Erden die Frevler zu richten! — Die Gifte, welche Sainte Croix bereitete, waren so fein, daß, lag das Pulver (poudre de succession nannten es die Pariser) bei der Bereitung offen, ein einziger Atemzug hinreichte, sich augenblicklich den Tod zu geben. Sainte Croix trug deshalb bei seinen Operationen eine Maske von feinem Glase. Diese fiel eines Tags, als er eben ein fertiges Giftpulver in eine Phiole schütten wollte, herab, und er sank, den feinen Staub des Giftes einatmend, augenblicklich tot nieder. Da er ohne Erben verstorben, eilten die Gerichte herbei, um den Nachlaß unter Siegel zu nehmen. Da fand sich, in einer Kiste verschlossen, das ganze höllische Arsenal des Giftmords, das dem verruchten Sainte Croix zu Gebote gestanden, aber auch die Briefe der Brinvillier wurden aufgefunden, die über ihre Untaten keinen Zweifel ließen. Sie floh nach Lüttich in ein Kloster. Desgrais, ein Beamter der Marechaussee, wurde ihr nachgesendet. Als Geistlicher verkleidet, erschien er in dem Kloster, wo sie sich verborgen. Es gelang ihm, mit dem entsetzlichen Weibe einen Liebeshandel anzuknüpfen und sie zu einer heimlichen Zusammenkunft in einem einsamen Garten vor der Stadt zu verlocken. Kaum dort angekommen, wurde sie aber von Desgrais' Häschern umringt, der geistliche Liebhaber verwandelte sich plötzlich in den Beamten der Marechaussee und nötigte sie, in den Wagen zu steigen, der vor dem Garten bereit stand und, von den Häschern umringt, geradeswegs nach Paris abfuhr. La Chaussee war schon früher enthauptet worden, die Brinvillier litt denselben Tod, ihr Körper wurde nach der Hinrichtung verbrannt und die Asche in die Lüfte zerstreut.

Die Pariser atmeten auf, als das Ungeheuer von der Welt war, das die heimliche mörderische Waffe ungestraft richten konnte gegen Feind und Freund. Doch bald tat es sich kund, daß des verruchten la Croix entsetzliche Kunst sich fortvererbt hatte. Wie ein unsichtbares tückisches Gespenst schlich der Mord sich ein in die engsten Kreise, wie sie Verwandtschaft - Liebe - Freundschaft nur bilden können, und erfaßte sicher und schnell die unglücklichen Opfer. Der, den man heute in blühender Gesundheit gesehen, wankte morgen krank und siech umher, und keine Kunst der Ärzte konnte ihn vor dem Tode retten. Reichtum - ein einträgliches Amt - ein schönes, vielleicht zu jugendliches Weib - das genügte zur Verfolgung auf den Tod. Das grausamste Mißtrauen trennte die heiligsten Bande. Der Gatte zitterte vor der Gattin - der Vater vor dem Sohn - die Schwester vor dem Bruder. — Unberührt blieben die Speisen, blieb der Wein bei dem Mahl, das der Freund den Freunden gab, und wo sonst Lust und Scherz gewaltet, spähten verwilderte Blicke nach dem verkappten Mörder. Man sah Familienväter ängstlich in entfernten Gegenden Lebensmittel einkaufen und in dieser, jener schmutzigen Garküche selbst bereiten, in ihrem eigenen Hause teuflischen Verrat fürchtend. Und doch war manchmal die größte, bedachteste Vorsicht vergebens.

Der König, dem Unwesen, das immer mehr überhandnahm, zu steuern, ernannte einen eigenen Gerichtshof, dem

er ausschließlich die Untersuchung und Bestrafung dieser heimlichen Verbrechen übertrug. Das war die sogenannte Chambre ardente, die ihre Sitzungen unfern der Bastille hielt und welcher la Regnie als Präsident vorstand. Mehrere Zeit hindurch blieben Regnies Bemühungen, so eifrig sie auch sein mochten, fruchtlos, dem verschlagenen Desgrais war es vorbehalten, den geheimsten Schlupfwinkel des Verbrechens zu entdecken. — In der Vorstadt Saint Germain wohnte ein altes Weib, la Voisin geheißen, die sich mit Wahrsagen und Geisterbeschwören abgab und mit Hülfe ihrer Spießgesellen, le Sage und le Vigoureux, auch selbst Personen, die eben nicht schwach und leichtgläubig zu nennen, in Furcht und Erstaunen zu setzen wußte. Aber sie tat mehr als dieses. Exilis Schülerin wie la Croix, bereitete sie wie dieser das feine, spurlose Gift und half auf diese Weise ruchlosen Söhnen zur frühen Erbschaft, entarteten Weibern zum andern, jüngern Gemahl. Desgrais drang in ihr Geheimnis ein, sie gestand alles, die Chambre ardente verurteilte sie zum Feuertode, den sie auf dem Greveplatze erlitt. Man fand bei ihr eine Liste aller Personen, die sich ihrer Hülfe bedient hatten; und so kam es, daß nicht allein Hinrichtung auf Hinrichtung folgte, sondern auch schwerer Verdacht selbst auf Personen von hohem Ansehen lastete. So glaubte man, daß der Kardinal Bonzy bei der la Voisin das Mittel gefunden, alle Personen, denen er als Erzbischof von Narbonne Pensionen bezahlen mußte, in kurzer Zeit hinsterben zu lassen. So wurden die Herzogin von Bouillon, die Gräfin von Soissons, deren Namen man auf der Liste gefunden, der Verbindung mit dem teuflischen Weibe angeklagt, und selbst François Henri de Montmorenci, Boudebelle, Herzog von Luxemburg, Pair und Marschall des Reichs, blieb nicht verschont. Auch ihn verfolgte die furchtbare Chambre ardente. Er stellte sich selbst zum Gefängnis in der Bastille, wo ihn Louvois' und la Regnies Haß in ein sechs Fuß langes Loch einsperren ließ. Monate vergingen, ehe es sich vollkommen ausmittelte, daß des Herzogs Verbrechen keine Rüge verdienen konnte. Er hatte sich einmal von le Sage das Horoskop stellen lassen.

Gewiß ist es, daß blinder Eifer den Präsidenten la Regnie zu Gewaltstreichen und Grausamkeiten verleitete. Das Tribunal nahm ganz den Charakter der Inquisition an, der geringfügigste Verdacht reichte hin zu strenger Einkerkerung, und oft war es dem Zufall überlassen, die Unschuld des auf den Tod Angeklagten darzutun. Dabei war Regnie von garstigem Ansehen und heimtückischem Wesen, so daß er bald den Haß derer auf sich lud, deren Rächer oder Schützer zu sein er berufen wurde. Die Herzogin von Bouillon, von ihm im Verhöre gefragt, ob sie den Teufel gesehen, erwiderte: "Mich dünkt, ich sehe ihn in diesem Augenblick!"

Während nun auf dem Greveplatz das Blut Schuldiger und Verdächtiger in Strömen floß und endlich der heimliche Giftmord seltner und seltner wurde, zeigte sich ein Unheil andrer Art, welches neue Bestürzung verbreitete. Eine Gaunerbande schien es darauf angelegt zu haben, alle Juwelen in ihren Besitz zu bringen. Der reiche Schmuck, kaum gekauft, verschwand auf unbegreifliche Weise, mochte er verwahrt sein, wie er wollte. Noch viel ärger war es aber, daß jeder, der es wagte, zur Abendzeit Juwelen bei sich zu tragen, auf offener Straße oder in finstern Gängen der Häuser beraubt, ja wohl gar ermordet wurde. Die mit dem Leben davongekommen, sagten aus, ein Faustschlag auf den Kopf habe sie wie ein Wetterstrahl niedergestürzt, und aus der Betäubung erwacht, hätten sie sich beraubt und am ganz andern Orte als da, wo sie der Schlag getroffen, wiedergefunden. Die Ermordeten, wie sie beinahe jeden Morgen auf der Straße oder in den Häusern lagen, hatten alle dieselbe tödliche Wunde. Einen Dolchstich ins Herz, nach dem Urteil der Ärzte so schnell und sicher tötend, daß der Verwundete, keines Lautes mächtig, zu Boden sinken mußte. Wer war an dem üppigen Hofe Ludwig des XIV., der nicht, in einen geheimen Liebeshandel verstrickt, spät zur Geliebten schlich und manchmal ein reiches Geschenk bei sich

trug? — Als stünden die Gauner mit Geistern im Bunde, wußten sie genau, wenn sich so etwas zutragen sollte. Oft erreichte der Unglückliche nicht das Haus, wo er Liebesglück zu genießen dachte, oft fiel er auf der Schwelle, ja vor dem Zimmer der Geliebten, die mit Entsetzen den blutigen Leichnam fand.

Vergebens ließ Argenson, der Polizeiminister, alles aufgreifen in Paris, was von dem Volk nur irgend verdächtig schien, vergebens wütete la Regnie und suchte Geständnisse zu erpressen, vergebens wurden Wachen, Patrouillen verstärkt, die Spur der Täter war nicht zu finden. Nur die Vorsicht, sich bis an die Zähne zu bewaffnen und sich eine Leuchte vortragen zu lassen, half einigermaßen, und doch fanden sich Beispiele, daß der Diener mit Steinwürfen geängstet und der Herr in demselben Augenblick ermordet und beraubt wurde.

Merkwürdig war es, daß, aller Nachforschungen auf allen Plätzen, wo Juwelenhandel nur möglich war, unerachtet, nicht das mindeste von den geraubten Kleinodien zum Vorschein kam und also auch hier keine Spur sich zeigte, die hätte verfolgt werden können.

Desgrais schäumte vor Wut, daß selbst seiner List die Spitzbuben zu entgehen wußten. Das Viertel der Stadt, in dem er sich gerade befand, blieb verschont, während in dem andern, wo keiner Böses geahnt, der Raubmord seine reichen Opfer erspähte.

Desgrais besann sich auf das Kunststück, mehrere Desgrais zu schaffen, sich untereinander so ähnlich an Gang, Stellung, Sprache, Figur, Gesicht, daß selbst die Häscher nicht wußten, wo der rechte Desgrais stecke. Unterdessen lauschte er, sein Leben wagend, allein in den geheimsten Schlupfwinkeln und folgte von weitem diesem oder jenem, der auf seinen Anlaß einen reichen Schmuck bei sich trug. Der blieb unangefochten; also auch von dieser Maßregel waren die Gauner unterrichtet. Desgrais geriet in Verzweiflung.

Eines Morgens kommt Desgrais zu dem Präsidenten la Regnie, blaß, entstellt, außer sich. — "Was habt Ihr, was für Nachrichten? — Fandet Ihr die Spur?" ruft ihm der Präsident entgegen. "Ha - gnädiger Herr", fängt Desgrais an, vor Wut stammelnd, "ha, gnädiger Herr - gestern in der Nacht -unfern des Louvres ist der Marquis de la Fare angefallen worden in meiner Gegenwart." — "Himmel und Erde", jauchzt la Regnie auf vor Freude - "wir haben sie!" — "0 hört nur", fällt Desgrais mit bitterm Lächeln ein, "o hört nur erst, wie sich alles begeben. — Am Louvre steh ich also und passe, die ganze Hölle in der Brust, auf die Teufel, die meiner spotten. Da kommt mit unsicherm Schritt, immer hinter sich schauend, eine Gestalt dicht bei mir vorüber, ohne mich zu sehen. Im Mondesschimmer erkenne ich den Marquis de la Fare. Ich konnt ihn da erwarten, ich wußte, wo er hinschlich. Kaum ist er zehn - zwölf Schritte bei mir vorüber, da springt wie aus der Erde herauf eine Figur, schmettert ihn nieder und fällt über ihn her. Unbesonnen, überrascht von dem Augenblick, der den Mörder in meine Hand liefern konnte, schrie ich laut auf und will mit einem gewaltigen Sprunge aus meinem Schlupfwinkel heraus auf ihn zusetzen; da verwickle ich mich in den Mantel und falle hin. Ich sehe den Menschen wie auf den Flügeln des Windes forteilen, ich rapple mich auf, ich renne ihm nach - laufend stoße ich in mein Horn - aus der Ferne antworten die Pfeifen der Häscher - es wird lebendig - Waffengeklirr, Pferdegetrappel von allen Seiten. — ,Hierher - hierher - Desgrais - Desgrais!' schreie ich, daß es durch die Straßen hallt. — Immer sehe ich den Menschen vor mir im hellen Mondschein, wie er, mich zu täuschen, da - dort -einbiegt; wir kommen in die Straße Nicaise, da scheinen seine Kräfte zu sinken, ich strenge die meinigen doppelt an - noch funfzehn Schritte höchstens hat er Vorsprung -" — "Ihr holt ihn ein - Ihr packt ihn, die Häscher kommen", ruft la Regnie mit blitzenden Augen, indem er Desgrais beim Arm ergreift, als sei der der fliehende Mörder selbst. — "Funfzehn

Schritte", fährt Desgrais mit dumpfer Stimme und mühsam atmend fort, "funfzehn Schritte vor mir springt der Mensch auf die Seite in den Schatten und verschwindet durch die Mauer." — "Verschwindet? — durch die Mauer! — Seid Ihr rasend", ruft la Regnie, indem er zwei Schritte zurücktritt und die Hände zusammenschlägt. "Nennt mich", fährt Desgrais fort, sich die Stirne reibend wie einer, den böse Gedanken plagen, "nennt mich, gnädiger Herr, immerhin einen Rasenden, einen törichten Geisterseher, aber es ist nicht anders, als wie ich es Euch erzähle. Erstarrt stehe ich vor der Mauer, als mehrere Häscher atemlos herbeikommen - mit ihnen der Marquis de la Fare, der sich aufgerafft, den bloßen Degen in der Hand. Wir zünden die Fackeln an, wir tappen an der Mauer hin und her; keine Spur einer Türe, eines Fensters, einer Öffnung. Es ist eine starke steinerne Hofmauer, die sich an ein Haus lehnt, in dem Leute wohnen, gegen die auch nicht der leiseste Verdacht aufkommt. Noch heute habe ich alles in genauen Augenschein genommen. — Der Teufel selbst ist es, der uns foppt." Desgrais' Geschichte wurde in Paris bekannt. Die Köpfe waren erfüllt von den Zaubereien, Geisterbeschwörungen, Teufeisbündnissen der Voisin, des Vigoureux, des berüchtigten Priesters le Sage; und wie es denn nun in unserer ewigen Natur liegt, daß der Hang zum Übernatürlichen, zum Wunderbaren alle Vernunft überbietet, so glaubte man bald nichts Geringeres, als daß, wie Desgrais nur im Unmut gesagt, wirklich der Teufel selbst die Verruchten schütze, die ihm ihre Seelen verkauft. Man kann es sich denken, daß Desgrais' Geschichte mancherlei tollen Schmuck erhielt. Die Erzählung davon mit einem Holzschnitt darüber, eine gräßliche Teufelsgestalt vorstehend, die vor dem erschrockenen Desgrais in die Erde versinkt, wurde gedruckt und an allen Ecken verkauft. Genug, das Volk einzuschüchtern und selbst den Häschern allen Mut zu nehmen, die nun zur Nachtzeit mit Zittern und Zagen die Straßen durchirrten, mit Amuletten behängt und eingeweicht in Weihwasser.

Argenson sah die Bemühungen der Chambre ardente scheitern und ging den König an, für das neue Verbrechen einen Gerichtshof zu ernennen, der mit noch ausgedehnterer Macht den Tätern nachspüre und sie strafe. Der König, überzeugt, schon der Chambre ardente zuviel Gewalt gegeben zu haben, erschüttert von dem Greuel unzähliger Hinrichtungen, die der blutgierige la Regnie veranlaßt, wies den Vorschlag gänzlich von der Hand.

Man wählte ein anderes Mittel, den König für die Sache zu beleben.

In den Zimmern der Maintenon, wo sich der König nachmittags aufzuhalten und wohl auch mit seinen Ministern bis in die späte Nacht hinein zu arbeiten pflegte, wurde ihm ein Gedicht überreicht im Namen der gefährdeten Liebhaber, welche klagten, daß, gebiete ihnen die Galanterie, der Geliebten ein reiches Geschenk zu bringen, sie allemal ihr Leben daransetzen müßten. Ehre und Lust sei es, im ritterlichen Kampf sein Blut für die Geliebte zu verspritzen; anders verhalte es sich aber mit dem heimtückischen Anfall des Mörders, wider den man sich nicht wappnen könne. Ludwig, der leuchtende Polarstern aller Liebe und Galanterie, der möge hellaufstrahlend die finstre Nacht zerstreuen und so das schwarze Geheimnis, das darin verborgen, enthüllen. Der göttliche Held, der seine Feinde niedergeschmettert, werde nun auch sein siegreich funkelndes Schwert zücken und, wie Herkules die Lernäische Schlange, wie Theseus den Minotaur, das bedrohliche Ungeheuer bekämpfen, das alle Liebeslust wegzehre und alle Freude verdüstre in tiefes Leid, in trostlose Trauer.

So ernst die Sache auch war, so fehlte es diesem Gedicht doch nicht, vorzüglich in der Schilderung, wie die Liebhaber auf dem heimlichen Schleichwege zur Geliebten sich ängstigen müßten, wie die Angst schon alle Liebeslust, jedes schöne Abenteuer der Galanterie im Aufkeimen töte, an geistreich-witzigen Wendungen. Kam nun noch hinzu, daß beim Schluß alles in einen hochtrabenden Panegyrikus auf

Ludwig den XIV. ausging, so konnte es nicht fehlen, daß der König das Gedicht mit sichtlichem Wohlgefallen durchlas. Damit zustande gekommen, drehte er sich, die Augen nicht wegwendend von dem Papier, rasch um zur Maintenon, las das Gedicht noch einmal mit lauter Stimme ab und fragte dann, anmutig lächelnd, was sie von den Wünschen der gefährdeten Liebhaber halte. Die Maintenon, ihrem ernsten Sinne treu und immer in der Farbe einer gewissen Frömmigkeit, erwiderte, daß geheime verbotene Wege eben keines besondern Schutzes würdig, die entsetzlichen Verbrecher aber wohl besonderer Maßregeln zu ihrer Vertilgung wert wären. Der König, mit dieser schwankenden Antwort unzufrieden, schlug das Papier zusammen und wollte zurück zu dem Staatssekretär, der in dem andern Zimmer arbeitete, als ihm bei einem Blick, den er seitwärts warf, die Scudéri ins Auge fiel, die zugegen war und eben unfern der Maintenon auf einem kleinen Lehnsessel Platz genommen hatte. Auf diese schritt er nun los; das anmutige Lächeln, das erst um Mund und Wangen spielte und das verschwunden, gewann wieder Oberhand, und dicht vor dem Fräulein stehend und das Gedicht wieder auseinanderfaltend, sprach er sanft: "Die Marquise mag nun einmal von den Galanterien unserer verliebten Herren nichts wissen und weicht mir aus auf Wegen, die nichts weniger als verboten sind. Aber Ihr, mein Fräulein, was haltet Ihr von dieser dichterischen Supplik?" — Die Scuden stand ehrerbietig auf von ihrem Lehnsessel, ein flüchtiges Rot überflog wie Abendpurpur die blassen Wangen der alten würdigen Dame, sie sprach, sich leise verneigend, mit niedergeschlagenen Augen:
 "Un  amant, qui craint les voleurs,
n'est point digne d'amour."

Der König, ganz erstaunt über den ritterlichen Geist dieser wenigen Worte, die das ganze Gedicht mit seinen ellenlangen Tiraden zu Boden schlugen, rief mit blitzenden Augen: "Beim heiligen Dionys, Ihr habt recht, Fräulein!

Keine blinde Maßregel, die den Unschuldigen trifft mit dem Schuldigen, soll die Feigheit schützen; mögen Argenson und la Regnie das Ihrige tun!"

Alle die Greuel der Zeit schilderte nun die Martiniere mit den lebhaftesten Farben, als sie am andern Morgen ihrem Fräulein erzählte, was sich in voriger Nacht zugetragen, und übergab ihr zitternd und zagend das geheimnisvolle Kästchen. Sowohl sie als Baptiste, der ganz verblaßt in der Ecke stand und, vor Angst und Beklommenheit die Nachtmütze in den Händen knetend, kaum sprechen konnte, baten das Fräulein auf das wehmütigste, um aller Heiligen willen, doch nur mit möglichster Behutsamkeit das Kästchen zu öffnen. Die Scudéri, das verschlossene Geheimnis in der Hand wiegend und prüfend, sprach lächelnd: "Ihr seht beide Gespenster! — Daß ich nicht reich bin, daß bei mir keine Schätze, eines Mordes wert, zu holen sind, das wissen die verruchten Meuchelmörder da draußen, die, wie ihr selbst sagt, das Innerste der Häuser erspähen, wohl ebensogut als ich und ihr. Auf mein Leben soll es abgesehen sein? Wem kann was an dem Tode liegen einer Person von dreiundsiebzig Jahren, die niemals andere verfolgte als die Bösewichter und Friedenstörer in den Romanen, die sie selbst schuf, die mittelmäßige Verse macht, welche niemandes Neid erregen können, die nichts hinterlassen wird als den Staat des alten Fräuleins, das bisweilen an den Hof ging, und ein paar Dutzend gut eingebundener Bücher mit vergoldetem Schnitt! Und du, Martiniere, du magst nun die Erscheinung des fremden Menschen so schreckhaft beschreiben, wie du willst, doch kann ich nicht glauben, daß er Böses im Sinne getragen.

Also! —"

Die Martiniere prallte drei Schritte zurück, Baptiste sank mit einem dumpfen "Ach!" halb in die Knie, als das Fräulein nun an einen hervorragenden stählernen Knopf drückte und der Deckel des Kästchens mit Geräusch aufsprang.

Wie erstaunte das Fräulein, als ihr aus dem Kästchen ein Paar goldne, reich mit Juwelen besetzte Armbänder und eben ein solcher Halsschmuck entgegenfunkelten. Sie nahm das Geschmeide heraus, und indem sie die wundervolle Arbeit des Halsschmucks lobte, beäugelte die Martiniere die reichen Armbänder und rief ein Mal über das andere, daß ja selbst die eitle Montespan nicht solchen Schmuck besitze. "Aber was soll das, was hat das zu bedeuten?" sprach die Scudéri. In dem Augenblick gewahrte sie auf dem Boden des Kästchens einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Mit Recht hoffte sie den Aufschluß des Geheimnisses darin zu finden. Der Zettel, kaum hatte sie, was er enthielt, gelesen, entfiel ihren zitternden Händen. Sie warf einen sprechenden Blick zum Himmel und sank dann, wie halb ohnmächtig, in den Lehnsessel zurück. Erschrocken sprang die Martiniere, sprang Baptiste ihr bei. "Oh", rief sie nun mit von Tränen halb erstickter Stimme, "o der Kränkung, o der tiefen Beschämung! Muß mir das noch geschehen im hohen Alter! Hab ich denn im törichten Leichtsinn gefrevelt wie ein junges, unbesonnenes Ding? — O Gott, sind Worte, halb im Scherz hingeworfen, solcher gräßlichen Deutung fähig! — Darf dann mich, die ich, der Tugend getreu und der Frömmigkeit, tadellos blieb von Kindheit an, darf dann mich das Verbrechen des teuflischen Bündnisses zeihen?"

Das Fräulein hielt das Schnupftuch vor die Augen und weinte und schluchzte heftig, so daß die Martiniere und Baptiste, ganz verwirrt und beklommen, nicht wußten, wie ihrer guten Herrschaft beistehen in ihrem großen Schmerz.

Die Martiniere hatte den verhängnisvollen Zettel von der Erde aufgehoben. Auf demselben stand:

"Un amant, qui craint les voleurs,
n'est point digne d'amour.


Euer scharfsinniger Geist, hochgeehrte Dame, hat uns, die wir an der Schwäche und Feigheit das Recht des Stärkern üben und uns Schätze zueignen, die auf unwürdige Weise vergeudet werden sollten, von großer Verfolgung errettet. Als einen Beweis unserer Dankbarkeit nehmet gütig diesen Schmuck an. Es ist das Kostbarste, was wir seit langer Zeit haben auftreiben können, wiewohl Euch, würdige Dame! viel schöneres Geschmeide zieren sollte, als dieses nun eben ist. Wir bitten, daß Ihr uns Eure Freundschaft und Euer huldvolles Andenken nicht entziehen möget.Die Unsichtbaren."

"Ist es möglich", rief die Scudéri, als sie sich einigermaßen erholt hatte, "ist es möglich, daß man die schamlose Frechheit, den verruchten Hohn so weit treiben kann?" — Die Sonne schien hell durch die Fenstergardinen von hochroter Seide, und so kam es, daß die Brillanten, welche auf dem Tische neben dem offenen Kästchen lagen, in rötlichem Schimmer aufblitzten. Hinblickend verhüllte die Scudéri voll Entsetzen das Gesicht und befahl der Martiniere, das fürchterliche Geschmeide, an dem das Blut der Ermordeten klebe, augenblicklich fortzuschaffen. Die Martiniere, nachdem sie Halsschmuck und Armbänder sogleich in das Kästchen verschlossen, meinte, daß es wohl am geratensten sein würde, die Juwelen dem Polizeiminister zu übergeben und ihm zu vertrauen, wie sich alles mit der beängstigenden Erscheinung des jungen Menschen und der Einhändigung des Kästchens zugetragen.

Die Scudéri stand auf und schritt schweigend langsam im Zimmer auf und nieder, als sinne sie erst nach, was nun zu tun sei. Dann befahl sie dem Baptiste, einen Tragsessel zu holen, der Martiniere aber, sie anzukleiden, weil sie auf der Stelle hin wolle zur Marquise de Maintenon.

Sie ließ sich hintragen zur Marquise gerade zu der Stunde, wenn diese, wie die Scudéri wußte, sich allein in ihren Gemächern befand. Das Kästchen mit den Juwelen nahm sie mit sich.

Wohl mußte die Marquise sich hoch verwundern, als sie das Fräulein, sonst die Würde, ja trotz ihrer hohen Jahre

die Liebenswürdigkeit, die Anmut selbst, eintreten sah, blaß, entstellt, mit wankenden Schritten. "Was um aller Heiligen willen ist Euch widerfahren?" rief sie der armen, beängsteten Dame entgegen, die, ganz außer sich selbst, kaum imstande, sich aufrecht zu erhalten, nur schnell den Lehnsessel zu erreichen suchte, den ihr die Marquise hinschob. Endlich des Wortes wieder mächtig, erzählte das Fräulein, welche tiefe, nicht zu verschmerzende Kränkung ihr jener unbedachtsame Scherz, mit dem sie die Supplik der gefährdeten Liebhaber beantwortet, zugezogen habe. Die Marquise, nachdem sie alles von Moment zu Moment erfahren, urteilte, daß die Scudéri sich das sonderbare Ereignis viel zu sehr zu Herzen nehme, daß der Hohn verruchten Gesindels nie ein frommes, edles Gemüt treffen könne, und verlangte zuletzt den Schmuck zu sehen.

Die Scudéri gab ihr das geöffnete Kästchen, und die Marquise konnte sich, als sie das köstliche Geschmeide erblickte, des lauten Ausrufs der Verwunderung nicht erwehren. Sie nahm den Halsschmuck, die Armbänder heraus und trat damit an das Fenster, wo sie bald die Juwelen an der Sonne spielen ließ, bald die zierliche Goldarbeit ganz nahe vor die Augen hielt, um nur recht zu erschauen, mit welcher wundervollen Kunst jedes kleine Häkchen der verschlungenen Ketten gearbeitet war.

Auf einmal wandte sich die Marquise rasch um nach dem Fräulein und rief: "Wißt Ihr wohl, Fräulein! daß diese Armbänder, diesen Halsschmuck niemand anders gearbeitet haben kann als René Cardillac?" — René Cardillac war damals der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner Zeit. Eher klein als groß, aber breitschultrig und von starkem muskulösem Körperbau, hatte Cardillac, hoch in die funfziger Jahre vorgerückt, noch die Kraft, die Beweglichkeit des Jünglings. Von dieser Kraft, die ungewöhnlich zu nennen, zeugte auch das dicke, krause, rötliche Haupthaar und das gedrungene, gleißende Antlitz. Wäre Cardillac nicht

in ganz Paris als der rechtlichste Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu helfen bereit, bekannt gewesen, sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen hätte ihn in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können. Wie gesagt, Cardillac war in seiner Kunst der Geschickteste nicht sowohl in Paris als vielleicht überhaupt seiner Zeit. Innig vertraut mit der Natur der Edelsteine, wußte er sie auf eine Art zu behandeln und zu fassen, daß der Schmuck, der erst für unscheinbar gegolten, aus Cardillacs Werkstatt hervorging in glänzender Pracht. Jeden Auftrag übernahm er mit brennender Begierde und machte einen Preis, der, so geringe war er, mit der Arbeit in keinem Verhältnis zu stehen schien. Dann ließ ihm das Werk keine Ruhe, Tag und Nacht hörte man ihn in seiner Werkstatt hämmern, und oft, war die Arbeit beinahe vollendet, mißfiel ihm plötzlich die Form, er zweifelte an der Zierlichkeit irgendeiner Fassung der Juwelen, irgendeines kleinen Häkchens -Anlaß genug, die ganze Arbeit wieder in den Schmelztiegel zu werfen und von neuem anzufangen. So wurde jede Arbeit ein reines, unübertreifliches Meisterwerk, das den Besteller in Erstaunen setzte. Aber nun war es kaum möglich, die fertige Arbeit von ihm zu erhalten. Unter tausend Vorwänden hielt er den Besteller hin von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Vergebens bot man ihm das Doppelte für die Arbeit, nicht einen Louis mehr als den bedungenen Preis wollte er nehmen. Mußte er dann endlich dem Andringen des Bestellers weichen und den Schmuck herausgeben, so konnte er sich aller Zeichen des tiefsten Verdrusses, ja einer innern Wut, die in ihm kochte, nicht erwehren. Hatte er ein bedeutenderes, vorzüglich reiches Werk, vielleicht viele Tausende an Wert, bei der Kostbarkeit der Juwelen, bei der überzierlichen Goldarbeit, abliefern müssen, so war er imstande, wie unsinnig umherzulaufen, sich, seine Arbeit, alles um sich her verwünschend. Aber sowie einer hinter ihm her rannte und laut schrie: "René Cardillac, möchtet Ihr nicht einen schönen Halsschmuck machen für meine Braut - Armbänder für mein Mädchen" und so weiter, dann stand er plötzlich still, blitzte den an mit seinen kleinen Augen und fragte, die Hände reibend: "Was habt Ihr denn?" Der zieht nun ein Schächtelchen hervor und spricht: "Hier sind Juwelen, viel Sonderliches ist es nicht, gemeines Zeug, doch unter Euern Händen -" Cardillac läßt ihn nicht ausreden, reißt ihm das Schächtelchen aus den Händen, nimmt die Juwelen heraus, die wirklich nicht viel wert sind, hält sie gegen das Licht und ruft voll Entzücken: "Ho, ho -gemeines Zeug? — mitnichten! — hübsche Steine - herrliche Steine, laßt mich nur machen! — und wenn es Euch auf eine Handvoll Louis nicht ankommt, so will ich noch ein paar Steinchen hineinbringen, die Euch in die Augen funkeln sollen wie die liebe Sonne selbst -" Der spricht: "Ich überlasse Euch alles, Meister René, und zahle, was Ihr wollt!" Ohne Unterschied, mag er nun ein reicher Bürgersmann oder ein vornehmer Herr vom Hofe sein, wirft sich Cardillac ungestüm an seinen Hals und drückt und küßt ihn und spricht, nun sei er wieder ganz glücklich, und in acht Tagen werde die Arbeit fertig sein. Er rennt über Hals und Kopf nach Hause, hinein in die Werkstatt und hämmert darauf los, und in acht Tagen ist ein Meisterwerk zustande gebracht. Aber sowie der, der es bestellt, kommt, mit Freuden die geforderte geringe Summe bezahlen und den fertigen Schmuck mitnehmen will, wird Cardillac verdrüßlich, grob, trotzig. —"Aber Meister Cardillac, bedenkt, morgen ist meine Hochzeit." —"Was schert mich Eure Hochzeit, fragt in vierzehn Tagen wieder nach." — "Der Schmuck ist fertig, hier liegt das Geld, ich muß ihn haben." — "Und ich sage Euch, daß ich noch manches an dem Schmuck ändern muß und ihn heute nicht herausgeben werde." —"Und ich sage Euch, daß, wenn Ihr mir den Schmuck; den ich Euch allenfalls doppelt bezahlen will, nicht herausgebt im guten, Ihr mich gleich mit Argensons dienstbaren Trabanten anrücken sehen sollt." — "Nun, so quäle Euch der Satan mit hundert glühenden Kneipzangen und hänge drei Zentner an den Halsschmuck, damit er Eure Braut erdroßle —Und damit steckt Cardillac dem Bräutigam den Schmuck in die Busentasche, ergreift ihn beim Arm, wirft ihn zur Stubentür hinaus, daß er die ganze Treppe hinabpoltert, und lacht wie der Teufel zum Fenster hinaus, wenn er sieht, wie der arme junge Mensch, das Schnupftuch vor der blutigen Nase, aus dem Hause hinaushinkt. — Gar nicht zu erklären war es auch, daß Cardillac oft, wenn er mit Enthusiasmus eine Arbeit übernahm, plötzlich den Besteller mit allen Zeichen des im Innersten aufgeregten Gemüts, mit den erschütterndsten Beteuerungen, ja unter Schluchzen und Tränen bei der Jungfrau und allen Heiligen beschwor, ihm das unternommene Werk zu erlassen. Manche der von dem Könige, von dem Volke hochgeachtetsten Personen hatten vergebens große Summen geboten, um nur das kleinste Werk von Cardillac zu erhalten. Er warf sich dem Könige zu Füßen und flehte um die Huld, nichts für ihn arbeiten zu dürfen. Ebenso verweigerte er der Maintenon jede Bestellung, ja mit dem Ausdruck des Abscheues und Entsetzens verwarf er den Antrag derselben, einen kleinen, mit den Emblemen der Kunst verzierten Ring zu fertigen, den Racine von ihr erhalten sollte.

"Ich wette", sprach daher die Maintenon, "ich wette, daß Cardillac, schicke ich auch hin zu ihm, um wenigstens zu erfahren, für wen er diesen Schmuck fertigte, sich weigert herzukommen, weil er vielleicht eine Bestellung fürchtet und doch durchaus nichts für mich arbeiten will. Wiewohl er seit einiger Zeit abzulassen scheint von seinem starren Eigensinn, denn wie ich höre, arbeitet er jetzt fleißiger als je und liefert seine Arbeit ab auf der Stelle, jedoch noch immer mit tiefem Verdruß und weggewandtem Gesicht." Die Scudéri, der auch viel daran gelegen, daß, sei es noch möglich, der Schmuck bald in die Hände des rechtmäßigen Eigentümers komme, meinte, daß man dem Meister Sonderling ja gleich sagen lassen könne, wie man keine Arbeit, sondern nur sein Urteil über Juwelen verlange. Das billigte die Marquise. Es wurde nach Cardillac geschickt, und als

sei er schon auf dem Wege gewesen, trat er nach Verlauf weniger Zeit in das Zimmer.

Er schien, als er die Scudéri erblickte, betreten, und wie einer, der, von dem Unerwarteten plötzlich getroffen, die Ansprüche des Schicklichen, wie sie der Augenblick darbietet, vergißt, neigte er sich zuerst tief und ehrfurchtsvoll vor dieser ehrwürdigen Dame und wandte sich dann erst zur Marquise. Die frug ihn hastig, indem sie auf das Geschmeide wies, das auf dem dunkelgrün behängten Tisch funkelte, ob das seine Arbeit sei. Cardillac warf kaum einen Blick darauf und packte, der Marquise ins Gesicht starrend, Armbänder und Halsschmuck schnell ein in das Kästchen, das daneben stand und das er mit Heftigkeit von sich wegschob. Nun sprach er, indem ein häßliches Lächeln auf seinem roten Antlitz gleißte: "In der Tat, Frau Marquise, man muß René Cardillacs Arbeit schlecht kennen, um nur einen Augenblick zu glauben, daß irgendein anderer Goldschmied in der Welt solchen Schmuck fassen könne. Freilich ist das meine Arbeit." — "So sagt denn", fuhr die Marquise fort, "für wen Ihr diesen Schmuck gefertigt habt?" — "Für mich ganz allein", erwiderte Cardillac. "Ja, Ihr möget", fuhr er fort, als beide, die Maintenon und die Scudéri, ihn ganz verwundert anblickten, jene voll Mißtrauen, diese voll banger Erwartung, wie sich nun die Sache wenden würde, "ja, Ihr möget das nun seltsam finden, Frau Marquise, aber es ist dem so. Bloß der schönen Arbeit willen suchte ich meine besten Steine zusammen und arbeitete aus Freude daran fleißiger und sorgfältiger als jemals. Vor weniger Zeit verschwand der Schmuck aus meiner Werkstatt auf unbegreifliche Weise." — "Dem Himmel sei es gedankt", rief die Scudéri, indem ihr die Augen vor Freude funkelten und sie rasch und behende wie ein junges Mädchen von ihrem Lehnsessel aufsprang, auf den Cardillac losschritt und beide Hände auf seine Schultern legte. "Empfangt", sprach sie dann, "empfangt, Meister René, das Eigentum, das Euch verruchte Spitzbuben raubten, wieder zurück." Nun erzählte

sie ausführlich, wie sie zu dem Schmuck gekommen. Cardillac hörte alles schweigend mit niedergeschlagenen Augen an. Nur mitunter stieß er ein unvernehmliches "Hrn! — So! — Ei! — Hoho!" aus und warf bald die Hände auf den Rücken, bald streichelte er leise Kinn und Wange. Als nun die Scudéri geendet, war es, als kämpfe Cardillac mit ganz besonderen Gedanken, die währenddessen ihm gekommen, und als wolle irgendein Entschluß sich nicht fügen und fördern. Er rieb sich die Stirne, er seufzte, er fuhr mit der Hand über die Augen, wohl gar, um hervorbrechenden Tränen zu steuern. Endlich ergriff er das Kästchen, das ihm die Scudéri darbot, ließ sich auf ein Knie langsam nieder und sprach: "Euch, edles, würdiges Fräulein! hat das Verhängnis diesen Schmuck bestimmt. Ja, nun weiß ich es erst, daß ich während der Arbeit an Euch dachte, ja für Euch arbeitete. Verschmäht es nicht, diesen Schmuck als das Beste, was ich wohl seit langer Zeit gemacht, von mir anzunehmen und zu tragen." —"Ei, ei", erwiderte die Scuden, anmutig scherzend, "wo denkt Ihr hin, Meister René, steht es mir denn an, in meinen Jahren mich noch so herauszuputzen mit blanken Steinen? — Und wie kömmt Ihr denn dazu, mich so überreich zu beschenken? Geht, geht, Meister René, wär ich so schön wie die Marquise de Fontange und reich, in der Tat, ich ließe den Schmuck nicht aus den Händen, aber was soll diesen welken Armen die eitle Pracht, was soll diesem verhüllten Hals der glänzende Putz?" Cardillac hatte sich indessen erhoben und sprach, wie außer sich, mit verwildertem Blick, indem er fortwährend das Kästchen der Scudéri hinhielt: "Tut mir die Barmherzigkeit, Fräulein, und nehmt den Schmuck. Ihr glaubt es nicht, welche tiefe Verehrung ich für Eure Tugend, für Eure hohe Verdienste im Herzen trage! Nehmt doch mein geringes Geschenk nur für das Bestreben an, Euch recht meine innerste Gesinnung zu beweisen." — Als nun die Scudéri immer noch zögerte und zögerte, nahm die Maintenon das Kästchen aus Cardillacs Händen, sprechend: "Nun, beim Himmel, Fräulein, immer redet Ihr von Euern hohen Jahren, was haben wir, ich und Ihr, mit den Jahren zu schaffen und ihrer Last! — Und tut Ihr denn nicht eben wie ein junges verschämtes Ding, das gern zulangen möchte nach der dargebotnen süßen Frucht, könnte das nur geschehen ohne Hand und ohne Finger. —Schlagt dem wackern Meister René nicht ab, das freiwillig als Geschenk zu empfangen, was tausend andere nicht erhalten können, alles Goldes, alles Bittens und Flehens unerachtet."

Die Maintenon hatte der Scudéri das Kästchen währenddessen aufgedrungen, und nun stürzte Cardillac nieder auf die Knie - küßte der Scudéri den Rock - die Hände - stöhnte - seufzte - weinte - schluchzte - sprang auf - rannte wie unsinnig, Sessel - Tische umstürzend, daß Porzellan, Gläser zusammenklirrten, in toller Hast von dannen.

Ganz erschrocken rief die Scudéri: "Um aller Heiligen willen, was widerfährt dem Menschen!" Doch die Marquise, in besonderer heiterer Laune bis zu sonst ihr ganz fremdem Mutwillen, schlug eine helle Lache auf und sprach: "Da haben wir's, Fräulein, Meister René ist in Euch sterblich verliebt und beginnt nach richtigem Brauch und bewährter Sitte echter Galanterie Euer Herz zu bestürmen mit reichen Geschenken." Die Maintenon führte diesen Scherz weiter aus, indem sie die Scudéri ermahnte, nicht zu grausam zu sein gegen den verzweifelten Liebhaber, und diese wurde, Raum gebend angeborner Laune, hingerissen in den sprudelnden Strom tausend lustiger Einfälle. Sie meinte, daß sie, stünden die Sachen nun einmal so, endlich besiegt, wohl nicht werde umhinkönnen, der Welt das unerhörte Beispiel einer dreiundsiebzigjährigen Goldschmiedsbraut von untadeligern Adel aufzustellen. Die Maintenon erbot sich, die Brautkrone zu flechten und sie über die Pflichten einer guten Hausfrau zu belehren, wovon freilich so ein kleiner Kiekindiewelt von Mädchen nicht viel wissen könne.

Da nun endlich die Scudéri aufstand, um die Marquise zu verlassen, wurde sie, alles lachenden Scherzes ungeachtet,

doch wieder sehr ernst, als ihr das Schmuckkästchen zur Hand kam. Sie sprach: "Doch, Frau Marquise, werde ich mich dieses Schmuckes niemals bedienen können. Er ist, mag es sich nun zugetragen haben, wie es will, einmal in den Händen jener höllischen Gesellen gewesen, die mit der Frechheit des Teufels, ja wohl gar in verdammtem Bündnis mit ihm, rauben und morden. Mir graust vor dem Blute, das an dem funkelnden Geschmeide zu kleben scheint. — Und nun hat selbst Cardillacs Betragen, ich muß es gestehen, für mich etwas sonderbar Ängstliches und Unheimliches. Nicht erwehren kann ich mich einer dunklen Ahnung, daß hinter diesem allem irgendein grauenvolles, entsetzliches Geheimnis verborgen, und bringe ich mir die ganze Sache recht deutlich vor Augen mit jedem Umstande, so kann ich doch wieder gar nicht auch nur ahnen, worin das Geheimnis bestehe und wie überhaupt der ehrliche, wackere Meister René, das Vorbild eines guten, frommen Bürgers, mit irgend etwas Bösem, Verdammlichem zu tun haben soll. Soviel ist aber gewiß, daß ich niemals mich unterstehen werde, den Schmuck anzulegen."

Die Marquise meinte, das hieße die Skrupel zu weit treiben; als nun aber die Scudéri sie auf ihr Gewissen fragte, was sie in ihrer, der Scudéri, Lage wohl tun würde, antwortete sie ernst und fest: "Weit eher den Schmuck in die Seine werfen, als ihn jemals tragen."

Den Auftritt mit dem Meister René brachte die Scudéri in gar anmutige Verse, die sie den folgenden Abend in den Gemächern der Maintenon dem Könige vorlas. Wohl mag es sein, daß sie auf Kosten Meister Renés, alle Schauer unheimlicher Ahnung besiegend, das ergötzliche Bild der dreiundsiebzigjährigen Goldschmiedsbraut von uraltem Adel mit lebendigen Farben darzustellen gewußt. Genug, der König lachte bis ins Innerste hinein und schwur, daß Boileau-Despréaux seinen Meister gefunden, weshalb der Scudéri Gedicht für das Witzigste galt, das jemals geschrieben.

Mehrere Monate waren vergangen, als der Zufall es wollte,

daß die Scudéri in der Glaskutsche der Herzogin von Montansier über den Pontneuf fuhr. Noch war die Erfindung der zierlichen Glaskutschen so neu, daß das neugierige Volk sich zudrängte, wenn ein Fuhrwerk der Art auf den Straßen erschien. So kam es denn auch, daß der gaffende Pöbel auf dem Pontneuf die Kutsche der Montansier umringte, beinahe den Schritt der Pferde hemmend. Da vernahm die Scuden plötzlich ein Geschimpfe und Gefluche und gewahrte, wie ein Mensch mit Faustschlägen und Rippenstößen sich Platz machte durch die dickste Masse. Und wie er näher kam, trafen sie die durchbohrenden Blicke eines todbleichen, gramverstörten Jünglingsantlitzes. Unverwandt schaute der junge Mensch sie an, während er mit Ellbogen und Fäusten rüstig vor sich wegarbeitete, bis er an den Schlag des Wagens kam, den er mit stürmender Hastigkeit aufriß, der Scudéri einen Zettel in den Schoß warf und, Stöße, Faustschläge austeilend und empfangend, verschwand, wie er gekommen. Mit einem Schrei des Entsetzens war, sowie der Mensch am Kutschenschlage erschien, die Martiniere, die sich bei der Scudéri befand, entseelt in die Wagenkissen zurückgesunken. Vergebens riß die Scudéri an der Schnur, rief dem Kutscher zu, der, wie vom bösen Geiste getrieben, peitschte auf die Pferde los, die, den Schaum von den Mäulern wegspritzend, um sich schlugen, sich bäumten, endlich in scharfem Trab fortdonnerten über die Brücke. Die Scudéri goß ihr Riechfläschchen über die ohnmächtige Frau aus, die endlich die Augen aufschlug und, zitternd und bebend, sich krampfhaft festklammernd an die Herrschaft, Angst und Entsetzen im bleichen Antlitz, mühsam stöhnte: "Um der Heiligen Jungfrau willen! was wollte der fürchterliche Mensch? — Ach! er war es ja, er war es, derselbe, der Euch in jener schauervollen Nacht das Kästchen brachte!" — Die Scudéri beruhigte die Arme, indem sie ihr vorstellte, daß ja durchaus nichts Böses geschehen und daß es nur darauf ankomme, zu wissen, was der Zettel enthalte. Sie schlug das Blättchen auseinander und fand die Worte:

"Ein böses Verhängnis, das Ihr abwenden konntet, stößt mich in den Abgrund! — Ich beschwöre Euch, wie der Sohn die Mutter, von der er nicht lassen kann, in der vollsten Glut kindlicher Liebe, den Halsschmuck und die Armbänder, die Ihr durch mich erhieltet, unter irgendeinem Vorwand - um irgend etwas daran bessern - ändern zu lassen, zum Meister René Cardillac zu schaffen; Euer Wohl, Euer Leben hängt davon ab. Tut Ihr es nicht bis übermorgen, so dringe ich in Eure Wohnung und ermorde mich vor Euern Augen!"



"Nun ist es gewiß", sprach die Scudéri, als sie dies gelesen, "daß, mag der geheimnisvolle Mensch auch wirklich zu der Bande verruchter Diebe und Mörder gehören, er doch gegen mich nichts Böses im Schilde führt. Wäre es ihm gelungen, mich in jener Nacht zu sprechen, wer weiß, welches sonderbare Ereignis, welch dunkles Verhältnis der Dinge mir klar worden, von dem ich jetzt auch nur die leiseste Ahnung vergebens in meiner Seele suche. Mag aber auch die Sache sich nun verhalten, wie sie will, das, was mir in diesem Blatt geboten wird, werde ich tun, und geschähe es auch nur, um den unseligen Schmuck loszuwerden, der mir ein höllischer Talisman des Bösen selbst dünkt. Cardillac wird ihn doch wohl nun, seiner alten Sitte getreu, nicht so leicht wieder aus den Händen geben wollen."

Schon andern Tages gedachte die Scudéri, sich mit dem Schmuck zu dem Goldschmied zu begeben. Doch war es, als hätten alle schönen Geister von ganz Paris sich verabredet, gerade an dem Morgen das Fräulein mit Versen, Schauspielen, Anekdoten zu bestürmen. Kaum hatte la Chapelle die Szene eines Trauerspiels geendet und schlau versichert, daß er nun wohl Racine zu schlagen gedenke, als dieser selbst eintrat und ihn mit irgendeines Königs pathetischer Rede zu Boden schlug, bis Boileau seine Leuchtkugeln in den schwarzen tragischen Himmel steigen ließ, um nur nicht ewig von der Kolonnade des Louvre schwatzen zu hören, in die ihn der architektische Doktor Perrault hineingeengt.

Hoher Mittag war geworden, die Scudéri mußte zur Herzogin Montansier, und so blieb der Besuch bei Meister René Cardillac bis zum andern Morgen verschoben.

Die Scudéri fühlte sich von einer besondern Unruhe gepeinigt. Beständig vor Augen stand ihr der Jüngling, und aus dem tiefsten Innern wollte sich eine dunkle Erinnerung aufregen, als habe sie dies Antlitz, diese Züge schon gesehen. Den leisesten Schlummer störten ängstliche Träume, es war ihr, als habe sie leichtsinnig, ja strafwürdig versäumt, die Hand hülfreich zu erfassen, die der Unglückliche, in den Abgrund versinkend, nach ihr emporgestreckt, ja, als sei es an ihr gewesen, irgendeinem verderblichen Ereignis, einem heillosen Verbrechen zu steuern! — Sowie es nur hoher Morgen, ließ sie sich ankleiden und fuhr, mit dem Schmuckkästchen versehen, zu dem Goldschmied hin.

Nach der Straße Nicaise, dorthin, wo Cardillac wohnte, strömte das Volk, sammelte sich vor der Haustüre - schrie, lärmte, tobte - wollte stürmend hinein, mit Mühe abgehalten von der Marechaussee, die das Haus umstellt. Im wilden, verwirrten Getöse riefen zornige Stimmen: "Zerreißt, zermalmt den verfluchten Mörder!" — Endlich erscheint Desgrais mit zahlreicher Mannschaft, die bildet durch den dicksten Haufen eine Gasse. Die Haustüre springt auf, ein Mensch, mit Ketten belastet, wird hinausgebracht und unter den greulichsten Verwünschungen des wütenden Pöbels fortgeschleppt. — In dem Augenblick, als die Scudéri, halb entseelt vor Schreck und furchtbarer Ahnung, dies gewahrt, dringt ein gellendes Jammergeschrei ihr in die Ohren. "Vor! — weiter vor!" ruft sie ganz außer sich dem Kutscher zu, der mit einer geschickten, raschen Wendung den dicken Haufen auseinanderstäubt und dicht vor Cardillacs Haustüre hält. Da sieht die Scudéri Desgrais und zu seinen Füßen ein junges Mädchen, schön wie der Tag, mit aufgelösten Haaren, halb entkleidet, wilde Angst, trostlose Verzweiflung im Antlitz, die hält seine Knie umschlungen und ruft

mit dem Ton des entsetzlichsten, schneidendsten Todesschmerzes: "Er ist ja unschuldig! — er ist unschuldig!" Vergebens sind Desgrais', vergebens seiner Leute Bemühungen, sie loszureißen, sie vom Boden aufzurichten. Ein starker, ungeschlachter Kerl ergreift endlich mit plumpen Fäusten die Arme, zerrt sie mit Gewalt weg von Desgrais, strauchelt ungeschickt, läßt das Mädchen fahren, die hinabschlägt die steinernen Stufen und lautlos - tot auf der Straße liegenbleibt. Länger kann die Scudéri sich nicht halten. "In Christus' Namen, was ist geschehen, was geht hier vor?" ruft sie, öffnet rasch den Schlag, steigt aus. —Ehrerbietig weicht das Volk der würdigen Dame, die, als sie sieht, wie ein paar mitleidige Weiber das Mädchen aufgehoben, auf die Stufen gesetzt haben, ihr die Stirne mit starkem Wasser reiben, sich dem Desgrais nähert und mit Heftigkeit ihre Frage wiederholt. "Es ist das Entsetzliche geschehen", spricht Desgrais, "René Cardillac wurde heute morgen durch einen Dolchstich ermordet gefunden. Sein Geselle Olivier Brusson ist der Mörder. Eben wurde er fortgeführt ins Gefängnis." — "Und das Mädchen?" ruft die Scudéri - — "ist", fällt Desgrais ein, "ist Madelon, Cardillacs Tochter. Der verruchte Mensch war ihr Geliebter. Nun weint und heult sie und schreit ein Mal übers andere, daß Olivier unschuldig sei, ganz unschuldig. Am Ende weiß sie von der Tat, und ich muß sie auch nach der Conciergerie bringen lassen."Desgrais warf, als er dies sprach, einen tückischen, schadenfrohen Blick auf das Mädchen, vor dem die Scudéri erbebte. Eben begann das Mädchen leise zu atmen, doch keines Lauts, keiner Bewegung mächtig, mit geschlossenen Augen lag sie da, und man wußte nicht, was zu tun, sie ins Haus bringen oder ihr noch länger beistehen bis zum Erwachen. Tief bewegt, Tränen in den Augen, blickte die Scudéri den unschuldsvollen Engel an, ihr graute vor Desgrais und seinen Gesellen. Da polterte es dumpf die Treppe herab, man brachte Cardillacs Leichnam. Schnell entschlossen rief die Scudéri laut: "Ich nehme das Mädchen mit mir, Ihr möget für das übrige sorgen, Desgrais!" Ein dumpfes Murmeln des Beifalls lief durch das Volk. Die Weiber hoben das Mädchen indie Höhe, alles drängte sich hinzu, hundert Hände mühten sich, ihnen beizustehen, und wie in den Lüften schwebend, wurde das Mädchen in die Kutsche getragen, indem Segnungen der würdigen Dame, die die Unschuld dem Blutgericht entrissen, von allen Lippen strömten.

Serons, des berühmtesten Arztes in Paris, Bemühungen gelang es endlich, Madelon, die stundenlang in starrer Bewußtlosigkeit gelegen, wieder zu sich selbst zu bringen. Die Scudéri vollendete, was der Arzt begonnen, indem sie manchen milden Hoffnungsstrahl leuchten ließ in des Mädchens Seele, bis ein heftiger Tränenstrom, der ihr aus den Augen stürzte, ihr Luft machte. Sie vermochte, indem nur dann und wann die Übermacht des durchbohrendsten Schmerzes die Worte in tiefem Schluchzen erstickte, zu erzählen, wie sich alles begeben.

Um Mitternacht war sie durch leises Klopfen an ihrer Stubentüre geweckt worden und hatte Oliviers Stimme vernommen, der sie beschworen, doch nur gleich aufzustehen, weil der Vater im Sterben liege. Entsetzt sei sie aufgesprungen und habe die Tür geöffnet. Olivier, bleich und entstellt, von Schweiß triefend, sei, das Licht in der Hand, mit wankenden Schritten nach der Werkstatt gegangen, sie ihm gefolgt. Da habe der Vater gelegen mit starren Augen und geröchelt im Todeskampfe. Jammernd habe sie sich auf ihn gestürzt und nun erst sein blutiges Hemde bemerkt. Olivier habe sie sanft weggezogen und sich dann bemüht, eine Wunde auf der linken Brust des Vaters mit Wundbalsam zu waschen und zu verbinden. Währenddessen sei des Vaters Besinnung zurückgekehrt, er habe zu röcheln aufgehört und sie, dann aber Olivier mit seelenvollem Blick angeschaut, ihre Hand ergriffen, eiern in Oliviers Hand gelegt und beide heftig gedrückt. Beide, Olivier und sie, wären bei dem Lager des Vaters auf die Knie gefallen, er habe sich mit einem schneidenden Laut in die Höhe gerichtet, sei aber gleich

wieder zurückgesunken und mit einem tiefen Seufzer verschieden. Nun hätten sie beide laut gejammert und geklagt. Olivier habe erzählt, wie der Meister auf einem Gange, den er mit ihm auf sein Geheiß in der Nacht habe machen müssen, in seiner Gegenwart ermordet worden und wie er mit der größten Anstrengung den schweren Mann, den er nicht auf den Tod verwundet gehalten, nach Hause getragen. Sowie der Morgen angebrochen, wären die Hausleute, denen das Gepolter, das laute Weinen und Jammern in der Nacht aufgefallen, heraufgekommen und hätten sie noch ganz trostlos bei der Leiche des Vaters kniend gefunden. Nun sei Lärm entstanden, die Marechaussee eingedrungen und Olivier als Mörder seines Meisters ins Gefängnis geschleppt worden. Madelon fügte nun die rührendste Schilderung von der Tugend, der Frömmigkeit, der Treue ihres geliebten Oliviers hinzu. Wie er den Meister, als sei er sein eigener Vater, hoch in Ehren gehalten, wie dieser seine Liebe in vollem Maß erwidert, wie er ihn trotz seiner Armut zum Eidam erkoren, weil seine Geschicklichkeit seiner Treue, seinem edlen Gemüt gleichgekommen. Das alles erzählte Madelon aus dem innersten Herzen heraus und schloß damit, daß, wenn Olivier in ihrem Beisein dem Vater den Dolch in die Brust gestoßen hätte, sie dies eher für ein Blendwerk des Satans halten, als daran glauben würde, daß Olivier eines solchen entsetzlichen, grauenvollen Verbrechens fähig sein könne.

Die Scudéri, von Madelons namenlosen Leiden auf das tiefste gerührt und ganz geneigt, den armen Olivier für unschuldig zu halten, zog Erkundigungen ein und fand alles bestätigt, was Madelon über das häusliche Verhältnis des Meisters mit seinem Gesellen erzählt hatte. Die Hausleute, die Nachbaren rühmten einstimmig den Olivier als das Muster eines sittigen, frommen, treuen, fleißigen Betragens, niemand wußte Böses von ihm, und doch, war von der gräßlichen Tat die Rede, zuckte jeder die Achseln und meinte, darin liege etwas Unbegreifliches.

Olivier, vor die Chambre ardente gestellt, leugnete, wie die Scudéri vernahm, mit der größten Standhaftigkeit, mit dem hellsten Freimut die ihm angeschuldigte Tat und behauptete, daß sein Meister in seiner Gegenwart auf der Straße angefallen und niedergestoßen worden, daß er ihn aber noch lebendig nach Hause geschleppt, wo er sehr bald verschieden sei. Auch dies stimmte also mit Madelons Erzählung überein.

Immer und immer wieder ließ sich die Scudéri die kleinsten Umstände des schrecklichen Ereignisses wiederholen. Sie forschte genau, ob jemals ein Streit zwischen Meister und Gesellen vorgefallen, ob vielleicht Olivier nicht ganz frei von jenem Jähzorn sei, der oft wie ein blinder Wahnsinn die gutmütigsten Menschen überfällt und zu Taten verleitet, die alle Willkür des Handelns auszuschließen scheinen. Doch je begeisterter Madelon von dem ruhigen häuslichen Glück sprach, in dem die drei Menschen in innigster Liebe verbunden lebten, destomehr verschwand jeder Schatten des Verdachts wider den auf den Tod angeklagten Olivier. Genau alles prüfend, davon ausgehend, daß Olivier, unerachtet alles dessen, was laut für seine Unschuld spräche, dennoch Cardillacs Mörder gewesen, fand die Scudéri im Reich der Möglichkeit keinen Beweggrund zu der entsetzlichen Tat, die in jedem Fall Oliviers Glück zerstören mußte. — Er ist arm, aber geschickt. — Es gelingt ihm, die Zuneigung des berühmtesten Meisters zu gewinnen, er liebt die Tochter, der Meister begünstigt seine Liebe, Glück, Wohlstand für sein ganzes Leben wird ihm erschlossen! — Sei es aber nun, daß, Gott weiß auf welche Weise gereizt, Olivier, vom Zorn übermannt, seinen Wohltäter, seinen Vater mörderisch anfiel, welche teuflische Heuchelei gehört dazu, nach der Tat sich so zu betragen, als es wirklich geschah! —Mieder festen Überzeugung von Oliviers Unschuld faßte die Scudéri den Entschluß, den unschuldigen Jüngling adretten, koste es, was es wolle.

Es schien ihr, ehe sie die Huld des Königs selbst viel-

leicht anrufe, am geratensten, sich an den Präsidenten la Regnie zu wenden, ihn auf alle Umstände, die für Oliviers Unschuld sprechen mußten, aufmerksam zu machen und so vielleicht in des Präsidenten Seele eine innere, dem Angeklagten günstige Überzeugung zu erwecken, die sich wohltätig den Richtern mitteilen sollte.

La Regnie empfing die Scudéri mit der hohen Achtung, auf die die würdige Dame, von dem Könige selbst hoch geehrt, gerechten Anspruch machen konnte. Er hörte ruhig alles an, was sie über die entsetzliche Tat, über Oliviers Verhältnisse, über seinen Charakter vorbrachte. Ein feines, beinahe hämisches Lächeln war indessen alles, womit er bewies, daß die Beteurungen, die von häufigen Tränen begleiteten Ermahnungen, wie jeder Richter nicht der Feind des Angeklagten sein, sondern auch auf alles achten müsse, was zu seinen Gunsten spräche, nicht an gänzlich tauben Ohren vorüberglitten. Als das Fräulein nun endlich ganz erschöpft, die Tränen von den Augen wegtrocknend, schwieg, fing Regale an: "Es ist ganz Eures vortrefflichen Herzens würdig, mein Fräulein, daß Ihr, gerührt von den Tränen eines jungen, verliebten Mädchens, alles glaubt, was sie vorbringt, ja daß Ihr nicht fähig seid, den Gedanken einer entsetzlichen Untat zu fassen, aber anders ist es mit dem Richter, der gewohnt ist, frecher Heuchelei die Larve abzureißen. Wohl mag es nicht meines Amts sein, jedem, der mich frägt, den Gang eines Kriminalprozesses zu entwickeln. Fräulein! ich tue meine Pflicht, wenig kümmert mich das Urteil der Welt. Zittern sollen die Bösewichter vor der Chambre ardente, die keine Strafe kennt als Blut und Feuer. Aber vor Euch, mein würdiges Fräulein, möcht ich nicht für ein Ungeheuer gehalten werden an Härte und Grausamkeit, darum vergönnt mir, daß ich Euch mit wenigen Worten die Blutschuld des jungen Bösewichts, der, dem Himmel sei es gedankt! der Rache verfallen ist, klar vor Augen lege. Euer scharfsinniger Geist wird dann selbst die Gutmütigkeit verschmähen, die Euch Ehre macht, mir aber gar nicht anstehen

würde. — Also! — Am Morgen wird René Cardillac durch einen Dolchstoß ermordet gefunden. Niemand ist bei ihm als sein Geselle Olivier Brusson und die Tochter. In Oliviers Kammer, unter andern, findet man einen Dolch, von frischem Blute gefärbt, der genau in die Wunde paßt. ,Cardillac ist', spricht Olivier, ,in der Nacht vor meinen Augen niedergestoßen worden.' — ,Man wollte ihn berauben?' — ,Das weiß ich nicht!' — ,Du gingst mit ihm, und es war dir nicht möglich, dem Mörder zu wehren? — ihn festzuhalten? um Hülfe zu rufen?' ~I~unftekn, wohl zwanzig Schritte vor mir ging der Meister, ich folgte ihm.' — ,Warum in aller Welt so entfernt?' — ,Der Meister wollt es so.' — ,Was hatte überhaupt Meister Cardillac so spät auf der Straße zu tun?' — ,Das kann ich nicht sagen.' — ,Sonst ist er aber doch niemals nach neun Uhr abends aus dem Hause gekommen?' — Hier stockt Olivier, er ist bestürzt, er seufzt, er vergießt Tränen, er beteuert bei allem, was heilig, daß Cardillac wirklich in jener Nacht ausgegangen sei und seinen Tod gefunden habe. Nun merkt aber wohl auf, mein Fräulein. Erwiesen ist es bis zur vollkommensten Gewißheit. daß Cardillac in jener Nacht das Haus nicht verließ, mithin ist Oliviers Behauptung, er sei mit ihm wirklich ausgegangen, eine freche Lüge. Die Haustüre ist mit einem schweren Schloß versehen, welches bei dem Auf- und Zuschließen ein durchdringendes Geräusch macht, dann aber bewegt sich der Türflügel, widrig knarrend und heulend, in den Angeln, so daß, wie es angestellte Versuche bewährt haben, selbst im obersten Stock des Hauses das Getöse widerhallt. Nun wohnt in dem untersten Stock, also dicht neben der Haustüre, der alte Meister Claude Padru mit seiner Aufwärterin, einer Person von beinahe achtzig Jahren, aber noch munter und rührig. Diese beiden Personen hörten, wie Cardillac nach seiner gewöhnlichen Weise an jenem Abend Punkt neun Uhr die Treppe hinabkam, die Türe mit vielem Geräusch verschloß und verrammelte, dann wieder hinaufstieg, den Abendsegen laut las und dann, wie man es an dem Zuschlagen der Türe vernehmen konnte, in sein Schlafzimmer ging. Meister Claude leidet an Schlaflosigkeit, wie es alten Leuten wohl zu gehen pflegt. Auch in jener Nacht konnte er kein Auge zutun. Die Aufwärterin schlug daher, es mochte halb zehn Uhr sein, in der Küche, in die sie, über den Hausflur gehend, gelangt, Licht an und setzte sich zum Meister Claude an den Tisch mit einer alten Chronik, Inder sie las, während der Alte, seinen Gedanken nachhängend, bald sich in den Lehnstuhl setzte, bald wieder aufstand und, um Müdigkeit und Schlaf zu gewinnen, im Zimmer leise und langsam auf und ab schritt. Es blieb alles still und ruhig bis nach Mitternacht. Da hörte sie über sich scharfe Tritte, einen harten Fall, als stürze eine schwere Last zu Boden, und gleich darauf ein dumpfes Stöhnen. In beide kam eine seltsame Angst und Beklommenheit. Die Schauer der entsetzlichen Tat, die eben begangen, gingen bei ihnen vorüber. — Mit dem hellen Morgen trat dann ans Licht, was in der Finsternis begonnen." — "Aber", fiel die Scudéri ein, "aber um aller Heiligen willen, könnt Ihr bei allen Umständen, die ich erst weitläuftig erzählte, Euch denn irgendeinen Anlaß zu dieser Tat der Hölle denken?" —Um". erwidere la Regnie, "Cardillac war nicht arm - im Besitz vortrefflicher Steine." — "Bekam", fuhr die Scudéri fort, "bekam denn nicht alles die Tochter? — Ihr vergeßt, daß Olivier Cardillacs Schwiegersohn werden sollte." — "Er mußte vielleicht teilen oder gar nur für andere morden", sprach la Regnie. "Teilen, für andere morden?" fragte die Scudéri in vollem Erstaunen. "Wißt", fuhr der Präsident fort, "wißt, mein Fräulein! daß Olivier schon längst geblutet hätte auf dem Greveplatz, stünde seine Tat nicht in Beziehung mit dem dicht verschleierten Geheimnis, das bisher so bedrohlich über ganz Paris waltete. Olivier gehört offenbar zu jener verruchten Bande, die, alle Aufmerksamkeit, alle Mühe, alles Forschen der Gerichtshöfe verspottend, ihre Streiche sicher und ungestraft zu führen wußte. Durch ihn wird - muß alles klar werden. Die Wunde Cardillacs ist denen ganz ähnlich, die alle auf der Straße, in den Häusern Ermordete und Beraubte trugen. Dann aber das Entscheidendste, seit der Zeit, daß Olivier Brusson verhaftet ist, haben alle Mordtaten, alle Beraubungen aufgehört. Sicher sind die Straßen zur Nachtzeit wie am Tage. Beweis genug, daß Olivier vielleicht an der Spitze jener Mordbande stand. Noch will er nicht bekennen, aber es gibt Mittel, ihn sprechen zu machen wider seinen Willen." — "Und Madelon", rief die Scudéri, "und Madelon, die treue, unschuldige Taube." — "Ei", sprach la Regnie mit einem giftigen Lächeln, "ei, wer steht mir dafür, daß sie nicht mit im Komplott ist. Was ist ihr an dem Vater gelegen, nur dem Mordbuben gelten ihre Tränen." — "Was sagt Ihr", schrie die Scudéri, "es ist nicht möglich; den Vater! dieses Mädchen!" —"Oh!" fuhr la Regnie fort, "oh! denkt doch nur an die Brinvillier! Ihr möget es mir verzeihen, wenn ich mich vielleicht bald genötigt sehe, Euch Euern Schützling zu entreißen und in die Conciergerie werfen zu lassen." — Der Scudéri ging ein Grausen an bei diesem entsetzlichen Verdacht. Es war ihr, als könne vor diesem schrecklichen Manne keine Treue, keine Tugend bestehen, als spähe er in den tiefsten, geheimsten Gedanken Mord und Blutschuld. Sie stand auf. "Seid menschlich", das war alles, was sie beklommen, mühsam atmend hervorbringen konnte. Schon im Begriff, die Treppe hinabzusteigen, bis zu der der Präsident sie mit zeremoniöser Artigkeit begleitet hatte, kam ihr, selbst wußte sie nicht wie, ein seltsamer Gedanke. "Würd es mir wohl erlaubt sein, den unglücklichen Olivier Brusson zu sehen?" So fragte sie den Präsidenten, sich rasch umwendend. Dieser schaute sie mit bedenklicher Miene an, dann verzog sich sein Gesicht in jenes widrige Lächeln, das ihm eigen. "Gewiß", sprach er, "gewiß wollt Ihr nun, mein würdiges Fräulein, Euerm Gefühl, der innern Stimme mehr vertrauend als dem, was vor unsern Augen geschehen, selbst Oliviers Schuld oder Unschuld prüfen. Scheut Ihr nicht den düstern Aufenthalt des Verbrechens, ist es Euch nicht gehässig, die Bilder der Verworfenheit in allen Abstufungen zu sehen, so sollen für Euch in zwei Stunden die Tore der Conciergerie offen sein. Man wird Euch diesen Olivier, dessen Schicksal Eure Teilnahme erregt, vorstellen."

In der Tat konnte sich die Scudéri von der Schuld des jungen Menschen nicht überzeugen. Alles sprach wider ihn, ja, kein Richter in der Welt hätte anders gehandelt wie la Regnie, bei solch entscheidenden Tatsachen. Aber das Bild häuslichen Glücks, wie es Madelon mit den lebendigsten Zügen der Scudéri vor Augen gestellt, überstrahlte jeden bösen Verdacht, und so mochte sie lieber ein unerklärliches Geheimnis annehmen, als daran glauben, wogegen ihr ganzes Inneres sich empörte.

Sie gedachte, sich von Olivier noch einmal alles, wie es sich in jener verhängnisvollen Nacht begeben, erzählen zu lassen und, soviel möglich, in ein Geheimnis zu dringen, das vielleicht den Richtern verschlossen geblieben, weil es wertlos schien, sich weiter darum zu bekümmern.

In der Conciergerie angekommen, führte man die Scudéri in ein großes, helles Gemach. Nicht lange darauf vernahm sie Kettengerassel. Olivier Brusson wurde gebracht. Doch sowie er in die Türe trat, sank auch die Scudéri ohnmächtig nieder. Als sie sich erholt hatte, war Olivier verschwunden. Sie verlangte mit Heftigkeit, daß man sie nachdem Wagen bringe, fort, augenblicklich fort wollte sie aus den Gemächern der frevelnden Verruchtheit. Ach! — auf den ersten Blick hatte sie in Olivier Brusson den jungen Menschen erkannt, der auf dem Pontneuf jenes Blatt ihr in den Wagen geworfen, der ihr das Kästchen mit den Juwelen gebracht hatte. — Nun war ja jeder Zweifel gehoben, la Regnies schreckliche Vermutung ganz bestätigt. Olivier Brusson gehört zu der fürchterlichen Mordbande, gewiß ermordete er auch den Meister! — Und Madelon? — So bitter noch nie vom innern Gefühl getäuscht, auf den Tod angepackt von der höllischen Macht auf Erden, an deren Dasein sie nicht geglaubt, verzweifelte die Scudéri an aller Wahrheit. Sie

gab Raum dem entsetzlichen Verdacht, daß Madelon mitverschworen sein und teilhaben könne an der gräßlichen Blutschuld. Wie es denn geschieht, daß der menschliche Geist, ist ihm ein Bild aufgegangen, emsig Farben sucht und findet, es greller und greller auszumalen, so fand auch die Scudéri, jeden Umstand der Tat, Madelons Betragen in den kleinsten Zügen erwägend, gar vieles, jenen Verdacht zu nähren. So wurde manches, was ihr bisher als Beweis der Unschuld und Reinheit gegolten, sicheres Merkmal freveliger Bosheit, studierter Heuchelei. Jener herzzerreißende Jammer, die blutigen Tränen konnten wohl erpreßt sein von der Todesangst, nicht den Geliebten bluten zu sehen, nein — selbst zu fallen unter der Hand des Henkers. Gleich sich die Schlange, die sie im Busen nähre, vom Halse zu schaffen; mit diesem Entschluß stieg die Scudéri aus dem Wagen. In ihr Gemach eingetreten, warf Madelon sich ihr zu Füßen. Die Himmelsaugen, ein Engel Gottes hat sie nicht treuer, zu ihr emporgerichtet, die Hände vor der wallenden Brust zusammengefaltet, jammerte und flehte sie laut um Hülfe und Trost. Die Scudéri, sich mühsam zusammenfassend, sprach, indem sie dem Ton ihrer Stimme so viel Ernst und Ruhe zu geben suchte, als ihr möglich: "Geh — geh - tröste dich nur über den Mörder, den die gerechte Strafe seiner Schandtaten erwartet. — Die Heilige Jungfrau möge verhüten, daß nicht auf dir selbst eine Blutschuld schwer laste." —"Ach, nun ist alles verloren!" — Mit diesem gellenden Ausruf stürzte Madelon ohnmächtig zu Boden. Die Scudéri überließ die Sorge um das Mädchen der Martiniere und entfernte sich in ein anderes Gemach.

Ganz zerrissen im Innern, entzweit mit allem Irdischen, wünschte die Scudéri, nicht mehr in einer Welt voll höllischen Truges zu leben. Sie klagte das Verhängnis an, das in bitterm Hohn ihr so viele Jahre vergönnt, ihren Glauben an Tugend und Treue zu stärken, und nun in ihrem Alter das schöne Bild vernichte, welches ihr im Leben geleuchtet.

Sie vernahm, wie die Martiniere Madelon fortbrachte, die

leise seufzte und jammerte: "Ach! — auch sie - auch sie haben die Grausamen betört. —Ich Elende - armer, unglücklicher Olivier!" — Die Töne drangen der Scudéri ins Herz, und aufs neue regte sich aus dem tiefsten Innern heraus die Ahnung eines Geheimnisses, der Glaube an Oliviers Unschuld. Bedrängt von den widersprechendsten Gefühlen, ganz außer sich rief die Scudéri: "Welcher Geist der Hölle hat mich in die entsetzliche Geschichte verwickelt, die mir das Leben kosten wird!" — In dem Augenblick trat Baptiste hinein, bleich und erschrocken, mit der Nachricht, daß Desgrais draußen sei. Seit dem abscheulichen Prozeß der la Voisin war Desgrais' Erscheinung in einem Hause der gewisse Vorbote irgendeiner peinlichen Anklage, daher kam Baptistes Schreck, deshalb fragte ihn das Fräulein mit mildem Lächeln: "Was ist dir, Baptiste? — Nicht wahr! — der Name Scudéri befand sich auf der Liste der la Voisin?" — "Ach, um Christus' willen", erwiderte Baptiste, am ganzen Leibe zitternd, "wie möget Ihr nur so etwas aussprechen, aber Desgrais - der entsetzliche Desgrais, tut so geheimnisvoll, so dringend, er scheint es gar nicht erwarten zu können, Euch zu sehen!" —"Nun", spach die Scudéri, "nun, Baptiste, so führt ihn nur gleich herein, den Menschen, der Euch so fürchterlich ist und der mir wenigstens keine Besorgnis erregen kann." — "Der Präsident", sprach Desgrais, als er ins Gemach getreten, "der Präsident la Regnie schickt mich zu Euch, mein Fräulein, mit einer Bitte, auf deren Erfüllung er gar nicht hoffen würde, kennte er nicht Euere Tugend, Euern Mut, läge nicht das letzte Mittel, eine böse Blutschuld an den Tag zu bringen, in Euern Händen, hättet Ihr nicht selbst schon teilgenommen an dem bösen Prozeß, der die Chambre ardente, uns alle in Atem hält. Olivier Brusson, seitdem er Euch gesehen hat, ist halb rasend. Sosehr er schon zum Bekenntnis sich zu neigen schien, so schwört er doch jetzt aufs neue bei Christus und allen Heiligen, daß er an dem Morde Cardillacs ganz unschuldig sei, wiewohl er den Tod gern leiden wolle, den er verdient habe. Be merkt, mein Fräulein, daß der letzte Zusatz offenbar auf andere Verbrechen deutet, die auf ihm lasten. Doch vergebens ist alle Mühe, nur ein Wort weiter herauszubringen, selbst die Drohung mit der Tortur hat nichts gefruchtet. Er fleht, er beschwört uns, ihm eine Unterredung mit Euch zu verschaffen, Euch nur, Euch allein will er alles gestehen. Laßt Euch herab, mein Fräulein, Brussons Bekenntnis zu hören." — "Wie!" rief die Scudéri ganz entrüstet, "soll ich dem Blutgericht zum Organ dienen, soll ich das Vertrauen des unglücklichen Menschen mißbrauchen, ihn aufs Blutgerüst zu bringen? — Nein, Desgrais! mag Brusson auch ein verruchter Mörder sein, nie wär es mir doch möglich, ihn so spitzbübisch zu hintergehen. Nichts mag ich von seinen Geheimnissen erfahren, die wie eine heilige Beichte in meiner Brust verschlossen bleiben würden." — "Vielleicht", versetzte Desgrais mit einem feinen Lächeln, "vielleicht, mein Fräulein, ändert sich Eure Gesinnung, wenn Ihr Brusson gehört habt. Batet Ihr den Präsident nicht selbst, er sollte menschlich sein? Er tut es, indem er dem törichten Verlangen Brussons nachgibt und so das letzte Mittel versucht, ehe er die Tortur verhängt, zu der Brusson längst reif ist." Die Scudéri schrak unwillkürlich zusammen. "Seht", fuhr Desgrais fort, "seht, würdige Dame, man wird Euch keineswegs zumuten, noch einmal in jene finstere Gemächer zu treten, die Euch mit Grausen und Abscheu erfüllen. In der Stille der Nacht, ohne alles Aufsehen bringt man Olivier Brusson wie einen freien Menschen zu Euch in Euer Haus. Nicht einmal belauscht, doch wohl bewacht, mag er Euch dann zwanglos alles bekennen. Daß Ihr für Euch selbst nichts von dem Elenden zu fürchten habt, dafür stehe ich Euch mit meinem Leben ein. Er spricht von Euch mit inbrünstiger Verehrung. Er schwört, daß nur das düstre Verhängnis, welches ihm verwehrt habe, Euch früher zu sehen, ihn in den Tod gestürzt. Und dann steht es ja bei Euch, von dem, was Euch Brusson entdeckt, so viel zu sagen, als Euch beliebt. Kann man Euch zu mehrerem zwingen?"

Die Scudéri sah tief sinnend vor sich nieder. Es war ihr, als müsse sie der höheren Macht gehorchen, die den Aufschluß irgendeines entsetzlichen Geheimnisses von ihr verlange, als könne sie sich nicht mehr den wunderbaren Verschlingungen entziehen, in die sie willenlos geraten. Plötzlich entschlossen, sprach sie mit Würde: "Gott wird mir Fassung und Standhaftigkeit geben; führt den Brusson her, ich will ihn sprechen."

So wie damals, als Brusson das Kästchen brachte, wurde um Mitternacht an die Haustüre der Scudéri gepocht. Baptiste, von dem nächtlichen Besuch unterrichtet, öffnete. Eiskalter Schauer überlief die Scudéri, als sie anden leisen Tritten, an dem dumpfen Gemurmel wahrnahm, daß die Wächter, die den Brusson gebracht, sich in den Gängen des Hauses verteilten.

Endlich ging leise die Türe des Gemachs auf. Desgrais trat herein, hinter ihm Olivier Brusson, fesselfrei, in anständigen Kleidern. "Hier ist", sprach Desgrais, sich ehrerbietig verneigend, "hier ist Brusson, mein würdiges Fräulein !", und verließ das Zimmer.

Brusson sank vor der Scudéri nieder auf beide Knie, flehend erhob er die gefalteten Hände, indem häufige Tränen ihm aus den Augen rannen.

Die Scudéri schaute erblaßt, keines Wortes mächtig, auf ihn herab. Selbst bei den entstellten, ja durch Gram, durch grimmen Schmerz verzerrten Zügen strahlte der reine Ausdruck des treusten Gemüts aus dem Jünglingsantlitz. Je länger die Scudéri ihre Augen auf Brussons Gesicht ruhen ließ, desto lebhafter trat die Erinnerung an irgendeine geliebte Person hervor, auf die sie sich nur nicht deutlich zu besinnen vermochte. Alle Schauer wichen von ihr, sie vergaß, daß Cardillacs Mörder vor ihr kniee, sie sprach mit dem anmutigen Tone des ruhigen Wohlwollens, der ihr eigen: "Nun, Brusson, was habt Ihr mir zu sagen?" Dieser, noch immer kniend, seufzte auf vor tiefer, inbrünstiger Wehmut und sprach dann: "0 mein würdiges, mein hochverehrtes

Fräulein, ist denn jede Spur der Erinnerung an mich verflogen?" Die Scudéri; ihn noch aufmerksamer betrachtend, erwiderte, daß sie allerdings in seinen Zügen die Ähnlichkeit mit einer von ihr geliebten Person gefunden und daß er nur dieser Ähnlichkeit es verdanke, wenn sie den tiefen Abscheu vor dem Mörder überwinde und ihn ruhig anhöre. Brusson, schwer verletzt durch diese Worte, erhob sich schnell und trat, den finstern Blick zu Boden gesenkt, einen Schritt zurück. Dann sprach er mit dumpfer Stimme: "Habt Ihr denn Anne Guiot ganz vergessen? — ihr Sohn Olivier - der Knabe, den Ihr oft auf Euern Knien schaukeltet, istes, der vor Euch steht."— "Oh, um aller Heiligen willen!" rief die Scudéri, indem sie, mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, in die Polster zurücksank. Das Fräulein hatte wohl Ursache genug, sich auf diese Weise zu entsetzen. Anne Guiot, die Tochter eines verarmten Bürgers, war von klein auf bei der Scudéri, die sie, wie die Mutter das liebe Kind, erzog mit aller Treue und Sorgfalt. Als sie nun herangewachsen, fand sich ein hübscher sittiger Jüngling, Claude Brusson geheißen, ein, der um das Mädchen warb. Da er nun ein grundgeschickter Uhrmacher war, der sein reichliches Brot in Paris finden mußte, Anne ihn auch herzlich liebgewonnen hatte, so trug die Scuden gar kein Bedenken, in die Heirat ihrer Pflegetochter zu willigen. Die jungen Leute richteten sich ein, lebten in stiller, glücklicher Häuslichkeit, und was den Liebesbund noch fester knüpfte, war die Geburt eines wunderschönen Knaben, der holden Mutter treues Ebenbild.

Einen Abgott machte die Scudéri aus dem kleinen Olivier, den sie stunden-, tagelang der Mutter entriß, um ihn zu liebkosen, zu hätscheln. Daher kam es, daß der Junge sich ganz an sie gewöhnte und ebensogern bei ihr war als bei der Mutter. Drei Jahre waren vorüber, als der Brotneid der Kunstgenossen Brussons es dahin brachte, daß seine Arbeit mit jedem Tage abnahm, so daß er zuletzt kaum sich kümmerlich ernähren konnte. Dazu kam die Sehnsucht nach seinem schönen heimatlichen Genf, und so geschah es,

daß die kleine Familie dorthin zog, des Widerstrebens der Scudéri, die alle nur mögliche Unterstützung versprach, unerachtet. Noch ein paarmal schrieb Anne an ihre Pflegemutter, dann schwieg sie, und diese mußte glauben, daß das glückliche Leben in Brussons Heimat das Andenken an die früher verlebten Tage nicht mehr aufkommen lasse.

Es waren jetzt gerade dreiundzwanzig Jahre her, als Brusson mit seinem Weibe und Kinde Paris verlassen und nach Genf gezogen.

"0 entsetzlich", rief die Scudéri, als sie sich einigermaßen wieder erholt hatte, "o entsetzlich! — Olivier bist du? — der Sohn meiner Anne! — Und jetzt! —" — "Wohl", versetzte Olivier ruhig und gefaßt, "wohl, mein würdiges Fräulein, hättet Ihr nimmermehr ahnen können, daß der Knabe, den Ihr wie die zärtlichste Mutter hätscheltet, dem Ihr, auf Euerm Schoß ihn schaukelnd, Näscherei auf Näscherei in den Mund stecktet, dem Ihr die süßesten Namen gabt, zum Jünglinge gereift, dereinst vor Euch stehen würde, gräßlicher Blutschuld angeklagt! — Ich bin nicht vorwurfsfrei, die Chambre ardente kann mich mit Recht eines Verbrechens zeihen; aber, so wahr ich selig zu sterben hoffe, sei es auch durch des Henkers Hand, rein bin ich von jeder Blutschuld, nicht durch mich, nicht durch mein Verschulden fiel der unglückliche Cardillac!" — Olivier geriet bei diesen Worten in ein Zittern und Schwanken. Stillschweigend wies die Scuden auf einen kleinen Sessel, der Olivier zur Seite stand. Er ließ sich langsam nieder.

"Ich hatte Zeit genug", fing er an, "mich auf die Unterredung mit Euch, die ich als die letzte Gunst des versöhnten Himmels betrachte, vorzubereiten und so viel Ruhe und Fassung zu gewinnen als nötig, Euch die Geschichte meines entsetzlichen, unerhörten Mißgeschicks zu erzählen. Erzeigt mir die Barmherzigkeit, mich ruhig anzuhören, sosehr Euch auch die Entdeckung eines Geheimnisses, das Ihr gewiß nicht geahnet, überraschen, ja mit Grausen erfüllen mag. — Hätte mein armer Vater Paris doch niemals verlassen! — Soweit

meine Erinnerung an Genf reicht, finde ich mich wieder, von den trostlosen Eltern mit Tränen benetzt, von ihren Klagen, die ich nicht verstand, selbst zu Tränen gebracht. Später kam mir das deutliche Gefühl, das volle Bewußtsein des drückendsten Mangels, des tiefen Elends, in dem meine Eltern lebten. Mein Vater fand sich in allen seinen Hoffnungen getäuscht. Von tiefem Gram niedergebeugt, erdrückt, starb er in dem Augenblick, als es ihm gelungen war, mich bei einem Goldschmied als Lehrjunge unterzubringen. Meine Mutter sprach viel von Euch, sie wollte Euch alles klagen, aber dann überfiel sie die Mutlosigkeit, welche vom Elend erzeugt wird. Das und auch wohl falsche Scham, die oft an dem todwunden Gemüte nagt, hielt sie von ihrem Entschluß zurück. Wenige Monden nach dem Tode meines Vaters folgte ihm meine Mutter ins Grab." — "Arme Anne! arme Anne!" rief die Scudéri, von Schmerz überwältigt. "Dank und Preis der ewigen Macht des Himmels, daß sie hinüber ist und nicht fallen sieht den geliebten Sohn unter der Hand des Henkers, mit Schande gebrandmarkt." So schrie Olivier laut auf, indem er einen wilden entsetzlichen Blick in die Höhe warf. Es wurde draußen unruhig, man ging hin und her. "Ho, ho", sprach Olivier mit einem bittern Lächeln, "Desgrais weckt seine Spießgesellen, als ob ich hier entfliehen könnte. — Doch weiter! — Ich wurde von meinem Meister hart gehalten, unerachtet ich bald am besten arbeitete, ja wohl endlich den Meister weit übertraf. Es begab sich, daß einst ein Fremder in unsere Werkstatt kam, um einiges Geschmeide zu kaufen. Als der nun einen schönen Halsschmuck sah, den ich gearbeitet, klopfte er mir mit freundlicher Miene auf die Schultern, indem er, den Schmuck beäugelnd, sprach: ,Ei, ei! mein junger Freund, das ist ja ganz vortreffliche Arbeit. Ich wüßte in der Tat nicht, wer Euch noch anders übertreffen sollte als René Cardillac, der freilich der erste Goldschmied ist, den es auf der Welt gibt. Zu dem solltet Ihr hingehen; mit Freuden nimmt er Euch in seine Werkstatt, denn nur Ihr könnt ihm beistehen in seiner kunstvollen Arbeit, und nur von ihm allein könnt Ihr dagegen noch lernen.' Die Worte des Fremden waren tief in meine Seele gefallen. Ich hatte keine Ruhe mehr in Genf, mich zog es fort mit Gewalt. Endlich gelang es mir, mich von meinem Meister loszumachen. Ich kam nach Paris. René Cardillac empfing mich kalt und barsch. Ich ließ nicht nach, er mußte mir Arbeit geben, so geringfügig sie auch sein mochte. Ich sollte einen kleinen Ring fertigen. Als ich ihm die Arbeit brachte, sah er mich starr an mit seinen funkelnden Augen, als wollt er hineinschauen in mein Innerstes. Dann sprach er: ,Du bist ein tüchtiger, wackerer Geselle, du kannst zu mir ziehen und mir helfen in der Werkstatt. Ich zahle dir gut, du wirst mit mir zufrieden sein.' Cardillac hielt Wort. Schon mehrere Wochen war ich bei ihm, ohne Madelon gesehen zu haben, die, irr ich nicht, auf dem Lande bei irgendeiner Muhme Cardillacs damals sich aufhielt. Endlich kam sie, O du ewige Macht des Himmels, wie geschah mir, als ich das Engelsbild sah! — Hat je ein Mensch so geliebt als ich! Und nun! — O Madelon!"

Olivier konnte vor Wehmut nicht weitersprechen. Er hielt beide Hände vors Gesicht und schluchzte heftig. Endlich mit Gewalt den wilden Schmerz, der ihn erfaßt, niederkämpfend, sprach er weiter:

"Madelon blickte mich an mit freundlichen Augen. Sie kam öfter und öfter in die Werkstatt. Mit Entzücken gewahrte ich ihre Liebe. So streng der Vater uns bewachte, mancher verstohlne Händedruck galt als Zeichen des geschlossenen Bundes. Cardillac schien nichts zu merken. Ich gedachte, hätte ich erst seine Gunst gewonnen und konnte ich die Meisterschaft erlangen, um Madelon zu werben. Eines Morgens, als ich meine Arbeit beginnen wollte, trat Cardillac vor mich hin, Zorn und Verachtung im finstern Blick. ,Ich bedarf deiner Arbeit nicht mehr', fing er an, ,fort aus dem Hause noch in dieser Stunde, und laß dich nie mehr vor meinen Augen sehen. Warum ich dich hier nicht mehr dulden kann, brauche ich dir nicht zu sagen. Für

dich armen Schlucker hängt die süße Frucht zu hoch, nach der du trachtest!' Ich wollte reden, er packte mich aber mit starker Faust und warf mich zur Türe hinaus, daß ich niederstürzte und mich hart verwundete an Kopf und Arm. — Empört, zerrissen vom grimmen Schmerz, verließ ich das Haus und fand endlich am äußersten Ende der Vorstadt St. Martin einen gutmütigen Bekannten, der mich aufnahm in seine Bodenkammer. Ich hatte keine Ruhe, keine Rast. Zur Nachtzeit umschlich ich Cardillacs Haus, wähnend, daß Madelon meine Seufzer, meine Klage vernehmen, daß es ihr vielleicht gelingen werde, mich vom Fenster herab unbelauscht zu sprechen. Allerlei verwogene Pläne kreuzten in meinem Gehirn, zu deren Ausführung ich sie zu bereden hoffte. An Cardillacs Haus in der Straße Nicaise schließt sich eine hohe Mauer mit Blenden und alten, halb zerstückelten Steinbildern darin. Dicht bei einem solchen Steinbilde stehe ich in einer Nacht und sehe hinauf nach den Fenstern des Hauses, die in den Hof gehen, den die Mauer einschließt. Da gewahre ich plötzlich Licht in Cardillacs Werkstatt. Es ist Mitternacht, nie war sonst Cardillac zu dieser Stunde wach, er pflegte sich auf den Schlag neun Uhr zur Ruhe zu begeben. Mir pocht das Herz vor banger Ahnung, ich denke an irgendein Ereignis, das mir vielleicht den Eingang bahnt. Doch gleich verschwindet das Licht wieder. Ich drücke mich an das Steinbild, in die Blende hinein, doch entsetzt pralle ich zurück, als ich einen Gegendruck fühle, als sei das Bild lebendig worden. In dem dämmernden Schimmer der Nacht gewahre ich nun, daß der Stein sich langsam dreht und hinter demselben eine finstere Gestalt hervorschlüpft, die leisen Trittes die Straße hinabgeht. Ich springe an das Steinbild hinan, es steht wie zuvor dicht an der Mauer. Unwillkürlich, wie von einer innern Macht getrieben, schleiche ich hinter der Gestalt her. Gerade bei einem Marienbilde schaut die Gestalt sich um, der volle Schein der hellen Lampe, die vor dem Bilde brennt, fällt ihr ins Antlitz. Es ist Cardillac! Eine unbegreifliche Angst, ein unheimliches Grauen überfällt mich. Wie durch Zauber festgebannt, muß ich fort — nach dem gespenstischen Nachtwanderer. Dafür halte ich den Meister, unerachtet nicht die Zeit des Vollmonds ist, in der solcher Spuk die Schlafenden betört. Endlich verschwindet Cardillac seitwärts in den tiefen Schatten. An einem kleinen, wiewohl bekannten Räuspern gewahre ich indessen, daß er in die Einfahrt eines Hauses getreten ist. ,Was bedeutet das, was wird er beginnen?' — So frage ich mich selbst voll Erstaunen und drücke mich dicht an die Häuser. Nicht lange dauert's, so kommt singend und trillerierend ein Mann daher mit leuchtendem Federbusch und klirrenden Sporen. Wie ein Tiger auf seinen Raub stürzt sich Cardillac aus seinem Schlupfwinkel auf den Mann, der in demselben Augenblick röchelnd zu Boden sinkt. Mit einem Schrei des Entsetzens springe ich heran, Cardillac ist über den Mann, der zu Boden liegt, her. ,Meister Cardillac, was tut Ihr?' rufe ich laut. ,Vermaledeiter!' brüllt Cardillac, rennt mit Blitzesschnelle bei mir vorbei und verschwindet. Ganz außer mir, kaum der Schritte mächtig, nähere ich mich dem Niedergeworfenen. Ich knie bei ihm nieder, vielleicht, denk ich, ist er noch zu retten, aber keine Spur des Lebens ist mehr in ihm. In meiner Todesangst gewahre ich kaum, daß mich die Marechaussee umringt hat. ,Schon wieder einer von den Teufeln niedergestreckt -he, he —juger Mensch, was machst du da - bist einer von der Bande? — fort mit dir!' So schrien sie durcheinander und packen mich an. Kaum vermag ich zu stammeln, daß ich solche gräßliche Untat ja gar nicht hätte begehen können und daß sie mich im Frieden ziehen lassen möchten. Da leuchtet mir einer ins Gesicht und ruft lachend: ,Das ist Olivier Brusson, der Goldschmiedsgeselle, der bei unserm ehrlichen, braven Meister René Cardillac arbeitet! t.—ja — der wird die Leute auf der Straße morden! —sieht mir recht darnach aus -ist recht nach der Art der Mordbuben, daß sie beim Leichnam lamentieren und sich fangen lassen werden. — Wie war's, Junge? — erzähle dreist.' — ,Dicht vor mir', sprach ich, ,sprang ein Mensch auf den dort los, stieß ihn nieder und rannte blitzschnell davon, als ich laut aufschrie. Ich wollt doch sehen, ob der Niedergeworfene noch zu retten wäre.' — ,Nein, mein Sohn', ruft einer von denen, die den Leichnam aufgehoben, ,der ist hin, durchs Herz, wie gewöhnlich, geht der Dolchstich.' —',Teufel', spricht ein anderer, ,kamen wir doch wieder zu spät wie vorgestern' — damit entfernen sie sich mit dem Leichnam.

Wie mir zumute war, kann ich gar nicht sagen; ich fühlte mich an, ob nicht ein böser Traum mich necke, es war mir, als müßt ich nun gleich erwachen und mich wundern über das tolle Trugbild. — Cardillac - der Vater meiner Madelon, ein verruchter Mörder! — Ich war kraftlos auf die steinernen Stufen eines Hauses gesunken. Immer mehr und mehr dämmerte der Morgen herauf, ein Offizierhut, reich mit Federn geschmückt, lag vor mir auf dem Pflaster. Cardillacs blutige Tat, auf der Stelle begangen, wo ich saß, ging vor mir hell auf. Entsetzt rannte ich von dannen.

Ganz verwirrt, beinahe besinnungslos sitze ich in meiner Dachkammer, da geht die Tür auf und René Cardillac tritt herein. ,Um Christus' willen! was wollt Ihr?' schrie ich ihm entgegen. Er, das gar nicht achtend, kommt auf mich zu und lächelt mich an mit einer Ruhe und Leutseligkeit, die meinen innern Abscheu vermehrt. Er rückt einen alten, gebrechlichen Schemel heran und setzt sich zu mir, der ich nicht vermag, mich von dem Strohlager zu erheben, auf das ich mich geworfen. ,Nun, Olivier', fängt er an, ,wie geht es dir, armer junge? Ich habe mich in der Tat garstig übereilt, als ich dich aus dem Hause stieß, du fehlst mir an allen Ecken und Enden. Eben jetzt habe ich ein Werk vor, das ich ohne deine Hülfe gar nicht vollenden kann. Wie wär's, wenn du wieder in meiner Werkstatt arbeitetest? — Du schweigst? —Ja, ich weiß, ich habe dich beleidigt. Nicht verhehlen wollt ich's dir, daß ich auf dich zornig war wegen der Liebelei mit meiner Madelon. Doch recht überlegt habe ich mir das Ding nachher und gefunden, daß bei deiner Geschicklichkeit,

deinem Fleiß, deiner Treue ich mir keinen bessern Eidam wünschen kann als eben dich. Komm also mit mir und siehe zu, wie du Madelon zur Frau gewinnen magst.'

Cardillacs Worte durchschnitten mir das Herz, ich erbebte vor seiner Bosheit, ich konnte kein Wort hervorbringen. ,Du zauderst', fuhr er nun fort mit scharfem Ton, indem seine funkelnden Augen mich durchbohren, ,du zauderst? — du kannst vielleicht heute noch nicht mit mir kommen, du hast andere Dinge vor! — du willst vielleicht Desgrais besuchen oder dich gar einführen lassen bei d'Argenson oder la Regnie. Nimm dich in acht, Bursche, daß die Krallen, die du hervorlocken willst zu anderer Leute Verderben, dich nicht selbst fassen und zerreißen.' Da macht sich mein tief empörtes Gemüt plötzlich Luft. ,Mögen die', rufe ich, ,mögen die, die sich gräßlicher Untat bewußt sind, jene Namen fühlen, die Ihr eben nanntet, ich darf das nicht — ich habe nichts mit ihnen zu schaffen.' — ,Eigentlich', spricht Cardillac weiter, ,eigentlich, Olivier, macht es dir Ehre, wenn du bei mir arbeitest, bei mir, dem berühmtesten Meister seiner Zeit, überall hochgeachtet wegen seiner Treue und Rechtschaffenheit, so daß jede böse Verleumdung schwer zurückfallen würde auf das Haupt des Verleumders. — Was nun Madelon betrifft, so muß ich dir nur gestehen, daß du meine Nachgiebigkeit ihr allein verdankest. Sie liebt dich mit einer Heftigkeit, die ich dem zarten Kinde gar nicht zutrauen konnte. Gleich als du fort warst, fiel sie mir zu Füßen, umschlang meine Knie und gestand unter tausend Tränen, daß sie ohne dich nicht leben könne. Ich dachte, sie bilde sich das nur ein, wie es denn bei jungen verliebten Dingern zu geschehen pflegt, daß sie gleich sterben wollen, wenn das erste Milchgesicht sie freundlich angeblickt. Aber in der Tat, meine Madelon wurde siech und krank, und wie ich ihr denn das tolle Zeug ausreden wollte, rief sie hundertmal deinen Namen. Was konnt ich endlich tun, wollt ich sie nicht verzweifeln lassen? Gestern abend sagt ich ihr, ich willige

in alles und werde dich heute holen. Da ist sie über Nacht aufgeblüht wie eine Rose und harrt nun auf dich, ganz außer sich vor Liebessehnsucht.' — Mag es mir die ewige Macht des Himmels verzeihen, aber selbst weiß ich nicht, wie es geschah, daß ich plötzlich in Cardillacs Hause stand, daß Madelon, laut aufjauchzend: ,Olivier - mein Olivier - mein Geliebter - mein Gatte!', auf mich gestürzt, mich mit beiden Armen umschlang, mich fest an ihre Brust drückte, daß ich im Übermaß des höchsten Entzückens bei der Jungfrau und allen Heiligen schwor, sie nimmer, nimmer zu verlassen!"

Erschüttert von dem Andenken an diesen entscheidenden Augenblick, mußte Olivier innehalten. Die Scudéri, von Grausen erfüllt über die Untat eines Mannes, den sie für die Tugend, die Rechtschaffenheit selbst gehalten, rief: "Entsetzlich! — René Cardillac gehört zu der Mordbande, die unsere gute Stadt so lange zur Räuberhöhle machte?" —"Was sagt Ihr, mein Fräulein", sprach Olivier, "zur Bande? Nie hat es eine solche Bande gegeben. Cardillac allein war es, der mit verruchter Tätigkeit in der ganzen Stadt seine Schlachtopfer suchte und fand. Daß er es allein war, darin liegt die Sicherheit, womit er seine Streiche führte, die unüberwundene Schwierigkeit, dem Mörder auf die Spur zu kommen. — Doch laßt mich fortfahren, der Verfolg wird Euch die Geheimnisse des verruchtesten und zugleich unglücklichsten aller Menschen aufklären. — Die Lage, in der ich mich nun bei dem Meister befand, jeder mag die sich leicht denken. Der Schritt war geschehen, ich konnte nicht mehr zurück. Zuweilen war es mir, als sei ich selbst Cardillacs Mordgehülfe geworden, nur in Madelons Liebe vergaß ich die innere Pein, die mich quälte, nur bei ihr konnt es mir gelingen, jede äußere Spur namenlosen Grams wegzutilgen. Arbeitete ich mit dem Alten in der Werkstatt, nicht ins Antlitz vermochte ich ihm zu schauen, kaum ein Wort zu reden vor dem Grausen, das mich durchbebte in der Nähe des entsetzlichen Menschen, der alle Tugenden des

treuen, zärtlichen Vaters, des guten Bürgers erfüllte, während die Nacht seine Untaten verschleierte. Madelon, das fromme, engelsreine Kind, hing an ihm mit abgöttischer Liebe. Das Herz durchbohrt' es mir, wenn ich daran dachte, daß, träfe einmal die Rache den verlarvten Bösewicht, sie ja, mit aller höllischen List des Satans getäuscht, der gräßlichsten Verzweiflung unterliegen müsse. Schon das verschloß mir den Mund, und hätt ich den Tod des Verbrechers darum dulden müssen. Unerachtet ich aus den Reden der Marechaussee genug entnehmen konnte, waren mir Cardillacs Untaten, ihr Motiv, die Art, sie auszuführen, ein Rätsel; die Aufklärung blieb nicht lange aus. Eines Tages war Cardillac, der sonst, meinen Abscheu erregend, beider Arbeit in der heitersten Laune scherzte und lachte, sehr ernst und in sich gekehrt. Plötzlich warf er das Geschmeide, woran er eben arbeitete, beiseite, daß Stein und Perlen auseinanderrollten, stand heftig auf und sprach: ,Olivier! — es kann zwischen uns beiden nicht so bleiben, dies Verhältnis ist mir unerträglich. — Was der feinsten Schlauigkeit Desgrais' und seiner Spießgesellen nicht gelang zu entdecken, das spielte dir der Zufall in die Hände. Du hast mich geschaut in der nächtlichen Arbeit, zu der mich mein böser Stern treibt, kein Widerstand ist möglich. — Auch dein böser Stern war es, der dich mir folgen ließ, der dich in undurchdringliche Schleier hüllte, der deinem Fußtritt die Leichtigkeit gab, daß du unhörbar wandeltest wie das kleinste Tier, so daß ich, der ich in der tiefsten Nacht klar schaue wieder Tiger, der ich straßenweit das kleinste Geräusch, das Sumsen der Mücke vernehme, dich nicht bemerkte. Dein böser Stern hat dich, meinen Gefährten, mir zugeführt. An Verrat ist, so wie du jetzt stehst, nicht mehr zu denken. Darum magst du alles wissen.' -..,Nimnsermehr werd ich dein Gefährte sein, heuchlerischer Bösewicht.' So wollt ich aufschreien, aber das innere Entsetzen, das mich bei Cardillacs Worten erfaßt, schnürte mir die Kehle zu. Statt der Worte vermochte ich nur einen unverständigen Laut auszustoßen. Cardillac setzte sich wieder in seinen Arbeitsstuhl. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne. Er schien, von der Erinnerung des Vergangenen hart berührt, sich mühsam zu fassen. Endlich fing er an: ,Weise Männer sprechen viel von den seltsamen Eindrücken, deren Frauen in guter Hoffnung fähig sind, von dem wunderbaren Einfluß solch lebhaften, willenlosen Eindrucks von außen her auf das Kind. Von meiner Mutter erzählte man mir eine wunderliche Geschichte. Als die mit mir im ersten Monat schwanger ging, schaute sie mit andern Weibern einem glänzenden Hoffest zu, das in Trianon gegeben wurde. Da fiel ihr Blick auf einen Kavalier in spanischer Kleidung mit einer blitzenden Juwelenkette um den Hals, von der sie die Augen gar nicht mehr abwenden konnte. Ihr ganzes Wesen war Begierde nach den funkelnden Steinen, die ihr ein überirdisches Gut dünkten. Derselbe Kavalier hatte vor mehreren Jahren, als meine Mutter noch nicht verheiratet, ihrer Tugend nachgestellt, war aber mit Abscheu zurückgewiesen worden. Meine Mutter erkannte ihn wieder, aber jetzt war es ihr, als sei er im Glanz der strahlenden Diamanten ein Wesen höherer Art, der Inbegriff aller Schönheit. Der Kavalier bemerkte die sehnsuchtsvollen, feurigen Blicke meiner Mutter. Er glaubte jetzt glücklicher zu sein als vormals. Er wußte sich ihr zu nähern, noch mehr, sie von ihren Bekannten fort an einen einsamen Ort zu locken. Dort schloß er sie brünstig in seine Arme, meine Mutter faßte nach der schönen Kette, aber in demselben Augenblick sank er nieder und riß meine Mutter mit sich zu Boden. Sei es, daß ihn der Schlag plötzlich getroffen, oder aus einer andern Ursache; genug, er war tot. Vergebens war das Mühen meiner Mutter, sich den im Todeskrampf erstarrten Armen des Leichnams zu entwinden. Die hohlen Augen, deren Sehkraft erloschen, auf sie gerichtet, wälzte der Tote sich mit ihr auf dem Boden. Ihr gellendes Hülfsgeschrei drang endlich bis zu in der Ferne Vorübergehenden, die herbeieilten und sie retteten aus den Armen des grausigen Liebhabers. Das Entsetzen warf meine Mutter auf ein schweres Krankenlager. Man gab sie, mich verloren, doch sie gesundete, und die Entbindung war glücklicher, als man je hatte hoffen können. Aber die Schrecken jenes fürchterlichen Augenblicks hatten mich getroffen. Mein böser Stern war aufgegangen und hatte den Funken hinabgeschossen, der in mir eine der seltsamsten und verderblichsten Leidenschaften entzündet. Schon Inder frühesten Kindheit gingen mir glänzende Diamanten, goldenes Geschmeide über alles. Man hielt das für gewöhnliche kindische Neigung. Aber es zeigte sich anders, denn als Knabe stahl ich Gold und Juwelen, wo ich sie habhaft werden konnte. Wie der geübteste Kenner unterschied ich aus Instinkt unechtes Geschmeide von echtem. Nur dieses lockte mich, unechtes sowie geprägtes Gold ließ ich unbeachtet liegen. Den grausamsten Züchtigungen des Vaters mußte die angeborne Begierde weichen. Um nur mit Gold und edlen Steinen hantieren zu können, wandte ich mich zur Goldschmiedsprofession. Ich arbeitete mit Leidenschaft und wurde bald der erste Meister dieser Art. Nun begann eine Periode, in der der angeborne Trieb, solange niedergedrückt, mit Gewalt empordrang und mit Macht wuchs, alles um sich her wegzehrend. Sowie ich ein Geschmeide gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit - Lebensmut raubte. —Wie ein Gespenst stand Tag und Nacht die Person, für die ich gearbeitet, mir vor Augen, geschmückt mit meinem Geschmeide, und eine Stimme raunte mir in die Ohren: ,Es ist ja dein - es ist ja dein - nimm es doch - was sollen die Diamanten dem Toten!' — Da legt ich mich endlich auf Diebeskünste. Ich hatte Zutritt in den Häusern der Großen, ich nützte schnell jede Gelegenheit, kein Schloß widerstand meinem Geschick, und bald war der Schmuck, den ich gearbeitet, wieder in meinen Händen. — Aber nun vertrieb selbst das nicht meine Unruhe. Jene unheimliche Stimme ließ sich dennoch vernehmen und höhnte mich und rief: ,Ho, ho, dein Geschmeide trägt ein Toter!' ~Sclb.twußte ich nicht, wie es kam, daß ich einen unaussprechlichen Haß auf die warf, denen ich Schmuck gefertigt. Ja! im tiefsten Innern regte sich eine Mordlust gegen sie, vor der ich selbst erbebte. — In dieser Zeit kaufte ich dieses Haus. Ich war mit dem Besitzer handelseinig geworden, hier in diesem Gemach saßen wir, erfreut über das geschlossene Geschäft, beisammen und tranken eine Flasche Wein. Es war Nacht worden, ich wollte aufbrechen, da sprach mein Verkäufer: ,Hört, Meister René, ehe Ihr fortgeht, muß ich Euch mit einem Geheimnis dieses Hauses bekannt machen.' Darauf schloß er jenen in die Mauer eingeführten Schrank auf, schob die Hinterwand fort, trat in ein kleines Gemach, bückte sich nieder, hob eine Falltür auf. Eine steile, schmale Treppe stiegen wir hinab, kamen an ein schmales Pförtchen, das er aufschloß, traten hinaus in den freien Hof. Nun schritt der alte Herr, mein Verkäufer, hinan an die Mauer, schob an einem nur wenig hervorragenden Eisen, und alsbald drehte sich ein Stück Mauer los, so daß ein Mensch bequem durch die Öffnung schlüpfen und auf die Straße gelangen konnte. Du magst einmal das Kunststück sehen, Olivier, das wahrscheinlich schlaue Mönche des Klosters, welches ehemals hier lag, fertigen ließen, um heimlich aus- und einschlüpfen zu können. Es ist ein Stück Holz, nur von außen gemörtelt und getüncht, in das von außen her eine Bildsäule, auch nur von Holz, doch ganz wie Stein, eingefügt ist, welches sich mitsamt der Bildsäule auf verborgenen Angeln dreht. — Dunkle Gedanken stiegen in mir auf, als ich diese Einrichtung sah, es war mir, als sei vorgearbeitet solchen Taten, die mir selbst noch Geheimnis blieben. Eben hatt ich einem Herrn vom Hofe einen reichen Schmuck abgeliefert, der, ich weiß es, einer Operntänzerin bestimmt war. Die Todesfolter blieb nicht aus - das Gespenst hing sich an meine Schritte - der lispelnde Satan an mein Ohr! — Ich zog ein in das Haus. In blutigem Angstschweiß gebadet, wälzte ich mich schlaflos auf dem Lager! Ich seh im Geiste den Menschen zu der Tänzerin schleichen mit meinem Schmuck. Voller Wut springe ich auf - werfe den Mantel um - steige herab die geheime Treppe - fort durch die Mauer nach der Straße Nicaise. — Er kommt, ich falle über ihn her, er schreit auf, doch, von hinten festgepackt, stoße ich ihm den Dolch ins Herz - der Schmuck ist mein! — Dies getan, fühlte ich eine Ruhe, eine Zufriedenheit in meiner Seele wie sonst niemals. Das Gespenst war verschwunden, die Stimme des Satans schwieg. Nun wußte ich, was mein böser Stern wollte, ich mußt ihm nachgeben oder untergehen! — Du begreifst jetzt mein ganzes Tun und Treiben, Olivier! — Glaube nicht, daß ich darum, weil ich tun muß, was ich nicht lassen kann, jenem Gefühl des Mitleids, des Erbarmens, was in der Natur des Menschen bedingt sein soll, rein entsagt habe. Du weißt, wie schwer es mir wird, einen Schmuck abzuliefern, wie ich für manche, deren Tod ich nicht will, gar nicht arbeite, ja wie ich sogar, weiß ich, daß am morgenden Tage Blut mein Gespenst verbannen wird, heute es bei einem tüchtigen Faustschlage bewenden lasse, der den Besitzer meines Kleinods zu Boden streckt und mir dieses in die Hand liefert.' — Dies alles gesprochen, führte mich Cardillac in das geheime Gewölbe und gönnte mir den Anblick seines Juwelenkabinetts. Der König besitzt es nicht reicher. Bei jedem Schmuck war auf einem kleinen darangehängten Zettel genau bemerkt, für wen es gearbeitet, wann es durch Diebstahl, Raub oder Mord genommen worden. ,An deinem Hochzeitstage', sprach Cardillac dumpf und feierlich, ,an deinem Hochzeitstage, Olivier, wirst du mir, die Hand gelegt auf des gekreuzigten Christus Bild, einen heiligen Eid schwören, sowie ich gestorben, alle diese Reichtümer in Staub zu vernichten durch Mittel, die ich dir dann bekanntmachen werde. Ich will nicht, daß irgendein menschlich Wesen, und am wenigsten Madelon und du, in den Besitz des mit Blut erkauften Horts komme.' Gefangen in diesem Labyrinth des Verbrechens, zerrissen von Liebe und Abscheu, von Wonne und Entsetzen, war ich dem Verdammten zu vergleichen, dem ein holder Engel mild lächelnd hinaufwinkt, aber mit glühenden Krallen festgepackt, hält ihn der Satan, und des frommen Engels Liebeslächeln, in dem sich alle Seligkeit des hohen Himmels abspiegelt, wird ihm zur grimmigsten seiner Qualen. — Ich dachte an Flucht - ja an Selbstmord - aber Madelon! — Tadelt mich, tadelt mich, mein würdiges Fräulein, daß ich zu schwach war, mit Gewalt eine Leidenschaft niederzukämpfen, die mich an das Verbrechen fesselte; aber büße ich nicht dafür mit schmachvollem Tode? — Eines Tages kam Cardillac nach Hause, ungewöhnlich heiter. Er liebkoste Madelon, warf mir die freundlichsten Blicke zu, trank bei Tische eine Flasche edlen Weins, wie er es nur an hohen Fest- und Feiertagen zu tun pflegte, sang und jubilierte. Madelon hatte uns verlassen, ich wollte in die Werkstatt. ,Bleib sitzen, Junge', rief Cardillac, ,heut keine Arbeit mehr, laß uns noch eins trinken auf das Wohl der allerwürdigsten, vortreiflichsten Dame in Paris.' Nachdem ich mit ihm angestoßen und er ein volles Glas geleert hatte, sprach er: ,Sag an, Olivier! wie gefallen dir die Verse:
 Un  amant, qui craint les voleurs,
n'est point digne d'amour!'

Er erzählte nun, was sich in den Gemächern der Maintenon mit Euch und dem Könige begeben, und fügte hinzu, daß er Euch von jeher verehrt habe, wie sonst kein menschliches Wesen, und daß Ihr, mit solch hoher Tugend begabt, vor der der böse Stern kraftlos erbleiche, selbst den schönsten von ihm gefertigten Schmuck tragend, niemals ein böses Gespenst, Mordgedanken in ihm erregen würdet. ,Höre, Olivier', sprach er, ,wozu ich entschlossen. Vor langer Zeit sollt ich Halsschmuck und Armbänder fertigen für Henriette von England und selbst die Steine dazu liefern. Die Arbeit gelang mir wie keine andere, aber es zerriß mir die Brust, wenn ich daran dachte, mich von dem Schmuck, der mein Herzenskleinod geworden, trennen zu müssen. Du weißt der Prinzessin unglücklichen Tod durch Meuchelmord. Ich behielt den Schmuck und will ihn nun als ein Zeichen meiner

Ehrfurcht, meiner Dankbarkeit dem Fräulein von Scudéri senden im Namen der verfolgten Bande. — Außer dem, daß die Scudéri das sprechende Zeichen ihres Triumphs erhält, verhöhne ich auch Desgrais und seine Gesellen, wie sie es verdienen. — Du sollst ihr den Schmuck hintragen.' Sowie Cardillac Euern Namen nannte, Fräulein, war es, als würden schwarze Schleier weggezogen und das schöne, lichte Bild meiner glücklichen frühen Kinderzeit ginge wieder auf in bunten, glänzenden Farben. Es kam ein wunderbarer Trost in meine Seele, ein Hoffnungsstrahl, vor dem die finstern Geister schwanden. Cardillac mochte den Eindruck, den seine Worte auf mich gemacht, wahrnehmen und nach seiner Art deuten. ,Dir scheint', sprach er, ,mein Vorhaben zu behagen. Gestehen kann ich wohl, daß eine tief innere Stimme, sehr verschieden von der, welche Blutopfer verlangt wie ein gefräßiges Raubtier, mir befohlen hat, daß ich solches tue. — Manchmal wird mir wunderlich im Gemüte - eine innere Angst, die Furcht vor irgend etwas Entsetzlichem, dessen Schauer aus einem fernen Jenseits herüberwehen in die Zeit, ergreift mich gewaltsam. Es ist mir dann sogar, als ob das, was der böse Stern begonnen durch mich, meiner unsterblichen Seele, die daran keinen Teil hat, zugerechnet werden könne. In solcher Stimmung beschloß ich, für die Heilige Jungfrau in der Kirche St. Eustache eine schöne Diamantenkrone zu fertigen. Aber jene unbegreifliche Angst überfiel mich stärker, sooft ich die Arbeit beginnen wollte, da unterließ ich's ganz. Jetzt ist es mir, als wenn ich der Tugend und Frömmigkeit selbst demutsvoll ein Opfer bringe und wirksame Fürsprache erflehe, indem ich der Scudéri den schönsten Schmuck sende, den ich jemals gearbeitet.' — Cardillac, mit Eurer ganzen Lebensweise, mein Fräulein, auf das genaueste bekannt, gab mir nun Art und Weise sowie die Stunde an, wie und wann ich den Schmuck, den er in ein sauberes Kästchen schloß, abliefern solle. Mein ganzes Wesen war Entzücken, denn der Himmel selbst zeigte mir durch den freveligen Cardillac den Weg, mich zu retten aus der Hölle, in der ich, ein verstoßener Sünder, schmachte. So dacht ich. Ganz gegen Cardillacs Willen wollt ich bis zu Euch dringen. Als Anne Brussons Sohn, als Euer Pflegling gedacht ich mich Euch zu Füßen zu werfen und Euch alles - alles zu entdecken. Ihr hättet, gerührt von dem namenlosen Elend, das der armen, unschuldigen Madelon drohte bei der Entdeckung, das Geheimnis beachtet, aber Euer hoher, scharfsinniger Geist fand gewiß sichre Mittel, ohne jene Entdeckung der verruchten Bosheit Cardillacs zu steuern. Fragt mich nicht, worin diese Mittel hätten bestehen sollen, ich weiß es nicht - aber daß Ihr Madelon und mich retten würdet, davon lag die Überzeugung fest in meiner Seele, wie der Glaube an die trostreiche Hülfe der Heiligen Jungfrau. — Ihr wißt, Fräulein, daß meine Absicht in jener Nacht fehlschlug. Ich verlor nicht die Hoffnung, ein andermal glücklicher zu sein. Da geschah es, daß Cardillac plötzlich alle Munterkeit verlor. Er schlich trübe umher, starrte vor sich hin, murmelte unverständliche Worte, focht mit den Händen, Feindliches von sich abwehrend, sein Geist schien gequält von bösen Gedanken. So hatte er es einen ganzen Morgen getrieben. Endlich setzte er sich anden Werktisch, sprang unmutig wieder auf, schaute durchs Fenster, sprach ernst und düster: ,Ich wollte doch, Henriette von England hätte meinen Schmuck getragen!' — Die Worte erfüllten mich mit Entsetzen. Nun wußt ich, daß sein irrer Geist wieder erfaßt war von dem abscheulichen Mordgespenst, daß des Satans Stimme wieder laut worden vor seinen Ohren. Ich sah Euer Leben bedroht von dem verruchten Mordteufel. Hatte Cardillac nur seinen Schmuck wieder in den Händen, so wart Ihr gerettet. Mit jedem Augenblick wuchs die Gefahr. Da begegnete ich Euch auf dem Pontneuf, drängte mich an Eure Kutsche, warf Euch jenen Zettel zu, der Euch beschwor, doch nur gleich den erhaltenen Schmuck in Cardillacs Hände zu bringen. Ihr kamt nicht. Meine Angst stieg bis zur Verzweiflung, als andern Tages Cardillac von nichts anderm sprach als von dem köstlichen Schmuck, der ihm in der Nacht vor Augen gekommen. Ich konnte das nur auf Euern Schmuck deuten, und es wurde mir gewiß, daß er über irgendeinen Mordanschlag brüte, den er gewiß schon in der Nacht auszuführen sich vorgenommen. Euch retten mußt ich, und sollt es Cardillacs Leben kosten. Sowie Cardillac nach dem Abendgebet sich, wie gewöhnlich, eingeschlossen, stieg ich durch ein Fenster in den Hof, schlüpfte durch die Öffnung in der Mauer und stellte mich unfern in den tiefen Schatten. Nicht lange dauerte es, so kam Cardillac heraus und schlich leise durch die Straße fort. Ich hinter ihm her. Er ging nach der Straße St. Honoré, mir bebte das Herz. Cardillac war mit einemmal mir entschwunden. Ich beschloß, mich an Eure Haustüre zu stellen. Da kommt singend und trillernd, wie damals, als der Zufall mich zum Zuschauer von Cardillacs Mordtat machte, ein Offizier bei mir vorüber, ohne mich zu gewahren. Aber in demselben Augenblick springt eine schwarze Gestalt hervor und fällt über ihn her. Es ist Cardillac. Diesen Mord will ich hindern, mit einem lauten Schrei bin ich in zwei - drei Sätzen zur Stelle. — Nicht der Offizier - Cardillac sinkt, zum Tode getroffen, röchelnd zu Boden. Der Offizier läßt den Dolch fallen, reißt den Degen aus der Scheide, stellt sich, wähnend, ich sei des Mörders Geselle, kampffertig mir entgegen, eilt aber schnell davon, als er gewahrt, daß ich, ohne mich um ihn zu kümmern, nur den Leichnam untersuche. Cardillac lebte noch. Ich lud ihn, nachdem ich den Dolch, den der Offizier hatte fallen lassen, zu mir gesteckt, auf die Schultern und schleppte ihn mühsam fort nach Hause und durch den geheimen Gang hinauf in die Werkstatt. — Das übrige ist Euch bekannt. Ihr seht, mein würdiges Fräulein, daß mein einziges Verbrechen nur darin besteht, daß ich Madelons Vater nicht den Gerichten verriet und so seinen Untaten ein Ende machte. Rein bin ich von jeder Blutschuld. — Keine Marter wird mir das Geheimnis von Cardillacs Untaten abzwingen. Ich will nicht, daß, der ewigen Macht, die der tugendhaften Tochter des Vaters gräßliche Blutschuld verschleierte, zum Trotz, das ganze Elend der Vergangenheit, ihres ganzen Seins noch jetzt tötend auf sie einbreche, daß noch jetzt die weltliche Rache den Leichnam aufwühle aus der Erde, die ihn deckt, daß noch jetzt der Henker die vermoderten Gebeine mit Schande brandmarke. — Nein! — mich wird die Geliebte meiner Seele beweinen als den unschuldig Gefallenen, die Zeit wird ihren Schmerz lindern, aber unüberwindlich würde der Jammer sein über des geliebten Vaters entsetzliche Taten der Hölle!"

Olivier schwieg, aber nun stürzte plötzlich ein Tränenstrom aus seinen Augen, er warf sich der Scudéri zu Füßen und flehte: "Ihr seid von meiner Unschuld überzeugt - gewiß, Ihr seid es! — Habt Erbarmen mit mir, sagt, wie steht es um Madelon?" — Die Scudéri rief der Martiniere, und nach wenigen Augenblicken flog Madelon an Oliviers Hals. "Nun ist alles gut, da du hier bist -ich wußt es ja, daß die edelmütigste Dame dich retten würde!"So rief Madelon einmal über das andere, und Olivier vergaß sein Schicksal, alles, was ihm drohte, er war frei und selig. Auf das rührendste klagten beide sich, was sie umeinander gelitten, und umarmten sich dann aufs neue und weinten vor Entzücken, daß sie sich wiedergefunden.

Wäre die Scudéri nicht von Oliviers Unschuld schon überzeugt gewesen, der Glaube daran müßte ihr jetzt gekommen sein, da sie die beiden betrachtete, die in der Seligkeit des innigsten Liebesbündnisses die Welt vergaßen und ihr Elend und ihr namenloses Leiden. "Nein", rief sie, "solch seliger Vergessenheit ist nur ein reines Herz fähig."

Die hellen Strahlen des Morgens brachen durch die Fenster. Desgrais klopfte leise an die Türe des Gemachs und erinnerte, daß es Zeit sei, Olivier Brusson fortzuschaffen, da, ohne Aufsehen zu erregen, das später nicht geschehen könne. Die Liebenden mußten sich trennen.

Die dunklen Ahnungen, von denen der Scudéri Gemüt befangen seit Brussons erstem Eintritt in ihr Haus, hatten sich nun zum Leben gestaltet auf furchtbare Weise. Den

Sohn ihrer geliebten Anne sah sie schuldlos verstrickt auf eine Art, daß ihn vom schmachvollen Tod zu retten kaum denkbar schien. Sie ehrte des Jünglings Heldensinn, der lieber schuldbeladen sterben als ein Geheimnis verraten wollte, das seiner Madelon den Tod bringen mußte. Im ganzen Reiche der Möglichkeit fand sie kein Mittel, den Ärmsten dem grausamen Gerichtshofe zu entreißen. Und doch stand es fest in ihrer Seele, daß sie kein Opfer scheuen müsse, das himmelschreiende Unrecht abzuwenden, das man zu begehen im Begriffe war. — Sie quälte sich ab mit allerlei Entwürfen und Plänen, die bis an das Abenteuerliche streiften und die sie ebenso schnell verwarf als auffaßte. Immer mehr verschwand jeder Hoffnungsschimmer, so daß sie verzweifeln wollte. Aber Madelons unbedingtes, frommes kindliches Vertrauen, die Verklärung, mit der sie von dem Geliebten sprach, der nun bald, freigesprochen von jeder Schuld, sie als Gattin umarmen werde, richtete die Scudéri in ebendem Grad wieder auf, als sie davon bis tief ins Herz gerührt wurde.

Um nun endlich etwas zu tun, schrieb die Scudéri an la Regnie einen langen Brief, worin sie ihm sagte, daß Olivier Brusson ihr auf die glaubwürdigste Weise seine völlige Unschuld an Cardillacs Tode dargetan habe und daß nur der heldenmütige Entschluß, ein Geheimnis in das Grab zu nehmen, dessen Enthüllung die Unschuld und Tugend selbst verderben würde, ihn zurückhalte, dem Gericht ein Geständnis abzulegen, das ihn von dem entsetzlichen Verdacht, nicht allein, daß er Cardillac ermordet, sondern daß er auch zur Bande verruchter Mörder gehöre, befreien müsse. Alles, was glühender Eifer, was geistvolle Beredsamkeit vermag, hatte die Scudéri aufgeboten, la Regnies hartes Herz zu erweichen. Nach wenigen Stunden antwortete la Regnie, wie es ihn herzlich freue, wenn Olivier Brusson sich bei seiner hohen, würdigen Gönnerin gänzlich gerechtfertigt habe. Was Oliviers heldenmütigen Entschluß betreffe, ein Geheimnis, das sich auf die Tat beziehe, mit ins Grab nehmen

zu wollen, so tue es ihm leid, daß die Chambre ardente dergleichen Heldenmut nicht ehren könne, denselben vielmehr durch die kräftigsten Mittel zu brechen suchen müsse. Nach drei Tagen hoffe er in dem Besitz des seltsamen Geheimnisses zu sein, das wahrscheinlich geschehene Wunder an den Tag bringen werde.

Nur zu gut wußte die Scudéri, was der fürchterliche la Regnie mit jenen Mitteln, die Brussons Heldenmut brechen sollen, meinte. Nun war es gewiß, daß die Tortur über den Unglücklichen verhängt war. In der Todesangst fiel der Scudéri endlich ein, daß, um nur Aufschub zu erlangen, der Rat eines Rechtsverständigen dienlich sein könne. Pierre Arnaud d'Andilly war damals der berühmteste Advokat in Paris. Seiner tiefen Wissenschaft, seinem umfassenden Verstande war seine Rechtschaffenheit, seine Tugend gleich. Zu dem begab sich die Scudéri und sagte ihm alles, soweit es möglich war, ohne Brussons Geheimnis zu verletzen. Sie glaubte, daß d'Andilly mit Eifer sich des Unschuldigen annehmen werde, ihre Hoffnung wurde aber auf das bitterste getäuscht. D'Andilly hatte ruhig alles angehört und erwiderte dann lächelnd mit Boileaus Worten: "Le vrai peut quelquefois n'etre pas vraisemblable." — Er bewies der Scudéri, daß die auffallendsten Verdachtsgründe wider Brusson sprächen, daß la Regnies Verfahren keineswegs grausam und übereilt zu nennen, vielmehr ganz gesetzlich sei, ja daß er nicht anders handeln könne, ohne die Pflichten des Richters zu verletzen. Er, d'Andilly, selbst getraue sich nicht durch die geschickteste Verteidigung Brusson von der Tortur zu retten. Nur Brusson selbst könne das entweder durch aufrichtiges Geständnis oder wenigstens durch die genaueste Erzählung der Umstände bei dem Morde Cardillacs, die dann vielleicht erst zu neuen Ausmittelungen Anlaß geben würden. "So werfe ich mich dem Könige zu Füßen und flehe um Gnade", sprach die Scudéri, ganz außer sich mit von Tränen halb erstickter Stimme. "Tut das", rief d'Andilly, "tut das um des Himmels willen nicht, mein Fräulein!

—Spart Euch dieses letzte Hülfsmittel auf, das, schlug es einmal fehl, Euch für immer verloren ist. Der König wird nimmer einen Verbrecher der Art begnadigen, der bitterste Vorwurf des gefährdeten Volks würde ihn treffen. Möglich ist es, daß Brusson durch Entdeckung seines Geheimnisses oder sonst Mittel findet, den wider ihn streitenden Verdacht aufzuheben. Dann ist es Zeit, des Königs Gnade zu erflehen, der nicht darnach fragen, was vor Gericht bewiesen ist oder nicht, sondern seine innere Überzeugung zu Rate ziehen wird." — Die Scudéri mußte dem tief erfahrnen d'Andilly notgedrungen beipflichten. — In tiefen Kummer versenkt, sinnend und sinnend, was um der Jungfrau und aller Heiligen willen sie nun anfangen solle, um den unglücklichen Brusson zu retten, saß sie am späten Abend in ihrem Gemach, als die Martiniere eintrat und den Grafen von Miossens, Obristen von der Garde des Königs, meldete, der dringend wünsche, das Fräulein zu sprechen.

"Verzeiht", sprach Miossens, indem er sich mit soldatischem Anstande verbeugte, "verzeiht, mein Fräulein, wenn ich Euch so spät, so zu ungelegener Zeit überlaufe. Wir Soldaten machen es nicht anders, und zudem bin ich mit zwei Worten entschuldigt. — Olivier Brusson führt mich zu Euch." Die Scudéri, hoch gespannt, was sie jetzt wieder erfahren werde, rief laut: "Olivier Brusson? der unglücklichste aller Menschen? — was habt Ihr mit dem?" — "Dacht ich's doch", sprach Miossens lächelnd weiter, "daß Eures Schützlings Namen hinreichen würde, mir bei Euch ein geneigtes Ohr zu verschaffen. Die ganze Welt ist von Brussons Schuld überzeugt. Ich weiß, daß Ihr eine andere Meinung hegt, die sich freilich nur auf die Beteurungen des Angeklagten stützen soll, wie man gesagt hat. Mit mir ist es anders. Niemand als ich kann besser überzeugt sein von Brussons Unschuld an dem Tode Cardillacs." — "Redet, o redet", rief die Scudéri, indem ihr die Augen glänzten vor Entzücken. "Ich", sprach Miossens mit Nachdruck, "ich war es selbst, der den alten Goldschmied niederstieß in der Straße

St. Honoré unfern Eurem Hause." "Um aller Heiligen willen, Ihr - Ihr!" rief die Scudéri. "Und", fuhr Miossens fort, "und ich schwöre es Euch, mein Fräulein, daß ich stolz bin auf meine Tat. Wisset, daß Cardillac der verruchteste, heuchlerischte Bösewicht, daß er es war, der in der Nacht heimtückisch mordete und raubte und so lange allen Schlingen entging. Ich weiß selbst nicht, wie es kam, daß ein innerer Verdacht sich in mir gegen den alten Bösewicht regte, als er voll sichtlicher Unruhe den Schmuck brachte, den ich bestellt, als er sich genau erkundigte, für wen ich den Schmuck bestimmt, und als er auf recht listige Art meinen Kammerdiener ausgefragt hatte, wenn ich eine gewisse Dame zu besuchen pflege. — Längst war es mir aufgefallen, daß die unglücklichen Schlachtopfer der abscheulichsten Raubgier alle dieselbe Todeswunde trugen. Es war mir gewiß, daß der Mörder auf den Stoß, der augenblicklich töten mußte, eingeübt war und darauf rechnete. Schlug der fehl, so galt es den gleichen Kampf. Dies ließ mich eine Vorsichtsmaßregel brauchen, die so einfach ist, daß ich nicht begreife, wie andere nicht längst darauf fielen und sich retteten von dem bedrohlichen Mordwesen. Ich trug einen leichten Brustharnisch unter der Weste. Cardillac fiel mich von hinten an. Er umfaßte mich mit Riesenkraft, aber der sicher geführte Stoß glitt ab an dem Eisen. In demselben Augenblick entwand ich mich ihm und stieß ihm den Dolch, den ich in Bereitschaft hatte, in die Brust." — "Und Ihr schwiegt", fragte die Scudéri, "Ihr zeigtet den Gerichten nicht an, was geschehen?"-"Erlaubt", sprach Miossens weiter, "erlaubt, mein Fräulein, zu bemerken, daß eine solche Anzeige mich, wo nicht geradezu ins Verderben, doch in den abscheulichsten Prozeß verwickeln konnte. Hätte la Regnie, überall Verbrechen witternd, mir's denn geradehin geglaubt, wenn ich den rechtschaffenen Cardillac, das Muster aller Frömmigkeit und Tugend, des versuchten Mordes angeklagt? Wie, wenn das Schwert der Gerechtigkeit seine Spitze wider mich selbst gewandt?" — "Das war nicht möglich", rief die Scudéri, "Eure Geburt -Euer Stand -" —"Oh", fuhr Miossens fort, "denkt doch an den Marschall von Luxemburg, den der Einfall, sich von le Sage das Horoskop stellen zu lassen, in den Verdacht des Giftmordes und in die Bastille brachte. Nein, beim St. Dionys, nicht eine Stunde Freiheit, nicht meinen Ohrzipfel geb ich preis dem rasenden la Regnie, der sein Messer gern an unserer aller Kehlen setzte." — "Aber so bringt Ihr ja den unschuldigen Brusson aufs Schafott?" fiel ihm die Scudéri ins Wort. "Unschuldig", erwiderte Miossens, "unschuldig, mein Fräulein, nennt Ihr des verruchten Cardillacs Spießgesellen? — der ihm beistand in seinen Taten? der den Tod hundertmal verdient hat? — Nein, in der Tat, der blutet mit Recht, und daß ich Euch, mein hochverehrtes Fräulein, den wahren Zusammenhang der Sache entdeckte, geschah in der Voraussetzung, daß Ihr, ohne mich in die Hände der Chambre ardente zu liefern, doch mein Geheimnis auf irgendeine Weise für Euren Schützling zu nützen verstehen würdet."

Die Scudéri, im Innersten entzückt, ihre Überzeugung von Brussons Unschuld auf solch entscheidende Weise bestätigt zu sehen, nahm gar keinen Anstand, dem Grafen, der Cardillacs Verbrechen ja schon kannte, alles zu entdecken und ihn aufzufordern, sich mit ihr zu d'Andilly zu begeben. Dem sollte unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles entdeckt werden, der solle dann Rat erteilen, was nun zu beginnen.

D'Andilly, nachdem die Scudéri ihm alles auf das genaueste erzählt hatte, erkundigte sich nochmals nach den geringfügigsten Umständen. Insbesondere fragte er den Grafen Miossens, ob er auch die feste Überzeugung habe, daß er von Cardillac angefallen, und ob er Olivier Brusson als denjenigen würde wiedererkennen können, der den Leichnam fortgetragen. "Außer dem", erwiderte Miossens, "daß ich in der mondhellen Nacht den Goldschmied recht guter. habe ich auch bei la Regnie selbst den Dolch gesehen, mit dem Cardillac niedergestoßen wurde. Es ist der

meinige, ausgezeichnet durch die zierliche Arbeit des Griffs. Nur einen Schritt von ihm stehend, gewahrte ich alle Züge des Jünglings, dem der Hut vom Kopf gefallen, und würde ihn allerdings wiedererkennen können."

D'Andilly sah schweigend einige Augenblicke vor sich nieder, dann sprach er: "Auf gewöhnlichem Wege ist Brusson aus den Händen der Justiz nun ganz und gar nicht zu retten. Er will Madelons halber Cardillac nicht als Mordräuber nennen. Das mag er tun, denn selbst wenn es ihm gelingen müßte, durch Entdeckung des heimlichen Ausgangs, des zusammengeraubten Schatzes dies nachzuweisen, würde ihn doch als Mitverbundenen der Tod treffen. Dasselbe Verhältnis bleibt stehen, wenn der Graf Miossens die Begebenheit mit dem Goldschmied, wie sie wirklich sich zutrug, den Richtern entdecken sollte. Aufschub ist das einzige, wornach getrachtet werden muß. Graf Miossens begibt sich nach der Conciergerie, läßt sich Olivier Brusson vorstellen und erkennt ihn für den, der den Leichnam Cardillacs fortschaffte. Er eilt zu la Regnie und sagt: ,In der Straße St. Honoré sah ich einen Menschen niederstoßen, ich stand dicht neben dem Leichnam, als ein anderer hinzusprang, sich zum Leichnam niederbückte, ihn, da er noch Leben spürte, auf die Schultern lud und forttrug. In Olivier Brusson habe ich diesen Menschen erkannt.' Diese Aussage veranlaßt Brussons nochmalige Vernehmung, Zusammenstellung mit dem Grafen Miossens. Genug, die Tortur unterbleibt, und man forscht weiter nach. Dann ist es Zeit, sich an den König selbst zu wenden. Euerm Scharfsinn, mein Fräulein, bleibt es überlassen, dies auf die geschickteste Weise zu tun. Nach meinem Dafürhalten würd es gut sein, dem Könige das ganze Geheimnis zu entdecken. Durch diese Aussage des Grafen Miossens werden Brussons Geständnisse unterstützt. Dasselbe geschieht vielleicht durch geheime Nachforschungen in Cardillacs Hause. Keinen Rechtsspruch, aber des Königs Entscheidung, auf inneres Gefühl, das da, wo der Richter strafen muß, Gnade ausspricht, gestützt, kann das alles begründen."

—Graf Miossens befolgte genau, was d'Andilly geraten, und es geschah wirklich, was dieser vorhergesehen.

Nun kam es darauf an, den König anzugehen, und dies war der schwierigste Punkt, da er gegen Brusson, den er allein für den entsetzlichen Raubmörder hielt, welcher so lange Zeit hindurch ganz Paris in Angst und Schrecken gesetzt hatte, solchen Abscheu hegte, daß er, nur leise erinnert an den berüchtigten Prozeß, in den heftigsten Zorn geriet. Die Maintenon, ihrem Grundsatz, dem Könige nie von unangenehmen Dingen zu reden, getreu, verwarf jede Vermittlung, und so war Brussons Schicksal ganz in die Hand der Scudéri gelegt. Nach langem Sinnen faßte sie einen Entschluß ebenso schnell, als sie ihn ausführte. Sie kleidete sich in eine schwarze Robe von schwerem Seidenzeug, schmückte sich mit Cardillacs köstlichem Geschmeide, hing einen langen, schwarzen Schleier über und erschien so in den Gemächern der Maintenon zur Stunde, da eben der König zugegen. Die edle Gestalt des ehrwürdigen Fräuleins in diesem feierlichen Anzuge hatte eine Majestät, die tiefe Ehrfurcht erwecken mußte selbst bei dem losen Volk, das gewohnt ist, in den Vorzimmern sein leichtsinnig, nichts beachtendes Wesen zu treiben. Alles wich scheu zur Seite, und als sie nun eintrat, stand selbst der König ganz verwundert auf und kam ihr entgegen. Da blitzten ihm die köstlichen Diamanten des Halsbands, der Armbänder ins Auge, und er rief: "Beim Himmel, das ist Cardillacs Geschmeide!" Und dann, sich zur Maintenon wendend, fügte er mit anmutigem Lächeln hinzu: "Seht, Frau Marquise, wie unsere schöne Braut um ihren Bräutigam trauert." — "Ei, gnädiger Herr", fiel die Scudéri, wie den Scherz fortsetzend, ein, "wie würd es ziemen einer schmerzerfüllten Braut, sich so glanzvoll zu schmücken? Nein, ich habe mich ganz losgesagt von diesem Goldschmied und dächte nicht mehr an ihn, träte mir nicht manchmal das abscheuliche Bild, wie er, ermordet, dicht bei mir vorübergetragen wurde, vor Augen." — "Wie", fragte der König, "wie! Ihr habt ihn gesehen, den armen Teufel?"

Die Scudéri erzählte nun mit kurzen Worten, wie sie der Zufall (noch erwähnte sie nicht der Einmischung Brussons) vor Cardillacs Haus gebracht, als eben der Mord entdeckt worden. Sie schilderte Madelons wilden Schmerz, den tiefen Eindruck, den das Himmelskind auf sie gemacht, die Art, wie sie die Arme unter Zujauchzen des Volks aus Desgrais' Händen gerettet. Mit immer steigendem und steigendem Interesse begannen nun die Szenen mit la Regnie - mit Desgrais - mit Olivier Brusson selbst. Der König, hingerissen von der Gewalt des lebendigsten Lebens, das in der Scudéri Rede glühte, gewahrte nicht, daß von dem gehässigen Prozeß des ihm abscheulichen Brussons die Rede war, vermochte nicht ein Wort hervorzubringen, konnte nur dann und wann mit einem Ausruf Luft machen der innern Bewegung. Ehe er sich's versah, ganz außer sich über das Unerhörte, was er erfahren, und noch nicht vermögend, alles zu ordnen, lag die Scudéri schon zu seinen Füßen und fichte um Gnade für Olivier Brusson. "Was tut Ihr", brach der König los, indem er sie bei beiden Händen faßte und in den Sessel nötigte, "was tut Ihr, mein Fräulein! — Ihr überrascht mich auf seltsame Weise! — Das ist ja eine entsetzliche Geschichte! — Wer bürgt für die Wahrheit der abenteuerlichen Erzählung Brussons?" Darauf die Scudéri: "Miossens' Aussage — die Untersuchung in Cardillacs Hause — innere Überzeugung - ach! Madelons tugendhaftes Herz, das gleiche Tugend in dem unglücklichen Brusson erkannte!" — Der König, im Begriff, etwas zu erwidern, wandte sich auf ein Geräusch um, das an der Türe entstand. Louvois, der eben im andern Gemach arbeitete, sah hinein mit besorglicher Miene. Der König stand auf und verließ, Louvois folgend, das Zimmer. Beide, die Scudéri, die Maintenon, hielten diese Unterbrechung für gefährlich, denn einmal überrascht, mochte der König sich hüten, in die gestellte Falle zum zweitenmal zu gehen. Doch nach einigen Minuten trat der König wieder hinein, schritt rasch ein paarmal im Zimmer auf und ab, stellte sich dann, die Hände über den Rücken geschlagen, dicht vor der Scudéri hin und sprach, ohne sie anzublicken, halb leise: "Wohl möcht ich Eure Madelon sehen!" — Darauf die Scudéri: "0 mein gnädiger Herr, welches hohen - hohen Glücks würdigt Ihr das arme, unglückliche Kind —ach, nur Eures Winks bedurft es ja, die Kleine zu Euren Füßen zu sehen." Und trippelte dann, michael sie es in den schweren Kleidern vermochte, nach der Tür und rief hinaus, der König wolle Madelon Cardillac vor sich lassen, und kam zurück und weinte und schluchzte vor Entzücken und Rührung. Die Scudéri hatte solche Gunst geahnet und daher Madelon mitgenommen, die bei der Marquise Kammerfrau wartete mit einer kurzen Bittschrift in den Händen, die ihr d'Andilly aufgesetzt. In wenig Augenblicken lag sie sprachlos dem Könige zu Füßen. Angst - Bestürzung - scheue Ehrfurcht - Liebe und Schmerz - trieben der Armen rascher und rascher das siedende Blut durch die Adern. Ihre Wangen glühten in hohem Purpur - die Augen glänzten von hellen Tränenperlen, die dann und wann hinabfielen durch die seidenen Wimpern auf den schönen Lilienbusen. Der König schien betroffen über die wunderbare Schönheit des Engelskinds. Er hob das Mädchen sanft auf, dann machte er eine Bewegung, als wolle er ihre Hand, die er gefaßt, küssen. Er ließ sie wieder und schaute das holde Kind an mit tränenfeuchtem Blick, der von der tiefsten innern Rührung zeugte. Leise lispelte die Maintenon der Scudéri zu: "Sieht sie nicht der la Vallière ähnlich auf ein Haar, das kleine Ding? — Der König schweigt in den süßesten Erinnerungen. Euer Spiel ist gewonnen." — So leise dies auch die Maintenon sprach, doch schien es der König vernommen zu haben. Eine Röte überflog sein Gesicht, sein Blick streifte bei der Maintenon vorüber, er las die Supplik, die Madelon ihm überreicht, und sprach dann mild und gütig: "Ich will's wohl glauben, daß du, mein liebes Kind, von deines Geliebten Unschuld überzeugt bist, aber hören wir, was die Chambre ardente dazu sagt!" — Eine sanfte Bewegung mit der Hand verabschiedete die Kleine, die in Tränen verschwimmen wollte. — Die Scudéri gewahrte zu ihrem Schreck, daß die Erinnerung an die Vallière, so ersprießlich sie anfangs geschienen, des Königs Sinn geändert hatte, sowie die Maintenon den Namen genannt. Mocht es sein, daß der König sich auf unzarte Weise daran erinnert fühlte, daß er im Begriff stehe, das strenge Recht der Schönheit aufzuopfern, oder vielleicht ging es dem Könige wie dem Träumer, dem, hart angerufen, die schönen Zauberbilder, die er zu umfassen gedachte, schnell verschwinden. Vielleicht sah er nun nicht mehr seine Vallière vor sich, sondern dachte nur an die Soeur Louise de la miséricorde (der Vallière Klostername bei den Karmeliternonnen), die ihn peinigte mit ihrer Frömmigkeit und Buße. — Was war jetzt anders zu tun, als des Königs Beschlüsse ruhig abzuwarten.

Des Grafen Miossens Aussage vor der Chambre ardente war indessen bekannt geworden, und wie es zu geschehen pflegt, daß das Volk leicht getrieben wird von einem Extrem zum andern, so wurde derselbe, den man erst als den verruchtesten Mörder verfluchte und den man zu zerreißen drohte, noch ehe er die Blutbühne bestiegen, als unschuldiges Opfer einer barbarischen Justiz beklagt. Nun erst erinnerten sich die Nachbarsleute seines tugendhaften Wandels, der großen Liebe zu Madelon, der Treue, der Ergebenheit mit Leib und Seele, die er zu dem alten Goldschmied gehegt. — Ganze Züge des Volks erschienen oft auf bedrohliche Weise vor la Regnies Palast und schrien: "Gib uns Olivier Brusson heraus, er ist unschuldig" und warfen wohl gar Steine nach den Fenstern, so daß la Regnie genötigt war, bei der Marechaussee Schutz zu suchen vor dem erzürnten Pöbel.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß der Scudéri von Olivier Brussons Prozeß nur das mindeste bekannt wurde. Ganz trostlos begab sie sich zur Maintenon, die aber versicherte, daß der König über die Sache schweige und es gar nicht geraten scheine, ihn daran zu erinnern. Fragte sie nun noch mit sonderbarem Lächeln, was denn die kleine Valerie

mache, so überzeugte sich die Scudéri, daß tief im Innern der stolzen Frau sich ein Verdruß über eine Angelegenheit regte, die den reizbaren König in ein Gebiet locken konnte, auf dessen Zauber sie sich nicht verstand. Von der Maintenon konnte sie daher gar nichts hoffen.

Endlich, mit d'Andillys Hülfe, gelang es der Scudéri auszukundschaften, daß der König eine lange geheime Unterredung mit dem Grafen Miossens gehabt. Ferner, daß Bontems, des Königs vertrautester Kammerdiener und Geschäftsträger, in der Conciergerie gewesen und mit Brusson gesprochen, daß endlich in einer Nacht ebenderselbe Bontems mit mehreren Leuten in Cardillacs Hause gewesen und sich lange darin aufgehalten. Claude Patru, der Bewohner des untern Stocks, versicherte, die ganze Nacht habe es über seinem Kopfe gepoltert, und gewiß sei Olivier dabeigewesen, denn er habe seine Stimme genau erkannt. Soviel war also gewiß, daß der König selbst dem wahren Zusammenhange der Sache nachforschen ließ, unbegreiflich blieb aber die lange Verzögerung des Beschlusses. La Regnie mochte alles aufbieten, das Opfer, das ihm entrissen werden sollte, zwischen den Zähnen festzuhalten. Das verdarb jede Hoffnung im Aufkeimen.

Beinahe ein Monat war vergangen, da ließ die Maintenon der Scudéri sagen, der König wünsche sie heute abend in ihren, der Maintenon, Gemächern zu sehen.

Das Herz schlug der Scudéri hoch auf, sie wußte, daß Brussons Sache sich nun entscheiden würde. Sie sagte es der armen Madelon, die zur Jungfrau, zu allen Heiligen inbrünstig betete, daß sie doch nur in dem König die Überzeugung von Brussons Unschuld erwecken möchten.

Und doch schien es, als habe der König die ganze Sache vergessen, denn wie sonst weilend in anmutigen Gesprächen mit der Maintenon und der Scudéri, gedachte er nicht mit einer Silbe des armen Brussons. Endlich erschien Bontems, näherte sich dem Könige und sprach einige Worte so leise, daß beide Damen nichts davon verstanden. — Die Scuderi

erbebte im Innern. Da stand der König auf, schritt auf die Scudéri zu und sprach mit leuchtenden Blicken: "Ich wünsche Euch Glück, mein Fräulein! — Euer Schützling, Olivier Brusson, ist frei!" — Die Scudéri, der die Tränen aus den Augen stürzten, keines Wortes mächtig, wollte sich dem Könige zu Füßen werfen. Der hinderte sie daran, sprechend: "Geht, geht! Fräulein, Ihr solltet Parlamentsadvokat sein und meine Rechtshändel ausfechten, denn, beim heiligen Dionys, Eurer Beredsamkeit widersteht niemand auf Erden. — Doch", fügte er ernster hinzu, "doch, wen die Tugend selbst in Schutz nimmt, mag der nicht sicher sein vor jeder bösen Anklage, vor der Chambre ardente und allen Gerichtshöfen in der Welt!" — Die Scudéri fand nun Worte, die sich in den glühendsten Dank ergossen. Der König unterbrach sie, ihr ankündigend, daß in ihrem Hause sie selbst viel feurigeren Dank erwarte, als er von ihr fordern könne, denn wahrscheinlich umarme in diesem Augenblick der glückliche Olivier schon seine Madelon. "Bontems", so schloß der König, "Bontems soll Euch tausend Louis auszahlen, die gebt in meinem Namen der Kleinen als Brautschatz. Mag sie ihren Brusson, der solch ein Glück gar nicht verdient, heiraten, aber dann sollen beide fort aus Paris. Das ist mein Wille."

Die Martiniere kam der Scudéri entgegen mit raschen Schritten, hinter ihr her Baptiste, beide mit vor Freude glänzenden Gesichtern, beide jauchzend, schreiend: "Er ist hier — er ist frei! — o die lieben jungen Leute!" Das selige Paar stürzte der Scudéri zu Füßen. "Oh, ich habe es ja gewußt, daß Ihr, Ihr allein mir den Gatten retten würdet", rief Madelon. "Ach, der Glaube an Euch, meine Mutter, stand ja fest in meiner Seele", rief Olivier, und beide küßten der würdigen Dame die Hände und vergossen tausend heiße Tränen. Und dann umarmten sie sich wieder und beteuerten, daß die überirdische Seligkeit dieses Augenblicks alle namenlose Leiden der vergangenen Tage aufwiege, und schworen, nicht voneinander zu lassen bis in den Tod.

Nach wenigen Tagen wurden sie verbunden durch den Segen des Priesters. Wäre es auch nicht des Königs Wille gewesen, Brusson hätte doch nicht in Paris bleiben können, wo ihn alles an jene entsetzliche Zeit der Untaten Cardillacs erinnerte, wo irgendein Zufall das böse Geheimnis, nun noch mehreren Personen bekannt worden, feindselig enthüllen und sein friedliches Leben auf immer verstören konnte. Gleich nach der Hochzeit zog er, von den Segnungen der Scudéri begleitet, mit seinem jungen Weibe nach Genf. Reich ausgestattet durch Madelons Brautschatz, begabt mit seltner Geschicklichkeit in seinem Handwerk, mit jeder bürgerlichen Tugend, ward ihm dort ein glückliches, sorgenfreies Leben. Ihm wurden die Hoffnungen erfüllt, die den Vater getäuscht hatten bis in das Grab hinein.

Ein Jahr war vergangen seit der Abreise Brussons, als eine öffentliche Bekanntmachung erschien, gezeichnet von Harloy de Chauvalon, Erzbischof von Paris, und von dem Parlamentsadvokaten Pierre Arnaud d'Andilly, des Inhalts, daß ein reuiger Sünder unter dem Siegel der Beichte der Kirche einen reichen geraubten Schatz an Juwelen und Geschmeide übergeben. Jeder, dem etwa bis zum Ende des Jahres 1680, vorzüglich durch mörderischen Anfall auf öffentlicher

Straße, ein Schmuck geraubt worden, solle sich bei d'Andilly melden und werde, treffe die Beschreibung des ihm geraubten Schmucks mit irgendeinem vorgefundenen Kleinod genau überein und finde sonst kein Zweifel gegen die Rechtmäßigkeit des Anspruchs statt, den Schmuck wiedererhalten. —Viele, die in Cardillacs Liste als nicht ermordet, sondern bloß durch einen Faustschlag betäubt aufgeführt waren, fanden sich nach und nach bei dem Parlamentsadvokaten ein und erhielten zu ihrem nicht geringen Erstaunen das ihnen geraubte Geschmeide zurück. Das übrige fiel dem Schatz der Kirche zu St. Eustache anheim.

Sylvesters Erzählung erhielt den vollen Beifall der Freunde. Man nannte sie deshalb wahrhaft serapiontisch, weil sie, auf geschichtlichen Grund gebaut, doch hinaufsteige ins Phantastische.

"Es ist", sprach Lothar, "unserm Sylvester in der Tat ein mißliches Wagestück gut genug gelungen. Für ein solches halte ich nämlich die Schilderung eines alten gelehrten Fräuleins, die in der Straße St. Honoré eine Art von Bureau d'esprit aufgeschlagen, in das uns Sylvester blicken lassen. Unsere Schriftstellerinnen, denen ich übrigens, sind sie zu hohen Jahren gekommen, alle Liebenswürdigkeit, Würde und Anmut der alten Dame in der schwarzen Robe recht herzlich wünsche, würden gewiß mit dir, o mein Sylvester, hätten sie deine Geschichte angehört, zufrieden sein und dir auch allenfalls den etwas gräßlichen und grausigen Cardillac verzeihen, den du wahrscheinlich ganz und gar phantastischer Inspiration verdankest."

"Doch", nahm Ottmar das Wort, "doch erinnere ich mich, irgendwo von einem alten Schuster zu Venedig gelesen zu haben, den die ganze Stadt für einen fleißigen frommen Mann hielt und der der verruchteste Mörder und Räuber war. So wie Cardillac schlich er sich zur Nachtzeit fort aus seiner Wohnung und hinein in die Paläste der Reichen. In der tiefsten Finsternis traf sein sicher geführter Dolchstoß den, den er berauben wollte, ins Herz, so daß er auf der Stelle lautlos niedersank. Vergebens blieb alles Mühen der schlausten und tätigsten Polizei, den Mörder, vor dem zuletzt ganz Venedig erbebte, zu erspähen, bis endlich ein Umstand die Aufmerksamkeit der Polizei erregte und den Verdacht auf den Schuster leitete. Der Schuster erkrankte nämlich, und sonderbar schien es, daß, solange er sein Lager nicht verlassen konnte, die Mordtaten aufhörten, sowie er gesundet, aber wieder begannen. Unter irgendeinem Vorwande warf man ihn ins Gefängnis, und das Vermutete traf ein. Solange der Schuster verhaftet, blieben die Paläste sicher, sowie man ihn, da es an jedem Beweise seiner Untaten

mangelte, losgelassen, fielen die unglücklichen Opfer verruchter Raubsucht aufs neue. Endlich erpreßte ihm die Folter das Geständnis, und er wurde hingerichtet. Merkwürdig genug war es, daß er von dem geraubten Gut, das man unter dem Fußboden seines Zimmers fand, durchaus keinen Gebrauch gemacht hatte. Sehr naiv versicherte der Kerl, er habe dem Schutzpatron seines Handwerks, dem heiligen Rochus, gelobt, nur ein gewisses rundes Sümmchen zusammenzurauben, dann aber einzuhalten, und schade sei es nur, daß man ihn ergriffen, ehe er es zu jenem Sümmchen gebracht."

"Von dem venezianischen Schuster", sprach Sylvester, "weiß ich nichts, soll ich euch aber treu und ehrlich die Quellen angeben, aus denen ich schöpfte, so muß ich euch sagen, daß die Worte der Scudéri: ,Un amant qui craint' etc., wirklich von ihr, und zwar beinahe auf denselben Anlaß, wie ich es erzählt, gesprochen worden sind. Auch ist die Sache mit dem Geschenk von Räuberhänden durchaus keine Geburt des von günstiger Luft befruchteten Dichters. Die Nachricht davon findet ihr in einem Buche, wo ihr sie gewiß nicht suchen würdet, nämlich in Wagenseils ,Chronik von Nürnberg'. Der alte Herr erzählt nämlich von einem Besuch, den er während seines Aufenthalts in Paris bei dem Fräulein von Scudéri abgestattet, und ist es mir gelungen, das Fräulein würdig und anmutig darzustellen, so habe ich das lediglich der angenehmen Courtoisie zu verdanken, mit der Wagenseilius von der alten geistreichen Dame spricht."

"Wahrhaftig", rief Theodor lächelnd, "wahrhaftig, in einer Nürnberger Chronik das Fräulein von Scudéri anzutreffen, dazu gehört ein Dichterglück, wie es unserm Sylvester beschieden. Überleuchtet er uns heute nicht in seiner Zweiheit als Theaterdichter und Erzähler wie das Gestirn der Dioskuren?"

"Das ist", sprach Vinzenz, "das ist das, was ich eben impertinent finde. Der, der ein gutes Stück geschrieben, muß sich auch nicht noch herausnehmen wollen, gut zu erzählen."

"Seltsam", nahm Cyprian das Wort, "seltsam ist es aber doch, daß Schriftsteller, die lebendig erzählen, die Charakter und Situation gut zu halten wissen, oft an dem Dramatischen gänzlich scheitern."

"Sind", sprach Lothar, "sind die Bedingnisse des Dramas und der Erzählung aber nicht in ihren Grundelementen so voneinander verschieden, daß selbst der Versuch, den Stoff einer Erzählung zu einem Drama zu verarbeiten, oft mißlingt und mißlingen muß? — Ihr versteht mich, daß ich von der eigentlichen Erzählung spreche und alles Novellenartige ausschließe, das oft den Keim in sich trägt, aus dem das wahre Drama hervorsprießt wie ein schöner herrlicher Baum."

"Was haltet", begann Vinzenz, "was haltet ihr von der angenehmen Idee, aus einem Schauspiel eine Erzählung zu machen? — Vor mehreren Jahren las ich Ifflands ,Jäger', als Erzählung bearbeitet, und ihr könnt gar nicht glauben, wie ungemein allerliebst und rührend sich das Antonchen mit dem blanken Hirschfänger und das Riekchen mit dem verlornen Schuh ausnahmen. Sehr herrlich war es auch, daß der Verfasser oder Bearbeiter ganze Szenen beibehalten und nur das: ,sprach er - erwiderte sie' — zwischen die verschiedenen Reden gesetzt hatte. Ich versichere euch, daß ich erst dann, als ich diese Erzählung gelesen, die wahrhafte poetische Schwärmerei, das Tiefgefühlte und großartig Rührende von Ifflands ,Jägern' eingesehen. Nebenher ist mir aber auch die wissenschaftliche Tendenz dieses Dramas aufgegangen, und ich kann es nicht tadeln, daß in jener Bibliothek unter der Rubrik ,Forstwissenschaft' sich auch Ifflands ,Jäger' befanden."

"Schweige", rief Lothar, "schweige, Skurrilität, und gönne mit uns ein gütiges Ohr dem würdigen Serapionsbrüder, der, wie ich bemerke, soeben ein Manuskript aus der Tasche gezogen hat."

"Ich habe", sprach Theodor, "mich diesmal in ein anderes Feld gewagt und bitte im voraus um eure Nachsicht. Übrigens

liegt meiner Erzählung eine wirkliche Begebenheit zum Grunde, die mir indessen durch kein Buch, sondern durch Tradition zugekommen." Theodor las:

Spielerglück

Mehr als jemals war im Sommer 18.. Pyrmont besucht. Von Tage zu Tage mehrte sich der Zufluß vornehmer reicher Fremden und machte den Wetteifer der Spekulanten jeder Art rege. So kam es denn auch, daß die Unternehmer der Farobank dafür sorgten, ihr gleißendes Gold in größern Massen aufzuhäufen als sonst, damit die Lockspeise sich bewähre auch bei dem edelsten Wilde, das sie, gute geübte Jäger, anzukörnen gedachten.

Wer weiß es nicht, daß, zumal zur Badezeit an Badeörtern, wo jeder, aus seinem gewöhnlichen Verhältnis getreten, sich mit Vorbedacht hingibt freier Muße, sinnzerstreuendem Vergnügen, der anziehende Zauber des Spiels unwiderstehlich wird. Man sieht Personen, die sonst keine Karte anrühren, an der Bank als die eifrigsten Spieler, und überdem will es auch, wenigstens in der vornehmeren Welt, der gute Ton, daß man jeden Abend bei der Bank sich einfinde und einiges Geld verspiele.

Von diesem unwiderstehlichen Zauber, von dieser Regel des guten Tons schien allein ein junger deutscher Baron - wir wollen ihn Siegfried nennen - keine Notiz zu nehmen. Eilte alles an den Spieltisch, wurde ihm jedes Mittel, jede Aussicht, sich geistreich zu unterhalten, wie er es liebte, abgeschnitten, so zog er es vor, entweder auf einsamen Spaziergängen sich dem Spiel seiner Phantasie zu überlassen oder auf dem Zimmer dieses, jenes Buch zur Hand zu nehmen, jawohl sich selbst im Dichten - Schriftstellen zu versuchen.

Siegfried war jung, unabhängig, reich, von edler Gestalt,

anmutigem Wesen, und so konnte es nicht fehlen, daß man ihn hochschätzte, liebte, daß sein Glück bei den Weibern entschieden war. Aber auch in allem, was er nur beginnen, unternehmen mochte, schien ein besonderer Glücksstern über ihn zu walten. Man sprach von allerlei abenteuerlichen Liebeshändeln, die sich ihm aufgedrungen und die, so verderblich sie allem Anschein nach jedem andern gewesen sein würden, sich auf unglaubliche Weise leicht und glücklich auflösten. Vorzüglich pflegten aber die alten Herrn aus des Barons Bekanntschaft, wurde von ihm, von seinem Glück gesprochen, einer Geschichte von einer Uhr zu erwähnen, die sich in seinen ersten Jünglingsjahren zugetragen. Es begab sich nämlich, daß Siegfried, als er noch unter Vormundschaft stand, auf einer Reise ganz unerwartet in solch dringende Geldnot geriet, daß er, um nur weiter fortzukommen, seine goldne, mit Brillanten reichbesetzte Uhr verkaufen mußte. Er war darauf gefaßt, die kostbare Uhr um geringes Geld zu verschleudern; da es sich aber traf, daß in demselben Hotel, wo er eingekehrt, gerade ein junger Fürst solch ein Kleinod suchte, so erhielt er mehr, als der eigentliche Wert betrug. Über ein Jahr war vergangen, Siegfried schon sein eigner Herr worden, als er an einem andern Ort in den öffentlichen Blättern las, daß eine Uhr ausgespielt werden solle. Er nahm ein Los, das eine Kleinigkeit kostete, und - gewann die goldne, mit Brillanten besetzte Uhr, die er verkauft. Nicht lange darauf vertauschte er diese Uhr gegen einen kostbaren Ring. Er kam bei dem Fürsten von G. auf kurze Zeit in Dienste, und dieser schickte ihm bei seiner Entlassung als ein Andenken seines Wohlwollens - dieselbe goldne, mit Brillanten besetzte Uhr mit reicher Kette!

Von dieser Geschichte kam man denn auf Siegfrieds Eigensinn, durchaus keine Karte anrühren zu wollen, wozu er bei seinem entschiedenen Glück um so mehr Anlaß habe, und war bald darüber einig, daß der Baron bei seinen übrigen glänzenden Eigenschaften ein Knicker sei, viel zu ängstlich,

viel zu engherzig, um sich auch nur dem geringsten Verlust auszusetzen. Darauf, daß das Betragen des Barons jedem Verdacht des Geizes ganz entschieden widersprach, wurde nicht geachtet, und wie es denn nun zu geschehen pflegt, daß die mehrsten recht darauf erpicht sind, dem Ruhm irgendeines hochbegabten Mannes ein bedenkliches Aber hinzufügen zu können und dies Aber irgendwo aufzufinden wissen, sollte es auch in ihrer eignen Einbildung ruhen, so war man mit jener Deutung von Siegfrieds Widerwillen gegen das Spiel gar höchlich zufrieden.

Siegfried erfuhr sehr bald, was man von ihm behauptete, und da er, hochherzig und liberal, wie er war, nichts mehr haßte, verabscheute als Knickerei, so beschloß er, um die Verleumder zu schlagen, sosehr ihn auch das Spiel anekeln mochte, sich mit ein paar hundert Louisdor und auch wohl mehr loszukaufen von dem schlimmen Verdacht. — Er fand sich bei der Bank ein mit dem festen Vorsatz, die bedeutende Summe, die er eingesteckt, zu verlieren; aber auch im Spiel wurde ihm das Glück, das ihm in allem, was er unternahm, zur Seite stand, nicht untreu. Jede Karte, die er wählte, gewann. Die kabbalistischen Berechnungen alter geübter Spieler scheiterten an dem Spiel des Barons. Er mochte die Karten wechseln, er mochte dieselbe fortsetzen, gleichviel, immer war sein der Gewinn. Der Baron gab das seltene Schauspiel eines Ponteurs, der darüber außer sich geraten will, weil die Karten ihm zuschlagen, und so nahe die Erklärung dieses Benehmens lag, schaute man sich doch an mit bedenklichen Gesichtern und gab nicht undeutlich zu verstehen, der Baron könne, von dem Hange zum Sonderbaren fortgerissen, zuletzt in einigen Wahnsinn verfallen, denn wahnsinnig müßte doch der Spieler sein, der sich über sein Glück entsetze.

Ebender Umstand, daß er eine bedeutende Summe gewonnen, nötigte den Baron, fortzuspielen und so, da aller Wahrscheinlichkeit gemäß dem bedeutenden Gewinn ein noch bedeutenderer Verlust folgen mußte, das durchzusetzen,

was er sich vorgenommen. Aber keinesweges traf das ein, was man vermuten konnte, denn sich ganz gleich blieb das entschiedene Glück des Barons.

Ohne daß er es selbst bemerkte, regte sich in dem Innern des Barons die Lust an dem Farospiel, das in seiner Einfachheit das verhängnisvollste ist, mehr und mehr auf.

Er war nicht mehr unzufrieden mit seinem Glück, das Spiel fesselte seine Aufmerksamkeit und hielt ihn fest ganze Nächte hindurch, so daß er, da nicht der Gewinn, sondern recht eigentlich das Spiel ihn anzog, notgedrungen an den besondern Zauber, von dem sonst seine Freunde gesprochen und den er durchaus nicht statuieren wollen, glauben mußte.

Als er in einer Nacht, da der Bankier gerade eine Taille geendet, die Augen aufschlug, gewahrte er einen ältlichen Mann, der sich ihm gegenüber hingestellt hatte und den wehmütig ernsten Blick fest und unverwandt auf ihn richtete. Und jedesmal, wenn der Baron während des Spiels aufschaute, traf sein Blick das düstre Auge des Fremden, so daß er sich eines drückenden unheimlichen Gefühis nicht erwehren konnte. Erst als das Spiel beendet, verließ der Fremde den Saal. In der folgenden Nacht stand er wieder dem Baron gegenüber und starrte ihn an unverwandt mit düstren gespenstischen Augen. Noch hielt der Baron an sich; als aber in der dritten Nacht der Fremde sich wieder eingefunden und, zehrendes Feuer im Auge, den Baron anstarrte, fuhr dieser los: "Mein Herr, ich muß Sie bitten, sich einen andern Platz zu wählen. Sie genieren mein Spiel."

Der Fremde verbeugte sich schmerzlich lächelnd und verließ, ohne ein Wort zu sagen, den Spieltisch und den Saal.

Und in der folgenden Nacht stand doch der Fremde wieder dem Baron gegenüber, mit dem düster glühenden Blick ihn durchbohrend.

Da fuhr noch zorniger als in der vorigen Nacht der Baron auf: "Mein Herr, wenn es Ihnen Spaß macht, mich anzugaffen,

so bitte ich, eine andere Zeit und einen andern Ort dazu zu wählen, in diesem Augenblick aber sich -"

Eine Bewegung mit der Hand nach der Türe diente statt des harten Worts, das der Baron eben ausstoßen wollte.

Und wie in der vorigen Nacht, mit demselben schmerzlichen Lächeln sich leicht verbeugend, verließ der Fremde den Saal.

Vom Spiel, vom Wein, den er genossen, ja selbst von dem Auftritt mit dem Fremden aufgeregt, konnte Siegfried nicht schlafen. Der Morgen dämmerte schon herauf, als die ganze Gestalt des Fremden vor seine Augen trat. Er erblickte das bedeutende, scharf gezeichnete gramverstörte Gesicht, die tiefliegenden düstern Augen, die ihn anstarrten, er bemerkte, wie trotz der ärmlichen Kleidung der edle Anstand den Mann von feiner Erziehung verriet. — Und nun die Art, wie der Fremde mit schmerzhafter Resignation die harten Worte aufnahm und sich, das bitterste Gefühl mit Gewalt niederkämpfend, aus dem Saal entfernte! —"Nein", rief Siegfried, "ich tat ihm Unrecht - schweres Unrecht! —Liegt es denn in meinem Wesen, wie ein roher Bursche in gemeiner Unart aufzubrausen, Menschen zu beleidigen ohne den mindesten Anlaß?" — Der Baron kam dahin, sich zu überzeugen, daß der Mann ihn so angestarrt habe in dem erdrückendsten Gefühl des schneidenden Kontrastes, daß in dem Augenblick, als er vielleicht mit der bittersten Not kämpfe, er, der Baron, im übermütigen Spiel Gold über Gold aufgehäuft. Er beschloß, gleich den andern Morgen den Fremden aufzusuchen und die Sache auszugleichen.

Der Zufall fügte es, daß gerade die erste Person, der der Baron in der Allee lustwandelnd begegnete, eben der Fremde war.

Der Baron redete ihn an, entschuldigte eindringlich sein Benehmen in der gestrigen Nacht und schloß damit, den Fremden in aller Form um Verzeihung zu bitten. Der Fremde meinte, er habe gar nichts zu verzeihen, da man dem im eifrigen Spiel begriffenen Spieler vieles zugute halten

müsse, überdem er aber allein sich auch dadurch, daß er hartnäckig auf dem Platze geblieben, wo er den Baron genieren müssen, die harten Worte zugezogen.

Der Baron ging weiter, er sprach davon, daß es oft im Leben augenblickliche Verlegenheiten gäbe, die den Mann von Bildung auf das empfindlichste niederdrückten, und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß er bereit sei, das Geld, das er gewonnen, oder auch noch mehr, herzugeben, wenn dadurch vielleicht dem Fremden geholfen werden könnte.

"Mein Herr", erwiderte der Fremde, "Sie halten mich für bedürftig, das bin ich gerade nicht, denn mehr arm als reich, habe ich doch so viel, als meine einfache Weise zu leben fordert. Zudem werden Sie selbst erachten, daß ich, glauben Sie mich beleidigt zu haben und wollen es durch ein gut Stück Geld abmachen, dies unmöglich als ein Mann von Ehre würde annehmen können, wäre ich auch nicht Kavalier."

"Ich glaube", erwiderte der Baron betreten, "ich glaube Sie zu verstehen und bin bereit, Ihnen Genugtuung zu geben, wie Sie es verlangen."

"0 Himmel", fuhr der Fremde fort, "o Himmel, wie ungleich würde der Zweikampf zwischen uns beiden sein! — Ich bin überzeugt, daß Sie ebenso wie ich den Zweikampf nicht für eine kindische Raserei halten und keinesweges glauben, daß ein paar Tropfen Blut, vielleicht dem geritzten Finger entquollen, die befleckte Ehre rein waschen können. Es gibt mancherlei Fälle, die es zweien Menschen unmöglich machen können, auf dieser Erde nebeneinander zu existieren, und lebe der eine am Kaukasus und der andere an der Tiber, es gibt keine Trennung, solange der Gedanke die Existenz des Gehaßten erreicht. Hier wird der Zweikampf, welcher darüber entscheidet, wer dem andern den Platz auf dieser Erde räumen soll, notwendig. — Zwischen uns beiden würde, wie ich eben gesagt, der Zweikampf ungleich sein, da mein Leben keinesweges so hoch zu stellen als das Ihrige. Stoße ich Sie nieder, so töte ich eine ganze

Welt der schönsten Hoffnungen, bleibe ich, so haben Sie ein kümmerliches, von den bittersten qualvollsten Erinnerungen verstörtes Dasein geendet! — Doch die Hauptsache bleibt, daß ich mich durchaus nicht für beleidigt halte. — Sie hießen mich gehen, und ich ging!"

Die letzten Worte sprach der Fremde mit einem Ton, der die innere Kränkung verriet. Grund genug für den Baron, nochmals sich vorzüglich damit zu entschuldigen, daß, selbst wisse er nicht warum, ihm der Blick des Fremden bis ins Innerste gedrungen sei, daß er ihn zuletzt gar nicht habe ertragen können.

"Möchte", sprach der Fremde, "möchte doch mein Blick in Ihrem Innersten, drang er wirklich hinein, den Gedanken an die bedrohliche Gefahr aufgeregt haben, in der Sie schweben. Mit frohem Mute, mit jugendlicher Unbefangenheit stehen Sie am Rande des Abgrundes, ein einziger Stoß, und Sie stürzen rettungslos hinab. — Mit einem Wort - Sie sind im Begriff, ein leidenschaftlicher Spieler zu werden und sich zu verderben."

Der Baron versicherte, daß der Fremde sich ganz und gar irre. Er erzählte umständlich, wie er an den Spieltisch geraten, und behauptete, daß ihm der eigentliche Spielsinn ganz abgehe, daß er gerade den Verlust von ein paar hundert Louisdor wünsche, und wenn er dies erreicht, aufhören werde zu pontieren. Bis jetzt habe er aber das entschiedenste Glück gehabt.

"Ach", rief der Fremde, "ach, eben dieses Glück ist die entsetzlichste hämischste Verlockung der feindlichen Macht! — eben dieses Glück, womit Sie spielen, Baron! die ganze Art, wie Sie zum Spiel gekommen sind, ja selbst Ihr ganzes Wesen beim Spiel, welches nur zu deutlich verrät, wie immer mehr und mehr Ihr Interesse daran steigt - alles - alles erinnert mich nur zu lebhaft an das entsetzliche Schicksal eines Unglücklichen, welcher, Ihnen in vieler Hinsicht ähnlich, ebenso begann als Sie. Deshalb geschah es, daß ich mein Auge nicht verwenden konnte von Ihnen, daß ich mich

kaum zurückzuhalten vermochte, mit Worten das zu sagen, was mein Blick Sie erraten lassen sollte! — ,0 sieh doch nur die Dämonen ihre Krallenfäuste ausstrecken, dich hinabzureißen in den Orkus!' — so hätt ich rufen mögen. — Ich wünschte Ihre Bekanntschaft zu machen, das ist mir wenigstens gelungen. — Erfahren Sie die Geschichte jenes Unglücklichen, dessen ich erwähnte, vielleicht überzeugen Sie sich dann, daß es kein leeres Hirngespinst ist, wenn ich Sie in der dringendsten Gefahr erblicke und Sie warne."

Beide, der Fremde und der Baron, nahmen Platz auf einer einsam stehenden Bank, dann begann der Fremde in folgender Art.



"Dieselben glänzenden Eigenschaften, die Sie, Herr Baron, auszeichnen, erwarben dem Chevalier Menars die Achtung und Bewunderung der Männer, machten ihn zum Liebling der Weiber. Nur was den Reichtum betrifft, hatte das Glück ihn nicht so begünstigt wie Sie. Er war beinahe dürftig, und nur durch die geregeltste Lebensart wurde es ihm möglich, mit dem Anstande zu erscheinen, wie es seine Stellung als Abkömmling einer bedeutenden Familie erforderte. Schon deshalb, da ihm der kleinste Verlust empfindlich sein, seine ganze Lebensweise verstören mußte, durfte er sich auf kein Spiel einlassen, zudem fehlte es ihm auch an allem Sinn dafür, und er brachte daher, wenn er das Spiel vermied, kein Opfer. Sonst gelang ihm alles, was er unternahm, auf besondere Weise, so daß das Glück des Chevalier Menars zum Sprüchwort wurde.

Wider seine Gewohnheit hatte er sich in einer Nacht überreden lassen, ein Spielhaus zu besuchen. Die Freunde, die mit ihm gegangen, waren bald ins Spiel verwickelt.

Ohne Teilnahme, in ganz andere Gedanken vertieft, schritt der Chevalier bald den Saal auf und ab, starrte bald hin auf den Spieltisch, wo dem Bankier von allen Seiten Gold über Gold zuströmte. Da gewahrte plötzlich ein alter Obrister den Chevalier und rief laut: ,Alle Teufel! Da ist

der Chevalier Menars unter uns und sein Glück, und wir können nichts gewinnen, da er sich weder für den Bankier noch für die Ponteurs erklärt hat, aber das soll nicht länger so bleiben, er soll gleich für mich pontieren!'

Der Chevalier mochte sich mit seiner Ungeschicklichkeit, mit seinem Mangel an jeder Erfahrung entschuldigen, wie er wollte, der Obrist ließ nicht nach, der Chevalier mußte heran an den Spieltisch.

Gerade wie Ihnen, Herr Baron, ging es dem Chevalier, jede Karte schlug ihm zu, so daß er bald eine bedeutende Summe für den Obristen gewonnen hatte, der sich gar nicht genug über den herrlichen Einfall freuen konnte, daß er das bewährte Glück des Chevalier Menars in Anspruch genommen.

Auf den Chevalier selbst machte sein Glück, das alle übrigen in Erstaunen setzte, nicht den mindesten Eindruck; ja er wußte selbst nicht, wie es geschah, daß sein Widerwillen gegen das Spiel sich noch vermehrte, so daß er am andern Morgen, als er die Folgen der mit Anstrengung durchwachten Nacht in der geistigen und körperlichen Erschlaffung fühlte, sich auf das ernstlichste vornahm, unter keiner Bedingung jemals wieder ein Spielhaus zu besuchen.

Noch bestärkt wurde dieser Vorsatz durch das Betragen des alten Obristen, der, sowie er nur eine Karte in die Hand nahm, das entschiedenste Unglück hatte und dies Unglück nun in seltsamer Betörtheit dem Chevalier auf den Hals schob. Auf zudringliche Weise verlangte er, der Chevalier solle für ihn pontieren oder ihm, wenn er spiele, wenigstens zur Seite stehen, um durch seine Gegenwart den bösen Dämon, der ihm die Karten in die Hand schob, die niemals trafen, wegzubannen. — Man weiß, daß nirgends mehr abgeschmackter Aberglaube herrscht als unter den Spielern. — Nur mit dem größten Ernst, ja mit der Erklärung, daß er sich lieber mit ihm schlagen als für ihn spielen wollte, konnte sich der Chevalier den Obristen, der eben kein

Freund von Duellen war, vom Leibe halten. — Der Chevalier verwünschte seine Nachgiebigkeit gegen den alten Toren.

Übrigens konnt es nicht fehlen, daß die Geschichte von dem wunderbar glücklichen Spiel des Chevaliers von Mund zu Mund lief und daß noch allerlei rätselhafte geheimnisvolle Umstände hinzugedichtet wurden, die den Chevalier als einen Mann, der mit den höheren Mächten im Bunde, darstellten. Daß aber der Chevalier, seines Glücks unerachtet, keine Karte berührte, mußte den höchsten Begriff von der Festigkeit seines Charakters geben und die Achtung, in der er stand, noch um vieles vermehren.

Ein Jahr mochte vergangen sein, als der Chevalier durch das unerwartete Ausbleiben der kleinen Summe, von der er seinen Lebensunterhalt bestritt, in die drückendste peinlichste Verlegenheit gesetzt wurde. Er war genötigt, sich seinem treuesten Freunde zu entdecken, der ohne Anstand ihm mit dem, was er bedurfte, aushalf, zugleich ihn aber den ärgsten Sonderling schalt, den es wohl jemals gegeben. ,Das Schicksal', sprach er, ,gibt uns Winke, auf welchem Wege wir unser Heil suchen sollen und finden, nur in unsrer Indolenz liegt es, wenn wir diese Winke nicht beachten, nicht verstehen. Dir hat die höhere Macht, die über uns gebietet, sehr deutlich ins Ohr geraunt: Willst du Geld und Gut erwerben, so geh hin und spiele, sonst bleibst du arm, dürftig, abhängig immerdar.'

Nun erst trat der Gedanke, wie wunderbar das Glück ihn an der Farobank begünstigt hatte, lebendig vor seine Seele, und träumend und wachend sah er Karten, hörte er das eintönige ,gagne-perd' des Bankiers, das Klirren der Goldstücke! ,Es ist wahr', sprach er zu sich selbst, ,eine einzige Nacht, wie jene, reißt mich aus der Not, überhebt mich der drückenden Verlegenheit, meinen Freunden beschwerlich zu fallen; es ist Pflicht, dem Winke des Schicksals zu folgen.'

Ebender Freund, der ihm zum Spiel geraten, begleitete

ihn ins Spielhaus, gab ihm, damit er sorglos das Spiel beginnen könne, noch zwanzig Louisdor.

Hatte der Chevalier damals, als er für den alten Obristen pontierte, glänzend gespielt, so war dies jetzt doppelt der Fall. Blindlings, ohne Wahl zog er die Karten, die er setzte, aber nicht er, die unsichtbare Hand der höhern Macht, die mit dem Zufall vertraut oder vielmehr das selbst ist, was wir Zufall nennen, schien sein Spiel zu ordnen. Als das Spiel geendet, hatte er tausend Louisdor gewonnen.

In einer Art von Betäubung erwachte er am andern Morgen. Die gewonnenen Goldstücke lagen aufgeschüttet neben ihm auf dem Tische. Er glaubte im ersten Moment zu träumen, er rieb sich die Augen, er erfaßte den Tisch, rückte ihn näher heran. Als er sich nun aber besann, was geschehen, als er in den Goldstücken wühlte, als er sie wohlgefällig zählte und wieder durchzählte, da ging zum erstenmal wie ein verderblicher Gifthauch die Lust an dem schnöden Mammon durch sein ganzes Wesen, da war es geschehen um die Reinheit der Gesinnung, die er so lange bewahrt!

Er konnte kaum die Nacht erwarten, um an den Spieltisch zu kommen. Sein Glück blieb sich gleich, so daß er in wenigen Wochen, während welcher er beinahe jede Nacht gespielt, eine bedeutende Summe gewonnen hatte.

Es gibt zweierlei Arten von Spieler. Manchen gewährt, ohne Rücksicht auf Gewinn, das Spiel selbst als Spiel eine unbeschreibliche geheimnisvolle Lust. Die sonderbaren Verkettungen des Zufalls wechseln in dem seltsamsten Spiel, das Regiment der höhern Macht tritt klarer hervor, und eben dieses ist es, was unsern Geist anregt, die Fittiche zu rühren und zu versuchen, ob er sich nicht hineinschwingen kann in das dunkle Reich, in die verhängnisvolle Werkstatt jener Macht, um ihre Arbeiten zu belauschen. — Ich habe einen Mann gekannt, der tage-, nächtelang einsam in seinem Zimmer Bank machte und gegen sich selbst pontierte, der war meines Bedünkens ein echter Spieler. — Andere haben nur den Gewinst vor Augen und betrachten das Spiel als

ein Mittel, sich schnell zu bereichern. Zu dieser Klasse schlug sich der Chevalier und bewährte dadurch den Satz, daß der eigentliche tiefere Spielsinn in der individuellen Natur liegen, angeboren sein muß.

Ebendaher war ihm der Kreis, in dem sich der Ponteur bewegt, bald zu enge. Mit der sehr beträchtlichen Summe, die er sich erspielt, etablierte er eine Bank, und auch hier begünstigte ihn das Glück dergestalt, daß in kurzer Zeit seine Bank die reichste war in ganz Paris. Wie es in der Natur der Sache liegt, strömten ihm, dem reichsten, glücklichsten Bankier, auch die mehrsten Spieler zu.

Das wilde wüste Leben des Spielers vertilgte bald alle die geistigen und körperlichen Vorzüge, die dem Chevalier sonst Liebe und Achtung erworben hatten. Er hörte auf, ein treuer Freund, ein unbefangener heitrer Gesellschafter, ein ritterlich galanter Verehrer der Damen zu sein. Erloschen war sein Sinn für Wissenschaft und Kunst, dahin all sein Streben, in tüchtiger Erkenntnis vorzuschreiten. Auf seinem todbleichen Gesicht, in seinen düstern, dunkles Feuer sprühenden Augen lag der volle Ausdruck der verderblichsten Leidenschaft, die ihn umstrickt hielt. — Nicht Spielsucht, nein, der gehässigste Geldgeiz war es, den der Satan selbst in seinem Innern entzündet! — Mit einem Wort, es war der vollendetste Bankier, wie es nur einen geben kann!

In einer Nacht war dem Chevalier, ohne daß er gerade bedeutenden Verlust erlitten, doch das Glück weniger günstig gewesen als sonst. Da trat ein kleiner, alter, dürrer Mann, dürftig gekleidet, von beinahe garstigem Ansehen an den Spieltisch, nahm mit zitternder Hand eine Karte und besetzte sie mit einem Goldstück. Mehrere von den Spielern blickten den Alten an mit tiefem Erstaunen, behandelten ihn aber dann mit auffallender Verachtung, ohne daß der Alte auch nur eine Miene verzog, viel weniger mit einem Wort sich darüber beschwerte.

Der Alte verlor - verlor einen Satz nach dem andern, aber je höher sein Verlust stieg, desto mehr freuten sich die

andern Spieler. Ja, als der Alte, der seine Sätze immerfort doublierte, einmal fünfhundert Louisdor auf eine Karte gesetzt und diese in demselben Augenblick umschlug, rief einer laut lachend: ,Glück zu, Signor Vertua, Glück zu, verliert den Mut nicht, setzt immerhin weiter fort, Ihr seht mir so aus, als würdet Ihr doch noch am Ende die Bank sprengen durch ungeheuern Gewinst!'

Der Alte warf einen Basiliskenblick auf den Spötter und rannte schnell von dannen, aber nur, um in einer halben Stunde wiederzukehren, die Taschen mit Gold gefüllt. In der letzten Taille mußte indessen der Alte aufhören, da er wiederum alles Gold verspielt, das er zur Stelle gebracht.

Dem Chevalier, der, aller Verruchtheit seines Treibens unerachtet, doch auf einen gewissen Anstand hielt, der bei seiner Bank beobachtet werden mußte, hatte der Hohn, die Verachtung, womit man den Alten behandelt, im höchsten Grade mißfallen. Grund genug nach beendetem Spiel, als der Alte sich entfernt hatte, darüber jenen Spötter sowie ein paar andere Spieler, deren verächtliches Betragen gegen den Alten am mehrsten aufgefallen und die, vom Chevalier dazu aufgefordert, noch dageblieben, sehr ernstlich zur Rede zu stellen. ,Ei', rief der eine, ,Ihr kennt den alten Francesco Vertua nicht, Chevalier! sonst würdet Ihr Euch über uns und unser Betragen gar nicht beklagen, es vielmehr ganz und gar gutheißen. Erfahrt, daß dieser Vertua, Neapolitaner von Geburt, seit funfzehn Jahren in Paris, der niedrigste, schmutzigste, bösartigste Geizhals und Wucherer ist, den es geben mag. Jedes menschliche Gefühl ist ihm fremd, er könnte seinen eignen Bruder im Todeskrampf sich zu seinen Füßen krümmen sehen, und vergebens würd es bleiben, ihm, wenn auch dadurch der Bruder gerettet werden könnte, auch nur einen einzigen Louisdor entlocken zu wollen. Die Flüche und Verwünschungen einer Menge Menschen, ja ganzer Familien, die durch seine satanischen Spekulationen ins tiefste Verderben gestürzt wurden, lasten schwer auf ihm. Er ist

bitter gehaßt von allen, die ihn kennen, jeder wünscht, daß die Rache für alles Böse, das er tat, ihn erfassen und sein schuldbeflecktes Leben enden möge. Gespielt hat er, wenigstens solange er in Paris ist, niemals, und Ihr dürft Euch nach alledem über das tiefe Erstaunen gar nicht verwundern, in das wir gerieten, als der alte Geizhals an den Spieltisch trat. Ebenso mußten wir uns wohl über seinen bedeutenden Verlust freuen, denn arg, ganz arg würde es doch gewesen sein, wenn das Glück den Bösewicht begünstigt hätte. Es ist nur zu gewiß, daß der Reichtum Eurer Bank, Chevalier, den alten Toren verblendet hat. Er gedachte Euch zu rupfen und verlor selbst die Federn. Unbegreiflich bleibt es mir aber doch, wie Vertua, dem eigentlichen Charakter des Geizhalses entgegen, sich entschließen konnte zu solch hohem Spiel. Nun! — er wird wohl nicht wiederkommen, wir sind ihn los!'

Diese Vermutung traf jedoch keinesweges ein, denn schon in der folgenden Nacht stand Vertua wiederum an der Bank des Chevaliers und setzte und verlor viel bedeutender als gestern. Dabei blieb er ruhig, ja er lächelte zuweilen mit einer bittern Ironie, als wisse er im voraus, wie bald sich alles ganz anders begeben würde. Aber wie eine Lawine wuchs schneller und schneller in jeder der folgenden Nächte der Verlust des Alten, so daß man zuletzt nachrechnen wollte, er habe an dreißigtausend Louisdor zur Bank bezahlt. Da kam er einst, als schon längst das Spiel begonnen, totenbleich mit verstörtem Blick in den Saal und stellte sich fern von dem Spieltisch hin, das Auge starr auf die Karten gerichtet, die der Chevalier abzog. Endlich, als der Chevalier die Karten gemischt hatte, abheben ließ und eben die Taille beginnen wollte, rief der Alte mit kreischendem Ton: ,Halt!', daß alle beinahe entsetzt sich umschauten. Da drängte sich der Alte durch bis dicht an den Chevalier hinan und sprach ihm mit dumpfer Stimme ins Ohr: ,Chevalier! mein Haus in der Straße St. Honoré nebst der ganzen Einrichtung und meiner Habe an Silber, Gold und Juwelen ist

geschätzt auf achtzigtausend Franken, wollt Ihr den Satz halten?' — ,Gut', erwiderte der Chevalier kalt, ohne sich umzusehen nach dem Alten, und begann die Taille.

,Die Dame', sprach der Alte, und in dem nächsten Abzug hatte die Dame verloren! — Der Alte prallte zurück und lehnte sich an die Wand regungs- und bewegungslos, der starren Bildsäule ähnlich. Niemand kümmerte sich weiter um ihn.

Das Spiel war geendet, die Spieler verloren sich, der Chevalier packte mit seinen Croupiers das gewonnene Geld in die Kassette; da wankte wie ein Gespenst der alte Vertua aus dem Winkel hervor auf den Chevalier zu und sprach mit hohler dumpfer Stimme: ,Noch ein Wort, Chevalier, ein einziges Wort!'

,Nun, was gibt's?' erwiderte der Chevalier, indem er den Schlüssel abzog von der Kassette und dann den Alten verächtlich maß von Kopf bis zu Fuß.

,Mein ganzes Vermögen', fuhr der Alte fort, ,verlor ich an Eure Bank, Chevalier, nichts, nichts blieb mir übrig, ich weiß nicht, wo ich morgen mein Haupt hinlegen, wovon ich meinen Hunger stillen soll. Zu Euch, Chevalier, nehme ich meine Zuflucht. Borgt mir von der Summe, die Ihr von mir gewonnen, den zehnten Teil, damit ich mein Geschäft wieder beginne und mich emporschwinge aus der tiefsten Not.'

,Wo denkt Ihr hin', erwiderte der Chevalier, ,wo denkt Ihr hin, Signor Vertua, wißt Ihr nicht, daß ein Bankier niemals Geld wegborgen darf von seinem Gewinst? Das läuft gegen die alte Regel, von der ich nicht abweiche.'

,Ihr habt recht', sprach Vertua weiter, ,Ihr habt recht, Chevalier, meine Forderung war unsinnig - übertrieben! — den zehnten Teil! — nein! den zwanzigsten Teil borgt mir!' — ,Ich sage Euch ja', antwortete der Chevalier verdrießlich, ,daß ich von meinem Gewinst durchaus nichts verborge!'

,Es ist wahr', sprach Vertua, indem sein Antlitz immer mehr erbleichte, immer stierer und starrer sein Blick wurde, ,es ist wahr, Ihr dürft nichts verborgen - ich tat es ja auch

sonst nicht! — Aber dem Bettler gebt ein Almosen - gebt ihm von dem Reichtum, den Euch heute das blinde Glück zuwarf, hundert Louisdor.'

,Nun, in Wahrheit', fuhr der Chevalier zornig auf, ,Ihr versteht es, die Leute zu quälen, Signor Vertua! Ich sage Euch, nicht hundert, nicht funfzig - nicht zwanzig - nicht einen einzigen Louisdor erhaltet Ihr von mir. Rasend müßt ich sein, Euch auch nur im mindesten Vorschub zu leisten, damit Ihr Euer schändliches Gewerbe wieder von neuem beginnen könntet. Das Schicksal hat Euch niedergetreten in den Staub wie einen giftigen Wurm, und es wäre ruchlos, Euch wieder emporzurichten. Geht hin und verderbt, wie Ihr es verdient!'

Beide Hände vors Gesicht gedrückt, sank mit einem dumpfen Seufzer Vertua zusammen. Der Chevalier befahl den Bedienten, die Kassette in den Wagen hinabzubringen, und rief dann mit starker Stimme: ,Wann übergebt Ihr mir Euer Haus, Eure Effekten, Signor Vertua?'

Da raffte sich Vertua auf vom Boden und sprach mit fester Stimme: ,Jetzt gleich - in diesem Augenblick, Chevalier! kommt mit mir!'

,Gut', erwiderte der Chevalier, ,Ihr könnt mit mir fahren nach Eurem Hause, das Ihr dann am Morgen auf immer verlassen möget.'

Den ganzen Weg über sprach keiner, weder Vertua noch der Chevalier, ein einziges Wort. — Vor dem Hause in der Straße St. Honoré angekommen, zog Vertua die Schelle. Ein altes Mütterchen öffnete und rief, als sie Vertua gewahrte: ,0 Heiland der Welt, seid Ihr es endlich, Signor Vertua! Halb tot hat sich Angela geängstet Euerthalben!'

,Schweige', erwiderte Vertua, ,gebe der Himmel, daß Angela die unglückliche Glocke nicht gehört hat! Sie soll nicht wissen, daß ich gekommen bin.'

Und damit nahm er der ganz versteinerten Alten den Leuchter mit den brennenden Kerzen aus der Hand und leuchtete dem Chevalier vorauf ins Zimmer.

,Ich bin', sprach Vertua, ,auf alles gefaßt. Ihr haßt, Ihr verachtet mich, Chevalier! Ihr verderbt mich, Euch und andern zur Lust, aber Ihr kennt mich nicht. Vernehmt denn, daß ich ehemals ein Spieler war wie Ihr, daß mir das launenhafte Glück ebenso günstig war als Euch, daß ich halb Europa durchreiste, überall verweilte, wo hohes Spiel, die Hoffnung großen Gewinstes mich anlockte, daß sich das Gold in meiner Bank unaufhörlich häufte wie in der Eurigen. Ich hatte ein schönes treues Weib, die ich vernachlässigte, die elend war mitten im glänzendsten Reichtum. Da begab es sich, daß, als ich einmal in Genua meine Bank aufgeschlagen, ein junger Römer sein ganzes reiches Erbe an meine Bank verspielte. So wie ich heute Euch, bat er mich, ihm Geld zu leihen, um wenigstens nach Rom zurückreisen zu können. Ich schlug es ihm mit Hohngelächter ab, und er stieß mir in der wahnsinnigen Wut der Verzweiflung das Stilett, welches er bei sich trug, tief in die Brust. Mit Mühe gelang es den Ärzten, mich zu retten, aber mein Krankenlager war langwierig und schmerzhaft. Da pflegte mich mein Weib, tröstete mich, hielt mich aufrecht, wenn ich erliegen wollte der Qual, und mit der Genesung dämmerte ein Gefühl in mir auf und wurde mächtiger und mächtiger, das ich noch nie gekannt. Aller menschlichen Regung wird entfremdet der Spieler, so kam es, daß ich nicht wußte, was Liebe, treue Anhänglichkeit eines Weibes heißt. Tief in der Seele brannte es mir, was mein undankbares Herz gegen die Gattin verschuldet und welchem freveligen Beginnen ich sie geopfert. Wie quälende Geister der Rache erschienen mir alle die, deren Lebensglück, deren ganze Existenz ich mit verruchter Gleichgültigkeit gemordet, und ich hörte ihre dumpfen heisern Grabesstimmen, die mir vorwarfen alle Schuld, alle Verbrechen, deren Keim ich gepflanzt! Nur mein Weib vermochte den namenlosen Jammer, das Entsetzen zu bannen, das mich dann erfaßte! — Ein Gelübde tat ich, nie mehr eine Karte zu berühren. Ich zog mich zurück, ich riß mich los von den Banden, die mich festhielten, ich

widerstand den Lockungen meiner Croupiers, die mich und mein Glück nicht entbehren wollten. Ein kleines Landhaus bei Rom, das ich erstand, war der Ort, wohin ich, als ich vollkommen genesen, hinflüchtete mit meinem Weibe. Ach! nur ein einziges Jahr wurde mir eine Ruhe, ein Glück, eine Zufriedenheit zuteil, die ich nie geahnet! Mein Weib gebar mir eine Tochter und starb wenige Wochen darauf. Ich war in Verzweiflung, ich klagte den Himmel an und verwünschte dann wieder mich selbst, mein verruchtes Leben, das die ewige Macht rächte, da sie mir mein Weib nahm, das mich vom Verderben gerettet, das einzige Wesen, das mir Trost gab und Hoffnung. Wie den Verbrecher, der das Grauen der Einsamkeit fürchtet, trieb es mich fort von meinem Landhause hieher nach Paris. Angela blühte auf, das holde Ebenbild ihrer Mutter, an ihr hing mein ganzes Herz, für sie ließ ich es mir angelegen sein, ein bedeutendes Vermögen nicht nur zu erhalten, sondern zu vermehren. Es ist wahr, ich lieh Geld aus auf hohe Zinsen, schändliche Verleumdung ist es aber, wenn man mich des betrügerischen Wuchers anklagt. Und wer sind diese Ankläger? Leichtsinnige Leute, die mich rastlos quälen, bis ich ihnen Geld borge, das sie wie ein Ding ohne Wert verprassen, und dann außer sich geraten wollen, wenn ich das Geld, welches nicht mir, nein, meiner Tochter gehört, für deren Vermögensverwalter ich mich nur ansehe, mit unerbittlicher Strenge eintreibe. Nicht lange ist es her, als ich einen jungen Menschen der Schande, dem Verderben entriß, dadurch daß ich ihm eine bedeutende Summe vorstreckte. Nicht mit einer Silbe gedachte ich, da er, wie ich wußte, blutarm war, der Forderung, bis er eine sehr reiche Erbschaft gemacht. Da trat ich ihn an wegen der Schuld. — Glaubt Ihr wohl, Chevalier, daß der leichtsinnige Bösewicht, der mir seine Existenz zu verdanken hatte, die Schuld ableugnen wollte, daß er mich einen niederträchtigen Geizhals schalt, als er mir, durch die Gerichte dazu angehalten, die Schuld bezahlen mußte? — Ich könnte Euch mehr dergleichen Vorfälle erzählen, die mich hart gemacht haben und gefühllos da, wo mir der Leichtsinn, die Schlechtigkeit entgegentritt. Noch mehr! — ich könnte Euch sagen, daß ich schon manche bittre Träne trocknete, daß manches Gebet für mich und für meine Angela zum Himmel stieg, doch Ihr würdet das für falsche Prahlerei halten und ohnedem nichts darauf geben, da Ihr ein Spieler seid! — Ich glaubte, daß die ewige Macht gesühnt sei - es war nur Wahn! denn freigegeben wurd es dem Satan, mich zu verblenden auf entsetzlichere Weise als jemals. — Ich hörte von Euerm Glück, Chevalier! Jeden Tag vernahm ich, daß dieser, jener an Eurer Bank sich zum Bettler herabpontiert, da kam mir der Gedanke, daß ich bestimmt sei, mein Spielerglück, das mich noch niemals verlassen, gegen das Eure zu setzen, daß es in meine Hand gelegt sei, Eurem Treiben ein Ende zu machen, und dieser Gedanke, den nur ein seltsamer Wahnsinn erzeugen konnte, ließ mir fürder keine Ruhe, keine Rast. So geriet ich an Eure Bank, so verließ mich nicht eher meine entsetzliche Betörung, bis meine - meiner Angela Habe Euer war! — Es ist nun aus! — Ihr werdet doch erlauben, daß meine Tochter ihre Kleidungsstücke mit sich nehme?'

,Die Garderobe Eurer Tochter', erwiderte der Chevalier, ,geht mich nichts an. Auch könnt Ihr Betten und notwendiges Hausgerät mitnehmen. Was soll ich mit dem Rumpelzeuge? Doch seht Euch vor, daß nichts von einigem Wert mit unterlaufe, das mir zugefallen.'

Der alte Vertua starrte den Chevalier ein paar Sekunden sprachlos an, dann aber stürzte ein Tränenstrom aus seinen Augen, ganz vernichtet, ganz Jammer und Verzweiflung, sank er nieder vor dem Chevalier und schrie mit aufgehobenen Händen: ,Chevalier, habt Ihr noch menschliches Gefühl in Eurer Brust - seid barmherzig - barmherzig! — Nicht mich, meine Tochter, meine Angela, das unschuldige Engelskind stürzt Ihr ins Verderben! — oh, seid gegen diese barmherzig, leiht ihr, ihr, meiner Angela, den zwanzigsten Teil ihres Vermögens, das Ihr geraubt! — Oh, ich

weiß es, Ihr laßt Euch erflehen - o Angela, meine Tochter!'

Und damit schluchzte - jammerte - stöhnte der Alte und rief mit herzzerschneidendem Ton den Namen seines Kindes.

,Die abgeschmackte Theaterszene fängt an mich zu langweilen', sprach der Chevalier gleichgültig und verdrießlich, aber in demselben Augenblick sprang die Tür auf, und hinein stürzte ein Mädchen im weißen Nachtgewande, mit aufgelösten Haaren, den Tod im Antlitz, stürzte hin auf den alten Vertua, hob ihn auf, faßte ihn in die Arme und rief: ,0 mein Vater - mein Vater - ich hörte - ich weiß alles - — Habt Ihr denn alles verloren? alles? — Habt Ihr nicht Eure Angela? Was bedarf es Geld und Gut, wird Angela Euch nicht nähren, pflegen? — O Vater, erniedrigt Euch nicht länger vor diesem verächtlichen Unmenschen. — Nicht wir sind es, er ist es, der arm und elend bleibt im vollen schnöden Reichtum, denn verlassen in grauenvoller trostloser Einsamkeit steht er da, kein hebend Herz gibt es auf der weiten Erde, das sich anschmiegt an seine Brust, das sich ihm aufschließt, wenn er verzweifeln will an dem Leben, an sich selbst! — Kommt, mein Vater - verhaßt dies Haus mit mir, kommt, eilen wir hinweg, damit der entsetzliche Mensch sich nicht weide an Eurem Jammer!'

Vertua sank halb ohnmächtig in einen Lehnsessel, Angela kniete vor ihm nieder, faßte seine Hände, küßte, streichelte sie, zählte mit kindlicher Geschwätzigkeit alle die Talente, alle die Kenntnisse auf, die ihr zu Gebote standen und womit sie den Vater reichlich ernähren wolle, beschwor ihn unter heißen Tränen, doch nur ja allem Gram zu entsagen, da nun das Leben, wenn sie nicht zur Lust, nein, für ihren Vater sticke, nähe, singe, Guitarre spiele, erst rechten Wert für sie haben werde.

Wer, welcher verstockte Sünder hätte gleichgültig bleiben können bei dem Anblick der in voller Himmelsschönheit strahlenden Angela, wie sie mit süßer holder Stimme den

alten Vater tröstete, wie aus dem tiefsten Herzen die reinste Liebe ausströmte und die kindlichste Tugend.

Noch anders ging es dem Chevalier. Eine ganze Hölle voll Qual und Gewissensangst wurde wach in seinem Innern. Angela erschien ihm der strafende Engel Gottes, vor dessen Glanz die Nebelschleier freveliger Betörtheit dahinschwanden, so daß er mit Entsetzen sein elendvolles Ich in widriger Nacktheit erblickte.

Und mitten durch diese Hölle, deren Flammen in des Chevaliers Innerm wüteten, fuhr ein göttlich reiner Strahl, dessen Leuchten die süßeste Wonne war und die Seligkeit des Himmels, aber bei dem Leuchten dieses Strahls wurde nur entsetzlicher die namenlose Qual!

Der Chevalier hatte noch nie geliebt. Als er Angela erblickte, das war der Moment, in dem er von der heftigsten Leidenschaft und zugleich von dem vernichtenden Schmerz gänzlicher Hoffnungslosigkeit erfaßt werden sollte. Denn hoffen konnte der Mann wohl nicht, der dem reinen Himmelskinde, der holden Angela, so erschien wie der Chevalier.

Der Chevalier wollte sprechen, er vermochte es nicht, es war, als lähme ein Krampf seine Zunge. Endlich nahm er sich mit Gewalt zusammen und stotterte mit bebender Stimme: ,Signor Vertua - hört mich! — Ich habe nichts von Euch gewonnen, gar nichts - da steht meine Kassette - die ist Euer - nein! — ich muß Euch noch mehr zahlen - ich bin Euer Schuldner -nehmt -nehmt -'

,0 meine Tochter', rief Vertua, aber Angela erhob sich, trat hin vor den Chevalier, strahlte ihn an mit stolzem Blick, sprach ernst und gefaßt: ,Chevalier, erfahrt, daß es Höheres gibt als Geld und Gut, Gesinnungen, die Euch fremd sind, die uns, indem sie unsere Seele mit dem Trost des Himmels erfüllen, Euer Geschenk, Eure Gnade mit Verachtung zurückweisen lassen! — Behaltet den Mammon, auf dem der Fluch lastet, der Euch verfolgt, den herzlosen verworfenen Spieler!'

,Ja!' — rief der Chevalier ganz außer sich mit wildem

Blick, mit entsetzlicher Stimme, ,ja verflucht - verflucht will ich sein, hinabgeschleudert in die tiefste Hölle, wenn jemals wieder diese Hand eine Karte berührt! — Und wenn Ihr mich dann von Euch stoßt, Angela! so seid Ihr es, die rettungsloses Verderben über mich bringt -oh, Ihr wißt nicht - Ihr versteht mich nicht -wahnsinnig müßt Ihr mich nennen — aber Ihr werdet es fühlen, alles wissen, wenn ich vor Euch liege mit zerschmettertem Gehirn - Angela! Tod oder Leben gilt es! — Lebt wohl!'

Damit stürzte der Chevalier fort in voller Verzweiflung. Vertua durchblickte ihn ganz, er wußte, was in ihm vorgegangen, und suchte der holden Angela begreiflich zu machen, daß gewisse Verhältnisse eintreten könnten, die die Notwendigkeit herbeiführen müßten, des Chevaliers Geschenk anzunehmen. Angela entsetzte sich, den Vater zu verstehen. Sie sah nicht ein, wie es möglich sein könnte, dem Chevalier jemals anders als mit Verachtung zu begegnen. Das Verhängnis, welches sich oft aus der tiefsten Tiefe des menschlichen Herzens, ihm selbst unbewußt, gestaltet, ließ das nicht Gedachte, das nicht Geahndete geschehen.

Dem Chevalier war es, als sei er plötzlich aus einem fürchterlichen Traum erwacht, er erblickte sich nun am Rande des Höllenabgrundes und streckte vergebens die Arme aus nach der glänzenden Lichtgestalt, die ihm erschienen, nicht ihn zu retten - nein! — ihn zu mahnen an seine Verdammnis.

Zum Erstaunen von ganz Paris verschwand die Bank des Chevalier Menars aus dem Spielhause, man sah ihn selbst nicht mehr, und so kam es, daß sich die verschiedensten abenteuerlichsten Gerüchte verbreiteten, von denen eins lügenhafter war als das andere. Der Chevalier vermied alle Gesellschaft, seine Liebe sprach sich aus in dem tiefsten unverwindlichsten Gram. Da geschah es, daß ihm in den einsamen finstern Gängen des Gartens von Malmaison plötzlich der alte Vertua in den Weg trat mit seiner Tochter.

Angela, welche geglaubt, den Chevalier nicht anders an-

blicken zu können als mit Abscheu und Verachtung, fühlte sich auf seltsame Weise bewegt, als sie den Chevalier vor sich sah, totenbleich, ganz verstört, in scheuer Ehrfurcht kaum sich ermutigend, die Augen aufzuschlagen. Sie wußte recht gut, daß der Chevalier seit jener verhängnisvollen Nacht das Spiel ganz aufgegeben, daß er seine ganze Lebensweise geändert. Sie, sie allein hatte dies alles bewirkt, sie hatte den Chevalier gerettet aus dem Verderben, konnte etwas wohl mehr der Eitelkeit des Weibes schmeicheln?

So geschah es, daß, als Vertua mit dem Chevalier die gewöhnlichen Höflichkeitsbezeugungen gewechselt, Angela mit dem Ton des sanften wohltuenden Mitleids fragte: ,Was ist Euch, Chevalier Menars, Ihr seht krank, verstört aus? In Wahrheit, Ihr solltet Euch dem Arzt vertrauen.'

Man kann denken, daß Angelas Worte den Chevalier mit tröstender Hoffnung durchstrahlten. In dem Moment war er nicht mehr derselbe. Er erhob sein Haupt, er vermochte jene aus dem tiefsten Gemüt hervorquellende Sprache zu sprechen, die ihm sonst alle Herzen erschloß. Vertua erinnerte ihn daran, das Haus, das er gewonnen, in Besitz zu nehmen.

,Ja', rief der Chevalier begeistert, ,ja, Signor Vertua, das will ich! — Morgen komme ich zu Euch, aber erlaubt, daß wir über die Bedingungen uns recht sorglich beraten, und sollte das auch monatelang dauern.'

,Mag das geschehen, Chevalier', erwiderte Vertua lächelnd, ,mich dünkt, es könnte mit der Zeit dabei allerlei zur Sprache kommen, woran wir zur Zeit noch nicht denken mögen.' — Es konnte nicht fehlen, daß der Chevalier, im Innern getröstet, von neuem auflebte in aller Liebenswürdigkeit, wie sie ihm sonst eigen, ehe ihn die wirre, verderbliche Leidenschaft fortriß. Immer häufiger wurden seine Besuche bei dem alten Signor Vertua, immer geneigter wurde Angela dem, dessen rettender Schutzgeist sie gewesen, bis sie endlich glaubte, ihn recht mit ganzem Herzen zu lieben, und ihm ihre Hand zu geben versprach, zur großen Freude des alten Vertua, der nun erst die Sache wegen seiner Habe,

die er an den Chevalier verloren, als völlig ausgeglichen ansah.

Angela, des Chevalier Menars glückliche Braut, saß eines Tages, in allerlei Gedanken von Liebeswonne und Seligkeit, wie sie wohl Bräute zu haben pflegen, vertieft, am Fenster. Da zog unter lustigem Trompetenschall ein Jägerregiment vorüber, bestimmt zum Feldzug nach Spanien. Angela betrachtete mit Teilnahme die Leute, die dem Tode geweiht waren in dem bösen Kriege, da schaute ein blutjunger Mensch, indem er das Pferd rasch zur Seite wandte, herauf zu Angela, und ohnmächtig sank sie zurück in den Sessel.

Ach, niemand anders war der Jäger, der dem blutigen Tod entgegenzog, als der junge Duvernet, der Sohn des Nachbars, mit dem sie aufgewachsen, der beinahe täglich in dem Hause gewesen und der erst ausgeblieben, seitdem der Chevalier sich eingefunden.

In dem vorwurfsschweren Blick des Jünglings, der bittre Tod selbst lag in ihm, erkannte Angela nun erst, nicht allein, wie unaussprechlich er sie geliebt - nein, wie grenzenlos sie selbst ihn liebe, ohne sich dessen bewußt zu sein, nur betört, verblendet von dem Glanze, den der Chevalier immer mehr um sich verbreitet. Nun erst verstand sie des Jünglings bange Seufzer, seine stillen anspruchslosen Bewerbungen, nun erst verstand sie ihr eignes befangenes Herz, wußte sie, was ihre unruhige Brust bewegt, wenn Duvernet kam, wenn sie seine Stimme hörte.

,Es ist zu spät - er ist für mich verloren!' — so sprach es in Angelas Innerm. Sie hatte den Mut, das trostlose Gefühl, das ihr Inneres zerreißen wollte, niederzukämpfen, und ebendeshalb, weil sie den Mut dazu hatte, gelang es ihr auch.

Daß irgend etwas Verstörendes vorgegangen sein müsse, konnte desungeachtet dem Scharfblick des Chevaliers nicht entgehen, er dachte indessen zart genug, ein Geheimnis nicht zu enträtseln, das Angela ihm verbergen zu müssen glaubte, sondern begnügte sich damit, um jedem bedrohlichen

Feinde alle Macht zu nehmen, die Hochzeit zu beschleunigen, deren Feier er mit feinem Takt, mit tiefem Sinn für Lage und Stimmung der holden Braut einzurichten wußte, so daß diese schon deshalb aufs neue die hohe Liebenswürdigkeit des Gatten anerkannte.

Der Chevalier betrug sich gegen Angela mit der Aufmerksamkeit für den kleinsten ihrer Wünsche, mit der ungeheuchelten Hochschätzung, wie sie aus der reinsten Liebe entspringt, und so mußte Duvernets Andenken in ihrer Seele bald ganz und gar erlöschen. Der erste Wolkenschatten, der in ihr helles Leben trat, war die Krankheit und der Tod des alten Vertua.

Seit jener Nacht, als er sein ganzes Vermögen an des Chevaliers Bank verlor, hatte er nicht wieder eine Karte berührt, aber in den letzten Augenblicken des Lebens schien das Spiel seine Seele zu erfüllen ganz und gar. Während der Priester, der gekommen, den Trost der Kirche ihm zu geben im Dahinscheiden, von geistlichen Dingen zu ihm sprach, lag er da mit geschlossenen Augen, murmelte zwischen den Zähnen: ,perd - gagne' — machte mit den im Todeskampf zitternden Händen die Bewegungen des Taillierens, des Ziehens der Karten. Vergebens beugte Angela, der Chevalier sich über ihn her, rief ihn mit den zärtlichsten Namen, er schien beide nicht mehr zu kennen, nicht mehr zu gewahren. Mit dem innern Seufzer ,gagne' gab er den Geist auf.

In dem tiefsten Schmerz konnte sich Angela eines unheimlichen Grauens über die Art, wie der Alte dahinschied, nicht erwehren. Das Bild jener entsetzlichen Nacht, in der sie den Chevalier zum erstenmal als den abgehärtetsten, verruchtesten Spieler erblickte, trat wieder lebhaft ihr vor Augen und der fürchterliche Gedanke in ihre Seele, daß der Chevalier die Maske des Engels abwerfen und, in ursprünglicher Teufelsgestalt sie verhöhnend, sein altes Leben wieder beginnen könne.

Nur zu wahr sollte bald Angelas schreckliche Ahnung werden.

Solche Schauer auch der Chevalier bei dem Dahinscheiden des alten Francesco Vertua, der, den Trost der Kirche verschmähend, in der letzten Todesnot nicht ablassen konnte von dem Gedanken an ein früheres sündhaftes Leben, solche Schauer er auch dabei empfand, so war doch dadurch, selbst wußte er nicht, wie das geschah, das Spiel lebhafter als jemals wieder ihm in den Sinn gekommen, so daß er allnächtlich im Traume an der Bank saß und neue Reichtümer aufhäufte.

In dem Grade, als Angela, von jenem Andenken, wie der Chevalier ihr sonst erschienen, erfaßt, befangener, als es ihr unmöglich wurde, jenes liebevolle zutrauliche Wesen, mit dem sie ihm sonst begegnet, beizubehalten, in ebendem Grade kam Mißtrauen in des Chevaliers Seele gegen Angela, deren Befangenheit er jenem Geheimnis zuschrieb, das einst Angelas Gemütsruhe verstörte und das ihm unenthüllt geblieben. Dies Mißtrauen gebar Mißbehagen und Unmut, den er ausließ in allerlei Äußerungen, die Angela verletzten. In seltsamer psychischer Wechselwirkung frischte sich in Angelas Innerm das Andenken auf an den unglücklichen Duvernet und mit ihm das trostlose Gefühl der auf ewig zerstörten Liebe, die, die schönste Blüte, aufgekeimt im jugendlichen Herzen. Immer höher stieg die Verstimmung der Ehegatten, bis es so weit kam, daß der Chevalier sein ganzes einfaches Leben langweilig, abgeschmackt fand und sich mit aller Gewalt hinaussehnte in die Welt.

Des Chevaliers Unstern fing an zu walten. Was inneres Mißbehagen, tiefer Unmut begannen, vollendete ein verruchter Mensch, der sonst Croupier an des Chevaliers Bank gewesen und der es durch allerlei arglistige Reden dahin brachte, daß der Chevalier sein Beginnen kindisch und lächerlich fand. Er konnte nicht begreifen, wie er eines Weibes halber eine Welt verlassen können, die ihm allein des Lebens wert schien.

Nicht lange dauerte es, so glänzte die reiche Goldbank des Chevalier Menars prächtiger als jemals. Das Glück

hatte ihn nicht verlassen, Schlachtopfer auf Schlachtopfer fielen, und Reichtümer wurden aufgehäuft. Aber zerstört, auf furchtbare Weise zerstört war Angelas Glück, das einem kurzen schönen Traum zu vergleichen. Der Chevalier behandelte sie mit Gleichgültigkeit, ja mit Verachtung! Oft sah sie ihn wochen-, monatelang gar nicht, ein alter Hausverweser besorgte die häuslichen Geschäfte, die Dienerschaft wechselte nach der Laune des Chevaliers, so daß Angela, selbst im eignen Hause fremd, nirgends Trost fand. Oft wenn sie in schlaflosen Nächten vernahm, wie des Chevaliers Wagen vor dem Hause hielt, wie die schwere Kassette heraufgeschleppt wurde, wie der Chevalier mit einsilbigen rauhen Worten um sich warf und dann die Türe des entfernten Zimmers klirrend zugeschlagen wurde, dann brach ein Strom bittrer Tränen aus ihren Augen, im tiefsten herzzerschneidendsten Jammer rief sie hundertmal den Namen Duvernet, flehte, daß die ewige Macht enden möge ihr elendes gramverstörtes Leben!

Es geschah, daß ein Jüngling von gutem Hause sich, nachdem er sein ganzes Vermögen an der Bank des Chevaliers verloren, im Spielhause, und zwar in demselben Zimmer, wo des Chevaliers Bank etabliert war, eine Kugel durch den Kopf jagte, so daß Blut und Hirn die Spieler bespritzte, die entsetzt auseinanderfuhren. Nur der Chevalier blieb gleichgültig und fragte, als alles sich entfernen wollte, ob es Regel und Sitte wäre, eines Narren halber, der keine Konduite im Spiel besessen, die Bank vor der bestimmten Stunde zu verlassen.

Der Vorfall machte großes Aufsehn. Die versuchtesten abgehärtetsten Spieler waren indigniert von des Chevaliers beispiellosem Betragen. Alles regte sich wider ihn. Die Polizei hob die Bank des Chevaliers auf. Man beschuldigte ihn überdem des falschen Spiels, sein unerhörtes Glück sprach für die Wahrheit der Anklage. Er konnte sich nicht reinigen, die Geldstrafe, die er erlegen mußte, raubte ihm einen bedeutenden Teil seines Reichtums. Er sah sich beschimpft,

verachtet - da kehrte er zurück in die Arme seines Weibes, die er mißhandelt und die ihn, den Reuigen, gern aufnahm, da das Andenken an den Vater, der auch noch zurückkam von dem wirren Spielerleben, ihr einen Schimmer von Hoffnung aufdämmern ließ, daß des Chevaliers Änderung nun, da er älter worden, wirklich von Bestand sein könne.

Der Chevalier verließ mit seiner Gattin Paris und begab sich nach Genua, Angelas Geburtsort.

Hier lebte der Chevalier in der ersten Zeit ziemlich zurückgezogen. Vergebens blieb es aber, jenes Verhältnis der ruhigen Häuslichkeit mit Angela, das sein böser Dämon zerstört hatte, wiederherzustellen. Nicht lange dauerte es, so erwachte sein innerer Unmut und trieb ihn fort aus dem Hause in rastloser Unstetigkeit. Sein böser Ruf war ihm gefolgt von Paris nach Genua, er durfte es gar nicht wagen, eine Bank zu etablieren, ungeachtet es ihn dazu hintrieb mit unwiderstehlicher Gewalt.

Zu der Zeit hielt ein französischer Obrister, durch bedeutende Wunden zum Kriegsdienst untauglich geworden, die reichste Bank in Genua. Mit Neid und tiefem Haß im Herzen trat der Chevalier an diese Bank, gedenkend, daß sein gewohntes Glück ihm bald beistehen werde, den Nebenbuhler zu verderben. Der Obrist rief dem Chevalier mit einem lustigen Humor, der ihm sonst gar nicht eigen, zu, daß nun erst das Spiel was wert, da der Chevalier Menars mit seinem Glück hinangetreten, denn jetzt gelte es den Kampf, der allein das Spiel interessant mache.

In der Tat schlugen dem Chevalier in den ersten Taillen die Karten zu wie sonst. Als er aber, vertrauend auf sein unbezwingbares Glück, endlich ,Va banque' rief, hatte er mit einem Schlage eine bedeutende Summe verloren.

Der Obrist, sonst sich im Glück und Unglück gleich, strich das Geld ein mit allen lebhaften Zeichen der äußersten Freude. Von diesem Augenblick an hatte sich das Glück von dem Chevalier abgewendet ganz und gar.

Er spielte jede Nacht, verlor jede Nacht, bis seine Habe

geschmolzen war auf die Summe von ein paar tausend Dukaten, die er noch in Papieren bewahrte.

Den ganzen Tag war der Chevalier umhergelaufen, hatte jene Papiere in bares Geld umgesetzt und kam erst am späten Abend nach Hause. Mit Einbruch der Nacht wollte er, die letzten Goldstücke in der Tasche, fort, da trat ihm Angela, welche wohl ahnte, was vorging, in den Weg, warf sich, indem ein Tränenstrom aus ihren Augen stürzte, ihm zu Füßen, beschwor ihn bei der Jungfrau und allen Heiligen, abzulassen von bösem Beginnen, sie nicht in Not und Elend zu stürzen.

Der Chevalier hob sie auf, drückte sie mit schmerzlicher Inbrunst an seine Brust und sprach mit dumpfer Stimme: ,Angela, meine süße liebe Angela! es ist nun einmal nicht anders, ich muß tun, was ich nicht zu lassen vermag. Aber morgen - morgen ist all deine Sorge aus, denn bei dem ewigen Verhängnis, das über uns waltet, schwör ich's, ich spiele heut zum letzten Mal! — Sei ruhig, mein holdes Kind - schlafe - träume von glückseligen Tagen, von einem bessern Leben, dem du entgegengehst, das wird mir Glück bringen!'

Damit küßte der Chevalier sein Weib und rannte unaufhaltsam von dannen.

Zwei Taillen, und der Chevalier hatte alles - alles verloren!

Regungslos blieb er stehen neben dem Obristen und starrte in dumpfer Sinnlosigkeit hin auf den Spieltisch.

,Ihr pontiert nicht mehr, Chevalier?' sprach der Obrist, indem er die Karten melierte zur neuen Taille. ,Ich habe alles verloren', erwiderte der Chevalier mit gewaltsam erzwungener Ruhe.

,Habt Ihr denn gar nichts mehr?' fragte der Obrist bei der nächsten Taille.

,Ich bin ein Bettler!' rief der Chevalier mit vor Wut und Schmerz zitternder Stimme, immerfort hinstarrend auf den Spieltisch und nicht bemerkend, daß die Spieler immer mehr Vorteil ersiegten über den Bankier.

Der Obrist spielte ruhig weiter.

,Ihr habt ja aber ein schönes Weib', sprach der Obrist leise, ohne den Chevalier anzusehen, die Karten melierend zur folgenden Taille.

,Was wollt Ihr damit sagen?' fuhr der Chevalier zornig heraus. Der Obrist zog ab, ohne dem Chevalier zu antworten.

,Zehntausend Dukaten oder -Angela', sprach der Obrist, halb umgewendet, indem er die Karten kupieren ließ.

,Ihr seid rasend!' rief der Chevalier, der nun aber, mehr zu sich selbst gekommen, zu gewahren begann, daß der Obrist fortwährend verlor und verlor.

,Zwanzigtausend Dukaten gegen Angela', sprach der Obrist leise, indem er mit dem Melieren der Karten einen Augenblick innehielt.

Der Chevalier schwieg, der Obrist spielte weiter, und beinahe alle Karten schlugen den Spielern zu.

,Es gilt', sprach der Chevalier dem Obristen ins Ohr, als die neue Taille begann, und schob die Dame auf den Spieltisch.

Im nächsten Abzug hatte die Dame verloren.

Zähneknirschend zog sich der Chevalier zurück und lehnte, Verzweiflung und Tod im bleichen Antlitz, sich ins Fenster.

Das Spiel war geendet, mit einem höhnischen: ,Nun, wie wird's weiter?' trat der Obrist hin vor den Chevalier.

,1-Ja', rief der Chevalier, ganz außer sich, ,Ihr habt mich zum Bettler gemacht, aber wahnsinnig müßt Ihr sein, Euch einzubilden, daß Ihr mein Weib gewinnen konntet. Sind wir auf den Inseln, ist mein Weib eine Sklavin, schnöder Willkür des verruchten Mannes preisgegeben, daß er sie zu verhandeln, zu verspielen vermag? Aber es ist wahr, zwanzigtausend Dukaten mußtet Ihr zahlen, wenn die Dame gewann, und so habe ich das Recht jedes Einspruchs verspielt, wenn mein Weib mich verlassen und Euch folgen will. — Kommt mit mir und verzweifelt, wenn mein Weib mit Abscheu den zurückstößt, dem sie folgen soll als ehrlose Mätresse!'

,Verzweifelt selbst', erwiderte der Obrist hohnlachend, ,verzweifelt selbst, Chevalier, wenn Angela Euch - Euch, den verruchten Sünder, der sie elend machte, verabscheuen und mit Wonne und Entzücken mir in die Arme stürzen wird - verzweifelt selbst, wenn Ihr erfahrt, daß der Segen der Kirche uns verbunden, daß das Glück unsere schönsten Wünsche krönt! —Ihr nennt mich wahnsinnig! —Ho, ho! nur das Recht des Einspruchs wollt ich gewinnen, Euer Weib war mir gewiß! — Ho, ho, Chevalier, vernehmt, daß mich, mich Euer Weib, ich weiß es, unaussprechlich liebt - vernehmt, daß ich jener Duvernet bin, des Nachbars Sohn, mit Angela erzogen, in heißer Liebe mit ihr verbunden, den Ihr mit Euern Teufeiskünsten vertriebt! — Ach! erst als ich fort mußte in den Krieg, erkannte Angela, was ich ihr war, ich weiß alles. Es war zu spät! — Der finstre Geist gab mir ein, im Spiel könnte ich Euch verderben, deshalb ergab ich mich dem Spiel - folgte Euch nach Genua - es ist mir gelungen! — Fort nun zu Euerm Weibe!'

Vernichtet stand der Chevalier, von tausend glühenden Blitzen getroffen. Offen lag vor ihm jenes verhängnisvolle Geheimnis, nun erst sah er das volle Maß des Unglücks ein, das er über die arme Angela gebracht.

,Angela, mein Weib, mag entscheiden', sprach er mit dumpfer Stimme und folgte dem Obristen, welcher fortstürmte.

Als, ins Haus gekommen, der Obrist die Klinke von Angelas Zimmer erfaßte, drängte der Chevalier ihn zurück und sprach: ,Mein Weib schläft, wollt Ihr sie aufstören aus süßem Schlafe?' — ,Hm', erwiderte der Obrist, ,hat Angela wohl jemals gelegen in süßem Schlaf, seit ihr von Euch namenloses Elend bereitet wurde?'

Der Obrist wollte ins Zimmer, da stürzte der Chevalier ihm zu Füßen und schrie in heller Verzweiflung: ,Seid barmherzig! — Laßt mir, den Ihr zum Bettler gemacht, laßt mir mein Weib!'

,So lag der alte Vertua vor Euch, dem gefühllosen Böse-

wicht, und vermochte Euer steinhartes Herz nicht zu erweichen, dafür die Rache des Himmels über Euch!'

So sprach der Obrist und schritt aufs neue nach Angelas Zimmer!

Der Chevalier sprang nach der Tür, riß sie auf, stürzte hin zu dem Bette, in dem die Gattin lag, zog die Vorhänge auseinander, rief: ,Angela, Angela!' — beugte sich hin über sie, faßte ihre Hand - bebte wie im plötzlichen Todeskrampf zusammen, rief dann mit fürchterlicher Stimme: ,Schaut hin! — den Leichnam meines Weibes habt Ihr gewonnen!'

Entsetzt trat der Obrist an das Bette - keine Spur des Lebens -Angela war tot - tot.

Da ballte der Obrist die Faust gen Himmel, heulte dumpf auf, stürzte fort. — Man hat nie mehr etwas von ihm vernommen!"



So hatte der Fremde geendet und verließ nun schnell die Bank, ehe der tief erschütterte Baron etwas zu sagen vermochte.

Wenige Tage darauf fand man den Fremden, vom Nervenschlag getroffen, in seinem Zimmer. Er blieb sprachlos bis zu seinem Tode, der nach wenigen Stunden erfolgte, seine Papiere zeigten, daß er, der sich Baudasson schlechthin nannte, niemand anders gewesen als eben jener unglückliche Chevalier Menars.

Der Baron erkannte die Warnung des Himmels, der ihm, als er eben sich dem Abgrund näherte, den Chevalier Menars in den Weg führte zu seiner Rettung, und gelobte, allen Verlockungen des täuschenden Spielerglücks zu widerstehen. Bis jetzt hat er getreulich Wort gehalten.



"Sollte", sprach Lothar, als Theodor geendet, "sollte man nicht glauben, du verstündest dich recht ordentlich auf das Spiel, wärst selbst wohl gar ein tüchtiger Spieler, dem nur zuweilen die Moral in den Nacken schlägt, und doch weiß ich, daß du keine Karte anrührst." — "So ist es", erwiderte Theodor, "und dennoch half mir bei der Erzählung ein merkwürdiges Ereignis aus meinem eignen Leben." — "Den besten", nahm Ottmar das Wort, "den besten Nachklang des Erzählten könntest du daher wohl tönen lassen, wenn du uns dies Ereignis noch mitteiltest."

"Ihr wißt", begann Theodor, "daß ich mich, um meine Studien zu vollenden, eine Zeitlang in G. bei einem alten Onkel aufhielt. Ein Freund dieses Onkels fand, der Ungleichheit unserer Jahre unerachtet, großes Wohlgefallen an mir, und zwar wohl vorzüglich deshalb, weil mich damals eine stets frohe, oft bis zum Mutwillen steigende Laune beseelte. Der Mann war in der Tat eine der sonderbarsten Personen, die mir jemals aufgestoßen sind. Kleinlich in allen Angelegenheiten des Lebens, mürrisch, verdrießlich, mit großem Hange zum Geiz, war er doch im höchsten Grade empfänglich für jeden Scherz, für jede Ironie. Um mich eines französischen Ausdrucks zu bedienen - der Mann war durchaus amusable, ohne im mindesten amusant zu sein. Dabei trieb er, hoch an Jahren, eine Eitelkeit, die sich vorzüglich in seiner nach den Bedingnissen der letzten Mode sorglich gewählten Kleidung aussprach, beinahe bis zum Lächerlichen, und ebendiese Lächerlichkeit traf ihn, wenn man sah, wie er im Schweiß seines Angesichts jedem Genuß nachjagte und mit komischer Gier so viel davon auf einmal einzuschnappen strebte als nur möglich. Zu lebhaft gehen mir in diesem Augenblick zwei drollige Züge dieser Eitelkeit, dieser Genußgier auf, als daß ich sie euch nicht mitteilen sollte. — Denkt euch, daß mein Mann, als er während seines Aufenthalts an einem Gebirgsort von einer Gesellschaft, in der sich freilich auch Damen befanden, aufgefordert wurde, eine Fußwanderung zu machen, um die nahe liegenden Wasserfälle zu schauen, sich in einen noch gar nicht getragenen seidenen Rock warf mit schönen blinkenden Stahlknöpfen, daß er weißseidene Strümpfe anzog, Schuhe mit

Stahlschnallen und die schönsten Ringe an die Finger steckte. In dem dicksten Tannenwalde, der zu passieren, wurde die Gesellschaft von einem heftigen Gewitter überfallen. Der Regen strömte herab, die Waldbäche schwollen an und brausten in die Wege hinein, und ihr möget euch wohl vorstellen, in welchen Zustand mein armer Freund während weniger Augenblicke geraten war. — Es begab sich ferner, daß zur Nachtzeit der Blitz in den Turm der Dominikanerkirche zu G. einschlug. Mein Freund war entzückt über den herrlichen Anblick der Feuersäule, die sich erhob in den schwarzen Himmel und alles ringsumher magisch beleuchtete, fand aber bald, daß das Tableau, erst von einem gewissen Hügel vor der Stadt angeschaut, die gehörige malerische Wirkung tun müsse. Alsbald kleidete er sich so schnell an, als es bei der nie zu verleugnenden Sorglichkeit geschehen konnte, vergaß nicht eine Tüte Makronen und ein Fläschchen Wein in die Tasche zu stecken, nahm einen schönen Blumenstrauß in die Hand, einen leichten Feldstuhl aber unter den Arm und wanderte getrost heraus vor das Tor, auf den Hügel. Da setzte er sich hin und betrachtete, indem er bald an den Blumen roch, bald ein Makrönchen naschte, bald ein Gläschen Wein nippte, in voller Gemütlichkeit das malerische Schauspiel. Überhaupt war dieser Mann -"

"Halt, halt", rief Lothar, "du wolltest uns das Ereignis erzählen, das dir bei deinem ,Spielerglück' half, und kommst nicht los von einem Mann, der ebenso possierlich gewesen sein muß als widerwärtig."

"Du kannst", erwiderte Theodor, "du kannst es mir nicht verdenken, daß ich bei einer Figur verweilte, die mir eben so lebendig entgegentrat. — Doch zur Sache! — Der Mann, den ich euch geschildert, forderte mich auf, ihn auf einer Reise nach einem Badeort zu begleiten, und unerachtet ich wohl einsah, daß ich seinen Besänftiger, Aufheiterer, Maitre de plaisir spielen sollte, war es mir doch gelegen, die anziehende Reise durch das Gebirge zu machen ohne allen

Aufwand an Kosten. — An dem Badeort fand damals ein sehr bedeutendes Spiel statt, da die Bank mehrere tausend Friedrichsdor betrug. Mein Mann betrachtete mit gierigem Schmunzeln das aufgehäufte Gold, ging auf und ab im Saal, umkreiste dann wieder näher und näher den Spieltisch, griff in die Tasche, hielt einen Friedrichsdor zwischen den Fingern, steckte ihn wieder ein - genug, ihn gelüstete es nach dem Golde. Gar zu gern hätte er sich ein Sümmchen erpontiert von dem aufgeschütteten Reichtum, und doch mißtraute er seinem Glücksstern. Endlich machte er dem drolligen Kampf zwischen Wollen und Fürchten, der ihm Schweißtropfen auspreßte, dadurch ein Ende, daß er mich aufforderte, für ihn zu pontieren, und mir zu dem Behuf fünf - sechs Stück Friedrichsdor in die Hand steckte. Erst dann, als er mich versichert, daß er meinem Glück durchaus nicht vertrauen, sondern das Gold, das er mir gegeben, für verloren achten wolle, verstand ich mich zum Pontieren. Was ich gar nicht gedacht, das geschah. Mir, dem ungeübten, unerfahrnen Spieler, war das Glück günstig, ich gewann in kurzer Zeit für meinen Freund etwa dreißig Stück Friedrichsdor, die er sehr vergnügt einsteckte. Am andern Abend bat er mich wiederum, für ihn zu pontieren. Bis zur heutigen Stunde weiß ich aber nicht, wie es mir herausfuhr, daß ich nun mein Glück für mich selbst versuchen wolle. Nicht in den Sinn war es mir gekommen, zu spielen, vielmehr stand ich eben im Begriff, aus dem Saal ins Freie zu laufen, als mein Freund mich anging mit seiner Bitte. Erst, als ich erklärt, heute für mich selbst zu pontieren, trat ich auch entschlossen an die Bank und holte aus der engen Tasche meines Gilets die beiden einzigen Friedrichsdor hervor, die ich besaß. War mir das Glück gestern günstig, so schien es heute, als sei ein mächtiger Geist mit mir im Bunde, der dem Zufall gebiete. Ich mochte Karten nehmen, pontieren, biegen, wie ich wollte, kein Blatt schlug mir um, kurz - mir geschah ganz dasselbe, was ich von dem Baron Siegfried gleich im Anfange meines ,Spielerglücks' erzählt. — Mir taumelten die Sinne; oft, wenn mir neues Gold zuströmte, war es mir, als läg ich im Traum und würde nun gleich, indem ich das Gold einzustecken gewähnt, erwachen. — Mit dem Schlage zwei Uhr wurde, wie gewöhnlich, das Spiel geendet. — In dem Augenblick, als ich den Saal verlassen wollte, faßte mich ein alter Offizier bei der Schulter und sprach, mich mit ernstem strengen Blick durchbohrend: ,Junger Mann! verstanden Sie es, so hätten Sie die Bank gesprengt. Aber wenn Sie das verstehen werden, wird Sie auch wohl der Teufel holen wie alle übrigen.' Damit verließ er mich, ohne abzuwarten, was ich wohl darauf erwidern werde. Der Morgen war schon heraufgedämmert, als ich auf mein Zimmer kam und aus allen Taschen das Gold ausschüttete auf dem Tisch. — Denkt euch die Empfindung eines Jünglings, der in voller Abhängigkeit auf ein kärgliches Taschengeld beschränkt ist, das er zu seinem Vergnügen verwenden darf, und der plötzlich wie durch einen Zauberschlag sich in dem Besitz einer Summe befindet, die bedeutend genug ist, um wenigstens von ihm in dem Augenblick für einen großen Reichtum gehalten zu werden! — Indem ich aber nun den Goldhaufen anschaute, wurde plötzlich mein ganzes Gemüt von einer Bangigkeit, von einer seltsamen Angst erfaßt, die mir kalten Todesschweiß auspreßte. Die Worte des alten Offiziers gingen mir nun erst auf in der entsetzlichsten Bedeutung. Mir war es, als sei das Gold, das auf dem Tische blinkte, das Handgeld, womit die finstre Macht meine Seele erkauft, die nun nicht mehr dem Verderben entrinnen könne. Meines Lebens Blüte schien mir angenagt von einem giftigen Wurm, und ich geriet in vernichtende Trostlosigkeit. — Da flammte das Morgenrot höher auf hinter den Bergen, ich legte mich ins Fenster, ich schaute mit inbrünstiger Sehnsucht der Sonne entgegen, vor der die finstern Geister der Nacht fliehen mußten. So wie nun Flur und Wald aufleuchteten in den goldnen Strahlen, wurd es auch wieder Tag in meiner Seele. Mir kam das beseligende Gefühl der Kraft, jeder Verlockung zu widerstehen und mein Leben zu bewahren vor jenem dämonischen Treiben, in dem es, sei es wie und wenn es wolle, rettungslos untergeht! — Ich gelobte mir selbst auf das heiligste, nie mehr eine Karte zu berühren, und habe dies Gelübde streng gehalten. — Der erste Gebrauch, den ich übrigens von meinem reichen Gewinst machte, bestand darin, daß ich mich von meinem Freunde zu seinem nicht geringen Erstaunen trennte und jene Reise nach Dresden, Prag und Wien unternahm, von der ich euch schon oft erzählt."

"Wohl", nahm Sylvester das Wort, "wohl kann ich es mir denken, welchen Eindruck das unerwartete zweideutige Glück auf dein jugendliches Gemüt machen mußte. Daß du der Verlockung widerstandest, daß du eben in jenem Glück die bedrohliche Gefahr erkanntest, es bringt dir Ehre, aber verzeih, deine eigene Erzählung, die Art, wie du darin die wahren Spieler sehr richtig charakterisiert hast, muß dir selbst dartun, daß du doch niemals den eigentlichen Sinn fürs Spiel in dir getragen, da dir sonst die bewiesene Tapferkeit sehr schwer, vielleicht unmöglich geworden. — Vinzenz, der sich, wie ich glaube, von uns allen noch am besten auf das Spiel versteht, wird mir darin beistimmen."

"Was", erwiderte Vinzenz, "mich betrifft, so habe ich gar nicht einmal recht darauf gehört, was Theodor von seinem Glück am Spieltisch erzählt hat, denn ich denke immer nur an den höchst vortrefflichen Mann, der in seidenen Strümpfen durch die Berge streicht und mit Wein, Makronen und Blumen Feuersbrünste betrachtet wie schöne Gemälde. — In der Tat, ich war froh, aus dem schauerlichen Hintergrunde unserer heutigen Erzählungen doch einmal eine ergötzliche Gestalt hervorspringen zu sehen, und hätte gewünscht, den Mann als Helden irgendeines drolligen Schauspiels zu erblicken."

"Konnte", sprach Lothar, "konnte uns denn nicht das Bild des vortrefflichen Mannes genügen? —Überhaupt sollten wir Serapionsbrüder es uns vergönnen, einander einzelne Charaktere, wie sie uns wohl im Leben vorkamen, aufzustellen

zur gemeinsamen Ergötzlichkeit und Erholung von der den Sinn anstrengenden Erzählung."

"Guter Vorschlag", nahm Vinzenz das Wort, "guter Vorschlag, dem ich ganz beipflichte. Diese einzelnen hingeworfenen Zeichnungen mögen als Studium betrachtet werden zu größeren Gemälden, die denn jeder herauspinseln kann nach seiner Art und Weise. Auch mögen sie als milde Beiträge gelten zur gemeinsamen Serapions-Phantasie-Kasse. Und damit ihr einseht, wie ernstlich ich es mit diesen Beiträgen meine, will ich nur gleich vorfahren mit einem gar närrischen Kauz, den ich auf meiner Reise durch das südliche Deutschland traf. Es begab sich, daß ich während meines Aufenthalts in B., durch ein nahe gelegenes Wäldchen lustwandelnd, auf eine Anzahl Bauern stieß, die beschäftigt waren, ein dichtes Gestrüpp zu durchhauen und den Bäumen von beiden Seiten die Äste wegzusägen. Ich weiß selbst nicht, warum ich eben fragte, ob hier etwa ein neuer Weg angelegt werden solle, da lachten aber die Leute und meinten, ich möge nur meinen Weg weiterverfolgen, vor dem Walde auf einer Anhöhe stehe ein Herr, der würde mir Bescheid geben. Wirklich stieß ich auf einen kleinen ältlichen Mann blassen Antlitzes, im Oberrock, eine Reisemütze auf dem Kopf, einen Büchsensack umgeschnallt, der durch ein Fernrohr unverwandt nach dem Orte hinblickte, wo die Leute arbeiteten. Sowie er meine Nähe gewahrte, schob er schnell das Fernrohr zusammen und fragte hastig: ,Sie kommen aus dem Walde, mein Herr, wie steht es mit der Arbeit?' — Ich berichtete, was ich gesehen. ,Das ist gut', sprach er, ,das ist gut. Schon seit drei Uhr morgens (es mochte etwa sechs Uhr abends sein) stehe ich hier und glaubte schon, die Esel, die ich doch teuer genug bezahle, würden mich im Stiche lassen. Aber nun hoffe ich, daß sich die Aussicht noch im rechten Augenblick öffnen wird.' Er schob das Fernrohr auseinander und schaute wiederum unverwandt hin nach dem Walde. Ein paar Minuten währte es, da fiel starkes Buschwerk nieder, und wie auf einen Zauberschlag

öffnete sich die Durchsicht nach dem fernen Gebürge und den Ruinen eines Bergschlosses, die im Feuer der Abendsonne wirklich einen herrlichen magischen Anblick gewährten. — In einzelnen abgebrochenen Lauten gab der Mann sein höchstes Entzücken zu erkennen. Nachdem er aber sich ungefähr eine starke Viertelstunde an der Aussicht geweidet, steckte er das Fernrohr ein und lief, ohne mich zu grüßen, ohne meiner im mindesten zu achten, hastig, als wolle er gefährlichen Verfolgern entrinnen, von dannen. — Später sagte man mir, der Mann sei niemand anders gewesen als der Baron von R., einer der wunderlichsten Kauze, der sich wie der bekannte Baron Grotthus schon seit mehreren Jahren auf einer ununterbrochenen Fußwanderung befinde und mit einer Art von Wut Jagd mache auf schöne Aussichten. Komme er nun in eine Gegend, wo er, um sich solch eine schöne Aussicht zu verschaffen, es für nötig halte, Bäume fällen, einen Wald durchhauen zu lassen, so scheue er keine Kosten, sich mit dem Eigentümer abzufinden und Arbeiter zu bezahlen. —Ja, er habe es schon einmal mit aller Gewalt durchsetzen wollen, einen ganzen Meierhof, der seiner Meinung nach die Gegend verunstaltet und die ferne Aussicht gehemmt, niederbrennen zu lassen, welches ihm denn freilich nicht gelungen. Habe er aber wirklich seinen Zweck erreicht, so schaue er höchstens eine halbe Stunde in die Gegend hinein, laufe aber dann unaufhaltsam weiter und komme niemals mehr wieder an denselben Ort."

Die Freunde waren darin einig, daß nichts so toll und wunderlich zu ersinnen, als was sich von selbst im Leben darbiete. "Recht artig", nahm Cyprian das Wort, "recht artig und hübsch ist es aber doch, daß ich den beiden wunderlichen Leuten noch einen dritten Mann hinzuzufügen vermag, von dem ich vor einiger Zeit Kunde erhielt durch einen uns allen hinlänglich bekannten Virtuosen. Mein dritter Mann ist kein anderer als der Baron von B., der sich in den Jahren 1789 oder 1790 in Berlin aufhielt und offenbar zu den seltsamsten, merkwürdigsten Erscheinungen gehörte, die es

jemals in der musikalischen Welt gegeben. — Ich werde der größeren Lebendigkeit halber in der ersten Person erzählen, als sei ich selbst der Virtuose, dem alles geschehen, und hoffe, daß mein würdiger Serapionsbrüder Theodor es nicht übel deuten wird, wenn ich ganz in sein Gebiet hineinzustreifen genötigt bin."

[Der Baron B.]



"Ich war" (so erzählte der Virtuose) "damals, als der Baron von B. sich in Berlin befand, noch sehr jung, kaum sechzehn Jahre alt und im eifrigsten Studium meines Instruments begriffen, dem ich mich mit ganzer Seele, mit aller Kraft, wie sie nur in mir lebte, hingab. Der Konzertmeister Haak, mein würdiger, aber sehr strenger Lehrer, wurde immer zufriedener und zufriedener mit mir. Er rühmte die Fertigkeit meines Strichs, die Reinheit meiner Intonation, er ließ mich endlich in der Oper, ja sogar in den Königlichen Kammerkonzerten mitgeigen. Bei dieser Gelegenheit hörte ich oft, daß Haak mit dem jüngern Duport, mit Ritter und anderen großen Meistern aus der Kapelle von den musikalischen Unterhaltungen sprach, die der Baron von B. in seinem Hause mit Einsicht und Geschmack anordne, so daß der König selbst nicht verschmähe, öfters daran teilzunehmen. Sie erwähnten der herrlichen Kompositionen alter, beinahe vergessener Meister, die man sonst nirgends zu hören bekomme als bei dem Baron von B., der, was vorzüglich Musik für die Geige betreffe, wohl die vollständigste Sammlung von Kompositionen jeder Art, aus der ältesten bis zur neuesten Zeit, besitze, die irgendwo zu finden. Sie kamen dann auf die splendide Bewirtung in dem Hause des Barons, auf die würdige Art, auf die unglaubliche Liberalität, mit der der Baron die Künstler behandle, und waren zuletzt darin ganz einig, daß der Baron in Wahrheit ein leuchtender Stern zu nennen, der an dem musikalischen Himmel von Berlin aufgegangen.

Alles dieses machte meine Neugierde rege, noch mehr

spannte es mich aber, wenn dann in solchem Gespräch die Meister näher zusammentraten und ich in dem geheimnisvollen Geflüster nur den Namen des Barons unterscheiden und aus einzelnen abgebrochenen Worten erraten konnte, daß vom Unterricht in der Musik - von Stundengeben die Rede. Es schien mir, als wenn dann vorzüglich auf Duports Gesicht ein sarkastisches Lächeln rege würde und als wenn alle mit irgendeiner Neckerei wider den Konzertmeister zu Felde zögen, der, seinerseits sich nur schwach verteidigend, auch das Lachen kaum unterdrücken konnte, bis er zuletzt, sich schnell wegwendend und die Geige ergreifend zum Einstimmen, laut rief: ,Es ist und bleibt doch ein herrlicher Mann!'

Ich konnt es nicht lassen: der Gefahr unerachtet, auf ziemlich derbe Weise abgefertigt zu werden, bat ich den Konzertmeister, mich doch, wenn's nur irgend möglich, bei dem Baron von B. einzuführen und mich mitzunehmen in seine Konzerte.

Haak maß mich mit großen Augen, ich fürchtete schon, ein kleines Donnerwetter werde losbrechen, statt dessen ging jedoch sein Ernst in ein seltsames Lächeln über, und er sprach: ,Nun! — du magst wohl recht haben mit deiner Bitte, du kannst viel lernen bei dem Baron. Ich will mit ihm von dir reden und glaube wohl, daß er dir den Zutritt verstatten wird, da er gar gern es mit jungen Zöglingen der Musik zu tun hat.'

Nicht lange darauf hatte ich eben mit Haak einige sehr schwere Violinduetten gespielt. Da sprach er, die Geige aus der Hand legend: ,Nun, Karl! heute abend ziehe deinen Sonntagsrock an und seidene Strümpfe. Komm dann zu mir, wir wollen zusammen hingehen zum Baron von B. Es sind nur wenige Leute da, und das gibt gute Gelegenheit, dich vorzustellen.' — Das Herz bebte mir vor Freude, denn ich hoffte, selbst wußt ich nicht warum, Außerordentliches, Unerhörtes zu erfahren.

Wir gingen hin. Der Baron, ein nicht zu großer Mann,

hoch in den Jahren, im altfränkisch buntgestickten Galakleide, kam uns, als wir in das Zimmer traten, entgegen und schüttelte meinem Lehrer treuherzig die Hand.

Nie hatt ich bei dem Anblick irgendeines vornehmen Mannes mehr wahre Ehrfurcht, mehr inneres wohltuendes Hinneigen empfunden. Auf dem Gesicht des Barons lag der volle Ausdruck der herzlichsten Gutmütigkeit, während aus seinen Augen jenes dunkle Feuer blitzte, das so oft den von der Kunst wahrhaft durchdrungenen Künstler verrät. Alle Scheu, mit der ich sonst wohl als ein unerfahrener Jüngling zu kämpfen hatte, wich im Augenblick von mir.

,Wie geht es Euch', begann der Baron mit heller wohlklingender Stimme, ,wie geht es Euch, mein guter Haak, habt Ihr wohl mein Konzert wacker geübt? — Nun! — wir werden ja morgen hören! — Ha! das ist wohl der junge Mensch, der kleine wackre Virtuose, von dem Ihr mit mir spracht?'

Ich schlug beschämt die Augen nieder, ich fühlte, daß ich über und über errötete.

Haak nannte meinen Namen, rühmte meine Anlagen sowie die schnellen Fortschritte, die ich in kurzer Zeit gemacht.

,Also', wandte sich der Baron zu mir, ,also die Geige hast du zu deinem Instrument gewählt, mein Söhnchen? — Hast du auch wohl bedacht, daß die Geige das allerschwerste Instrument ist, das jemals erfunden? ja daß dies Instrument, in dürftig scheinender Einfachheit den üppigsten Reichtum des Tons verschließend, ein wunderbares Geheimnis ist, das sich nur wenigen, von der Natur besonders dazu ausersehenen Menschen erschließt? Weißt du gewiß, sagt es dir dein Geist mit Bestimmtheit, daß du Herr werden wirst des wunderbaren Geheimnisses? — Das haben schon viele geglaubt und sind erbärmliche Stümper geblieben ihr Leben lang. Ich wollte nicht, mein Söhnchen, daß du die Anzahl dieser Miserablen vermehrtest. — Nun: du magst immerhin mir etwas vorspielen, ich werde dir dann

sagen, wie es mit dir steht, und du wirst meinem Rat folgen. Es kann dir so gehen wie dem Karl Stamitz, der wunder glaubte, was für ein entsetzlicher Virtuos auf der Violin aus ihm werden würde. Als ich dem das Verständnis eröffnet, warf er geschwinde, geschwinde die Geige hinter den Ofen, nahm dafür Bratsche und Viol d'amour zur Hand und tat wohl daran. Auf diesen Instrumenten konnte er herumgreifen mit seinen breitgespannten Fingern und spielte ganz passabel. Nun - ich werde dich hören, mein Söhnchen!'

Über diese erste, etwas besondere Anrede des Barons mußte ich wohl betreten werden. Seine Worte drangen mir tief in die Seele, und ich fühlte mit innerm Unmut, daß ich trotz meines Enthusiasmus vielleicht, indem ich mein Leben dem schwersten, geheimnisvollsten aller Instrumente zugewandt, ein Wagestück unternommen, dem ich gar nicht gewachsen.

Man schickte nun sich an, die drei neuen Quartetten von Haydn, welche damals gerade im Stich erschienen, durchzuspielen.

Mein Meister nahm die Geige aus dem Kasten; kaum strich er aber Stimmens halber die Saiten an, als der Baron sich beide Ohren mit den Händen zuhielt und wie außer sich schrie: ,Haak, Haak! — ich bitte Euch um Gottes willen, wie könnt Ihr nur mit Eurer erbärmlichen schnarrenden, knarrenden Strohfiedel Euer ganzes Spiel verderben!'

Nun hatte aber der Konzertmeister eine der allerherrlichsten Geigen, die ich jemals gesehen und gehört, einen echten Antonio Stradivari, und nichts konnte ihn mehr entrüsten, als wenn irgend jemand seinem Liebling nicht die gehörige Ehre erwies. Wie nahm es mich daher wunder, als er lächelnd sogleich die Geige wieder einschloß. Er mochte schon wissen, wie es sich nun zutragen würde. Er zog eben den Schlüssel aus dem Schlosse des Violinkastens, als der Baron, der sich aus dem Zimmer entfernt, wieder eintrat, einen mit scharlachrotem Samt und goldnen Tressen überzogenen

Kasten auf beiden Armen, wie ein Hochzeitscarmen oder einen Täufling, vor sich hertragend.

,Ich will', rief er, ,ich will Euch eine Ehre antun, Haak! Ihr sollt heute auf meiner ältesten schönsten Violine spielen. Es ist ein wahrhafter Granuelo, und gegen den alten Meister ist sein Schüler, Euer Stradivari, nur ein Lump. Tartini mochte auf keinen andern Geigen spielen als auf Granuelos. Nehmt Euch nur zusammen, damit der Granuelo sich willig finden läßt, alle seine Pracht aus dem Innern heraus aufzutun.'

Der Baron öffnete den Kasten, und ich erblickte ein Instrument, dessen Form von hohem Alter zeugte. Daneben lag aber solch ein ganz wunderlicher Bogen, der mit seiner übermäßigen Krümmung mehr dazu geeignet schien, Pfeile darauf abzuschießen, als damit zu geigen. Der Baron nahm mit feierlicher Behutsamkeit das Instrument aus dem Kasten und reichte es dem Konzertmeister hin, der es ebenso feierlich in die Hände nahm.

,Den Bogen', sprach der Baron, indem er anmutig lächelnd dem Meister auf die Schulter klopfte, ,den Bogen geb ich Euch nicht, denn den versteht Ihr doch nun einmal nicht zu führen und werdet daher auch in Eurem Leben zu keiner ordentlichen wahren Strichart gelangen.'

,Solchen Bogen', fuhr der Baron fort, den Bogen herausnehmend und ihn mit glänzendem verklärten Blick betrachtend, ,solchen Bogen führte der große unsterbliche Tartini, und nach ihm gibt es auf der ganzen weiten Erde nur noch zwei seiner Schüler, denen es glückte, in das Geheimnis jener markichten, tonvollen, das ganze Gemüt ergreifenden Strichart zu dringen, die nur mit einem solchen Bogen möglich. Der eine ist Nardini, jetzt ein siebzigjähriger Greis, nur noch innerer Musik mächtig, der andere, wie Sie, meine Herren, wohl schon wissen werden, bin ich selbst. Ich bin also nun der einzige, in dem die Kunst des wahrhaften Violinspielers fortlebt, und an meinen eifrigen Bestrebungen fehlt es gewiß nicht, jene Kunst, die in Tartini ihren Schöpfer

fand, fortzupflanzen. — Doch! — fangen wir an, meine Herren!'

Die Haydnschen Quartetten wurden nun durchgespielt und, wie man es wohl denken kann, mit solch hoher Vollkommenheit, daß gar nichts zu wünschen übrigblieb.

Der Baron saß da, mit geschlossenen Augen sich hin und her wiegend. Dann sprang er auf, schritt näher heran an die Spieler, guckte in die Notenblätter mit gerunzelter Stirn, dann trat er leise, leise wieder zurück, ließ sich nieder auf den Stuhl, stützte den Kopf in die Hand - stöhnte - ächzte! — ,Halt!' rief er plötzlich bei irgendeiner gesangreichen Stelle im Adagio! — ,Halt! bei den Göttern, das war Tartinischer Gesang, aber ihr habt ihn nicht verstanden. Noch einmal, bitt ich!'

Und die Meister wiederholten lächelnd die Stelle mit gezognerem Strich, und der Baron schluchzte und weinte wie ein Kind!

Als die Quartetten geendigt, sprach der Baron: ,Ein göttlicher Mensch, der Haydn, er weiß das Gemüt zu ergreifen, aber für die Violine versteht er nicht zu schreiben. Er will das vielleicht auch gar nicht, denn tät er es wirklich und schrieb' er in der einzigen wahren Manier, wie Tartini, so würdet ihr es doch nicht spielen können.'

Nun mußte ich einige Variationen vortragen, die Haak für mich aufgesetzt.

Der Baron stellte sich dicht neben mir hin und schaute in die Noten. Man kann denken, mit welcher Beklommenheit ich, den strengen Kritiker zur Seite, begann. Doch bald riß mich ein tüchtiger Allegrosatz ganz hin. Ich vergaß den Baron und vermochte mich frei zu bewegen in dem Kreise aller Kraft, die mir damals zu Gebote stand.

Als ich geendet, klopfte mir der Baron auf die Achsel und sprach lächelnd: ,Du kannst bei der Violine bleiben, Söhnchen, aber von Strich und Vortrag verstehst du noch gar nichts, welches wohl daher kommen mag, daß es dir bis jetzt an einem tüchtigen Lehrer gemangelt.'

Man ging zu Tische. In einem andern Zimmer war ein Mahl bereitet, das, besonders rücksichts der mannigfachen feinen Weine, die gespendet wurden, beinahe schwelgerisch zu nennen. Die Meister ließen es sich wacker schmecken. Das Gespräch, immer heller und heller aufsteigend, betraf ausschließlich die Musik. Der Baron entwickelte einen Schatz der herrlichsten Kenntnisse. Sein Urteil, scharf und durchgreifend, zeigte nicht nur den gebildetsten Kenner, nein, den vollendeten, geistreichen, geschmackvollen Künstler selbst. Vorzüglich merkwürdig war mir die Galerie der Violinspieler, die er aufstellte. — Soviel ich davon noch weiß, will ich zusammenfassen. ,Corelli' (so sprach der Baron) ,bahnte zuerst den Weg. Seine Kompositionen können nur auf Tartinische Weise gespielt werden, und das ist hinlänglich zu beweisen, wie er das Wesen des Violinspielens erkannt. Pugnani ist ein passabler Geiger. Er hat Ton und viel Verstand, doch ist sein Strich zu weichlich bei ziemlichem Appoggiamento. Was hatte man mir alles von Geminiani gesagt! Als ich ihn vor dreißig Jahren zum letztenmal in Paris hörte, spielte er wie ein Nachtwandler, der im Traume herumsteigt, und es wurde einem selbst zumute, als läg man im Traume. Lauter tempo rubato ohne Stil und Haltung. Das verdammte ewige tempo rubato verdirbt die besten Geiger, denn sie vernachlässigen darüber den Strich. Ich spielte ihm meine Sonaten vor, er sah seinen Irrtum ein und wollte Unterricht bei mir nehmen, wozu ich mich willig verstand. Doch der Knabe war schon zu vertieft in seine Methode, zu alt darüber worden. Er zählte damals einundneunzig Jahre. — Gott möge es dem Giardini verzeihen und es ihm nicht entgelten lassen in der Ewigkeit, aber er war es, der zuerst den Apfel vom Baum des Erkenntnisses fraß und alle nachfolgende Violinspieler zu sündigen Menschen machte. Er ist der erste Schwebler und Schnörkler. Er ist nur bedacht auf die linke Hand und auf die springfertigen Finger und weiß nichts davon, daß die Seele des Gesanges in der rechten Hand liegt,

daß in ihren Pulsen alle Empfindungen, wie sie in der Brust erwacht sind, alle Herzschläge ausströmen. Jedem Schnörkler wünsch ich einen tapfern Jomelli zur Seite, der ihn aus seinem Wahnsinn weckt durch eine tüchtige Ohrfeige, wie es denn Jomelli wirklich tat, als Giardini in seiner Gegenwart einen herrlichen Gesang verdarb durch seine Sprünge, Läufe, närrische Triller und Mordenten. Ganz verrückt gebärdet sich Lolli. Der Kerl ist ein fataler Luftspringer, kann kein Adagio spielen, und seine Fertigkeit ist allein das, weshalb ihn unwissende Maulaufsperrer ohne Gefühl und Verstand bewundern. Ich sage es, mit Nardini und mir stirbt die wahrhafte Kunst der Geiger aus. Der junge Viotti ist ein herrlicher Mensch voll Anlagen. Was er weiß, hat er mir zu verdanken, denn er war mein fleißiger Schüler. Doch was hilft's? Keine Ausdauer, keine Geduld! — Er lief mir aus der Schule. Den Kreutzer hoff ich noch anzuziehen. Er hat meinen Unterricht fleißig genützt und wird ihn nützen, wenn ich zurückgekehrt sein werde nach Paris. Mein Konzert, das Ihr jetzt mit mir einübt, Haak, spielte er neulich gar nicht übel. Doch zu meinem Bogen fehlt ihm immer noch die Faust. — Der Giarnovichi soll mir nicht mehr über die Schwelle, das ist ein unverständiger Hasenfuß, der sich erfrecht, über den großen Tartini, über den Meister aller Meister, die Nase zu rümpfen und meinen Unterricht zu verschmähen. — Mich soll nur verlangen, was aus dem Knaben, aus dem Rode werden wird, wenn er meinen Unterricht genossen. Er verspricht viel, und es ist möglich, daß er Herr wird meines Bogens.'

,Er ist' (der Baron wandte sich zu mir) ,in deinem Alter, mein Söhnchen, aber ernsterer, tiefsinnigerer Natur. — Du scheinst mir, nimm's nicht übel, ein kleiner Springinsfeld zu sein. —Nun, das gibt sich. — Von Euch, mein lieber Haak! hoffe ich nun gar viel! Seit ich Euch unterrichte, seid Ihr schon ein ganz andrer worden. Fahrt nur fort in Eurem rastlosen Eifer und Fleiß und versäumt ja keine Stunde: Ihr wißt, daß mich das ärgert.'

Ich war erstarrt vor Verwunderung über alles das, was ich gehört. Nicht die Zeit konnte ich erwarten, den Konzertmeister zu fragen, ob es denn wahr sei, ob denn der Baron wirklich die größten Violinisten der Zeit ausgebildet, ob er, der Meister selbst, denn wirklich Unterricht nehme bei ihm!

Allerdings, erwiderte Haak, versäume er nicht, den wohltätigen Unterricht zu genießen, den ihm der Baron angeboten, und ich würde sehr wohltun, an einem guten Morgen zu ihm hinzugehen und ihn anzuflehen, daß er auch mich seines Unterrichts würdige.

Auf alles, was ich noch sonst über den Baron und über sein Kunsttalent erfragen wollte, ließ Haak sich gar nicht ein, sondern wiederholte nur, daß ich tun möge, was er mir geheißen, und das übrige denn wohl erfahren werde.

Mir entging das seltsame Lächeln nicht, das dabei Haaks Gesicht überflog und das, ohne den Grund davon nur zu ahnen, meine Neugierde im höchsten Grade reizte.

Als ich denn nun gar demütig dem Baron meinen Wunsch vortrug, als ich versicherte, daß der regste Eifer, ja der glühendste Enthusiasmus mich beseele für meine Kunst, sah er mich erst starr an, bald aber gewann sein ernster Blick den Ausdruck der wohltuendsten Gemütlichkeit. ,Söhnchen, Söhnchen', sprach er, ,daß du dich an mich, an den einzigen Violinspieler, den es noch gibt, wendest, das beweiset, wie in dir der echte Künstlertrieb rege worden, wie in deiner Seele das Ideal des wahrhaften Violinspielers aufgegangen. Wie gern wollt ich dir aufhelfen, aber wo Zeit hernehmen, wo Zeit hernehmen! — Der Haak macht mir viel zu schaffen, und da ist jetzt der junge Mensch hier, der Durand, der will sich öffentlich hören lassen und hat wohl eingesehen, daß das ganz und gar nicht angeht, bevor er nicht bei mir einen tüchtigen Kursus gemacht. —Nun! —warte, warte -zwischen Frühstück und Mittag oder beim Frühstück - ja, da hab ich noch eine Stunde übrig! — Söhnchen, komme zu mir Punkt zwölf Uhr alle Tage, da geige ich mit dir bis ein Uhr; dann kommt Durand!'

Sie können sich's vorstellen, wie ich schon andern Tages um die bestimmte Stunde hineilte zum Baron mit klopfendem Herzen.

Er litt nicht, daß ich auch nur einen einzigen Ton anstrich auf meiner Geige, die ich mitgebracht. Er gab mir ein uraltes Instrument von Antonio Amati in die Hände. Nie hatte ich auf einer solchen Geige gespielt. Der himmlische Ton, der den Saiten entquoll, begeisterte mich. Ich verlor mich in kunstreichen Passagen, ließ den Strom der Töne stärker aufsteigen in brausenden Wellen, verrauschen im murmelnden Geplätscher! — Ich glaube, ich spielte ganz gut, besser als manchmal nachher. Der Baron schüttelte unmutig den Kopf und sprach, als ich endlich nachließ: ,Söhnchen, Söhnchen, das mußt du alles vergessen. Fürs erste hältst du den Bogen ganz miserabel.' — Er wies mir praktisch, wie man nach Tartinis Art den Bogen halten müßte. Ich glaubte auf diese Weise keinen Ton herausbringen zu können. Doch nicht gering war mein Erstaunen, als ich, auf Geheiß des Barons meine Passagen wiederholend, in einigen Sekunden den großen Vorteil einsah, den mir die Art, den Bogen zu führen, gewährte.

,Nun', sprach der Baron, ,wollen wir den Unterricht beginnen. Streiche, mein Söhnchen, einmal das eingestrichene g an und halte den Ton aus, solange du kannst. Spare den Bogen, spare den Bogen. Was der Atem dem Sänger, das ist der Bogen dem Violinspieler.'

Ich tat, wie mir geheißen, und freute mich selbst, daß es mir glückte, den Ton kraftvoll herauszuziehen, ihn vom Pianissimo zum Fortissimo steigen und wieder abnehmen zu lassen, mit gar langem, langem Bogen. ,Siehst du wohl, siehst du wohl, Söhnchen!' rief der Baron, ,schöne Passagen kannst du machen, Läufe, Sprünge und neumodische, einfältige Triller und Zieraten, aber keinen Ton ordentlich aushalten, wie es sich ziemt. Nun will ich dir zeigen, was es heißt, den Ton aushalten auf der Geige!' — Er nahm mir das Instrument aus der Hand, setzte den Bogen dicht am

Frosch an! — Nein! — hier fehlen mir wahrlich die Worte, es auszusprechen, wie es sich nun begab.

Dicht am Stege rutschte er mit dem zitternden Bogen hinauf, schnarrend, pfeifend, quäkend, miauend - der Ton war dem zu vergleichen, wenn ein altes Weib, die Brille auf der Nase, sich abquält, den Ton irgendeines Liedes zu fassen.

Und dabei schaute er himmelwärts wie in seliger Verzückung, und als er endlich aufhörte, mit dem Bogen auf den Saiten hin und her zu fahren, und das Instrument aus der Hand legte, glänzten ihm die Augen, und er sprach tief bewegt: ,Das ist Ton - das ist Ton!'

Mir war ganz wunderlich zumute. Wollte sich auch der innere Trieb zum Lachen regen, so verschwand er wieder bei dem Anblick des ehrwürdigen Antlitzes, das die Begeisterung verklärte. Und dabei wirkte überdem das Ganze auf mich wie ein unheimlicher Spuk, so daß ich meine Brust bewegt fühlte und kein Wort herauszubringen vermochte.

,Nicht wahr', begann der Baron, ,nicht wahr, mein Söhnchen, das ging hinein in dein Inneres, das stelltest du dir nicht vor, daß solche zauberische Gewalt hinaufbeschworen werden könne aus dem kleinen Dinge da mit vier armseligen Saiten. Nun -trinke, trinke, mein Söhnchen!'

Der Baron schenkte mir ein Glas Madera ein. Ich mußte trinken und von dem Backwerk genießen, das auf dem Tische stand. In dem Augenblick schlug es ein Uhr.

,Für heute mag's genug sein', rief der Baron, ,geh, geh, mein Söhnchen, komme bald wieder. — Da! —nimm, nimm!'

Der Baron steckte mir ein Papierchen zu, in dem ich einen blanken, schön geränderten holländischen Dukaten fand.

Ganz bestürzt rannte ich hin zum Konzertmeister und erzählte ihm, wie sich alles begeben. Der lachte aber laut auf und rief: ,Siehst du nun wohl, wie es mit unserm Baron beschaffen und mit seinem Unterricht? — Dich hält er für einen Anfänger, deshalb erhältst du nur einen Dukaten für die Stunde. Sowie, nach des Barons Idee, die Meisterschaft

steigt, erhöht er auch das Honorar. Ich bekomme jetzt einen Louis und Durand, wenn ich nicht irre, gar zwei Dukaten.'

Nicht umhin konnte ich zu äußern, daß es doch ein eignes Ding sei, den guten alten Baron auf diese Weise zu mystifizieren und ihm die Dukaten aus der Tasche zu ziehen.

,Du mußt wissen', erwiderte der Konzertmeister, ,du mußt wissen, daß des Barons ganze Glückseligkeit darin besteht, auf die Weise, die du nun kennst, Unterricht zu geben; daß er mich und andere Meister, wollten sie seinen Unterricht verschmähen, in der ganzen Welt, für die er kompetenter Kunstrichter ist und bleibt, als erbärmliche, unwissende Stümper ausschreien würde, daß endlich, den Wahn des Violinspiels abgerechnet, der Baron ein Mann ist, dessen kunstverständiges Urteil auch den Meister über manches zu seinem großen Nutzen aufklären kann. Urteile nun selbst, ob ich unrecht tue, mich trotz seiner Torheit an ihn zu halten und mir zuweilen meinen Louis zu holen. — Besuche ihn fleißig, höre nicht auf die alberne Gaukelei des Wahnsinnigen, sondern nur auf die verständigen Worte des mit dem innern Sinn die Kunst beherrschenden Mannes. Es wird dir wohltun!'

Ich folgte dem Rat des Meisters. Manchmal wurde es mir doch schwer, das Lachen zu unterdrücken, wenn der Baron mit den Fingern, statt auf dem Griffbrett, auf dem Violindeckel herumtapste und dabei mit dem Bogen auf den Saiten querüber fuhr, versichernd, er spiele jetzt Tartinis allerherrlichstes Solo und er sei nun der einzige auf der Welt, der dieses Solo vorzutragen imstande.

Aber dann legte er die Geige aus der Hand und ergoß sich in Gesprächen, die mich mit tiefer Kenntnis bereicherten und meine Brust entflammten für die hochherrliche Kunst.

Spielte ich dann in einem seiner Konzerte mit allem Eifer, und gelang mir dieses - jenes vorzüglich gut, so blickte der Baron stolz lächelnd umher und sprach: ,Das hat der Junge mir zu verdanken, mir, dem Schüler des großen Tartini!'

So gewährten mir Nutzen und Freude des Barons Lehrstunden und auch wohl seine - geränderten holländischen Dukaten."



"Nun", sprach Theodor lachend, "nun, in der Tat, ich sollte meinen, daß mancher unserer jetzigen Virtuosen, der sich weit erhaben über jegliche Lehre dünken möchte, sich doch noch einen Unterricht gefallen lassen würde auf die Weise, wie ihn der Baron von B. zu erteilen pflegte."

"Dem Himmel sei es gedankt", nahm Vinzenz das Wort, "daß unser Klub doch noch, was ich gar nicht mehr erwartete, heiter schließt, und ich will hiemit meine würdigen Brüder ermahnt haben, künftig fein dafür zu sorgen, daß das Schauerliche mit dem Heitern wechsle, welches heute ganz und gar nicht geschehen."

"Deine Ermahnung", sprach Ottmar, "mag sehr gut sein, indessen lag es lediglich an dir, den Fehler, in den wir heute verfielen, gutzumachen und uns etwas von dir mitzuteilen, das deiner humoristischen Laune würdig."

"Überhaupt", sprach Lothar weiter, "bist du, mein vortrefflicher, wiewohl schreibefauler Vinzenz, das Aufnahmegeld in die Serapionsbrüderschaft, das eben in einer serapiontischen Erzählung bestehen mußte, noch schuldig."

"Still, still", erwiderte Vinzenz, "ihr wißt nicht, was meiner Brust entglommen und vorläufig in dieser Brusttasche verborgen ruhet! — Ein gar seltsames Ding von Märchen, das ich insbesondere der Gunst unseres Lothar empfehle, hätte ich euch schon heute mitgeteilt, aber habt ihr nicht des Wirts bleiches Antlitz gesehen, das durch das Fenster schon öfters mahnend hineinblickte, wie in Fouqués ,Undine' der Spukgeist Kühleborn durch das Fenster in die Fischerhütte guckt? Habt ihr nicht das verdrießliche Ojemines-Gesicht des Kellners bemerkt? Stand, wenn er uns die Lichter putzte, auf seiner Stirn nicht deutlich geschrieben: ,Werden sie denn hier ewig sitzen und nicht endlich

einmal einem ehrlichen Menschen die Ruhe gönnen?' — Die Leute haben recht, Mitternacht ist vorüber, unsere Scheidestunde hat geschlagen."

Die Freunde gaben sich das Wort, in weniger Zeit sich wieder serapiontisch zu versammeln, und brachen dann auf.



Ende des dritten Bandes

Vierter Band


Siebenter Abschnitt

Der trübe Spätherbst war längst eingebrochen, als Theodor in seinem Zimmer beim knisternden Kaminfeuer der würdigen Serapionsbrüder harrte, die sich dann zur gewöhnlichen Stunde nach und nach einfanden.

"Welch abscheuliches Wetter", sprach der zuletzt eintretende Cyprian, "trotz meines Mantels bin ich beinahe ganz durchnäßt, und nicht viel fehlte, so hätte ein tüchtiger Windstoß mir den Hut entführt."

"Und das", nahm Ottmar das Wort, "und das wird lange so währen, denn unser Meteorolog, der, wie ihr wißt, in meiner Straße wohnt, hat einen hellen freundlichen Spätherbst verkündigt."

"Recht", sprach Vinzenz, "ganz recht hast du, mein Freund Ottmar. Wenn unser vortreffliche Prophet seine Nachbaren damit tröstet, daß der Winter durchaus nicht strenge Kälte bringen, sondern ganz südlicher Natur sein würde, so läuft jeder erschrocken hin und kauft so viel Holz, als er nur beherbergen kann. So ist aber der meteorologische Seher ein weiser hochbegabter Mann, auf den man sich verlassen darf, wenn man nur jedesmal das Gegenteil von dem voraussetzt, was er verkündigt."

"Mich", sprach Sylvester, "mich machen diese Herbststürme, diese Herbstregen immer ganz unmutig, matt und krank, und dir, Freund Theodor, glaube ich, geht es

ebenso?" —"Allerdings", erwiderte Theodor. "Diese Witterung -"

"Herrliches", schrie Lothar dazwischen, "herrliches geistreiches Beginnen unseres Serapionklubs! Vom Wetter sprechen wir wie die alten Muhmen am Kaffeetisch!"

"Ich weiß nicht", nahm Ottmar das Wort, "warum wir nicht vom Wetter sprechen sollen? Du kannst das nur tadeln, weil solcher Anfang des Gesprächs als ein verjährter Schlendrian erscheint, den das Bedürfnis zu sprechen bei sterilem Geist, beim gänzlichen Mangel an Stoff herbeigeführt hat. Ich meine aber, daß ein kurzes Gespräch über Wind und Wetter auf recht gemütliche Weise vorangeschickt werden darf, um alles nur mögliche einzuleiten, und daß eben die Allgemeinheit solcher Einleitung von ihrer Natürlichkeit zeugt." —"Überhaupt", sprach Theodor, "möcht es wohl ziemlich gleichgültig sein, auf welche Weise sich ein Gespräch anspinnt. Gewiß ist es aber, daß die Begierde, recht geistreich zu beginnen, schon im voraus alle Freiheit tötet, die die Seele jedes Gesprächs zu nennen. — Ich kenne einen jungen Mann - ich glaube, ihr kennt ihn alle -, dem es gar nicht an jenem leicht beweglichen Geist fehlt, der zum Sprechen, so recht zum Konversieren nötig. Den quält in der Gesellschaft, vorzüglich sind Frauen zugegen, jene Begierde, gleich mit dem ersten Wort funkelnd hineinzublitzen, dermaßen, daß er unruhig umherläuft, von innerer Qual gefoltert, die seltsamsten Gesichter schneidet, die Lippen bewegt und - keine Silbe herausbringt!"

"Halt ein, Unglücklicher", rief Cyprian mit komischem Pathos, "reiße nicht mit mörderischer Hand Wunden auf, die kaum verharscht sind. — Er spricht", fuhr er dann lächelnd fort, "er spricht von mir, das müßt ihr ja bemerken, und bedenkt nicht, daß vor wenigen Wochen, als ich jener Begierde, die ich als lächerlich anerkennen will, widerstehen und ein Gespräch in recht gewöhnlicher Art anknüpfen wollte, ich dafür büßte mit gänzlicher Vernichtung! — Ich will es euch lieber nur gleich selbst erzählen, wie es

sich begab, damit es nicht Ottmar tut und allerlei feine Anmerkungen beifügt. — Bei dem Tee, den wir, Ottmar und ich, besuchten, war die gewisse hübsche geistreiche Frau zugegen, von der ihr behauptet, sie interessiere mich manchmal mehr als gut und dienlich. — Es zog mich zu ihr hin, und gestehen will ich's, ich war um das erste Wort verlegen, so wie sie boshaft genug, mir mit freundlich fragendem Blick stumm in die Augen zu schauen. ,Der Mondwechsel hat uns in der Tat recht angenehme Witterung gebracht.' So fuhr es mir heraus, da erwiderte die Dame sehr mild: ,Sie schreiben wohl dieses Jahr den Kalender?"

Die Freunde lachten sehr.

"Dagegen", fuhr Ottmar fort, "kenne ich einen andern jungen Mann, und ihr kennt ihn alle, der, vorzüglich bei Frauen, niemals um das erste Wort verlegen ist. Ja, es will mich bedünken, daß, was die Unterhaltung mit Frauen betrifft, er sich ganz im stillen ein lebenskluges System gebaut hat, das ihn so leicht nicht im Stiche läßt. So pflegt er zum Beispiel die Schönste, die es kaum wagt, etwas Zuckerbrot in den Tee einzustippen, die höchstens der Nachbarin ins Ohr flüstert: ,Es ist recht heiß, meine Liebe' — worauf diese ebenso leise ins Ohr erwidert:, Recht heiß, meine Gute!' —, deren Rede nicht hinausgehen will über ein süßes ,Ja, ja!' und ,Nein, nein', künstlich zu erschrecken und dadurch ihr Inneres plötzlich zu revolutionieren, so daß sie nicht mehr dieselbe scheint. ,Mein Gott, Sie sehn so blaß!' fährt er neulich auf ein hübsches kirchhofstilles Fräulein los, die eben den Silberfaden einhäkelt zum künstlichen Gestrick eines Beutels. Das Fräulein läßt vor Schreck das Gestrick auf den Schoß fallen, gesteht, daß sie heute ein wenig gefiebert, Fieber - ja, Fieber, darauf versteht sich eben mein Freund; er weiß geistreich und anziehend davon zu sprechen, frägt sorglich nach allen Erscheinungen, ratet, warnt, und siehe, ein ganz anmutiges munteres Gespräch spinnt sich fort."

"Ich danke dir", rief Theodor, "daß du mein Talent ge

hörig beobachtest und würdigst." — Die Freunde lachten aufs neue.

"Es hat", nahm jetzt Sylvester das Wort, "es hat mit der gesellschaftlichen Unterhaltung wohl eine ganz eigne Bewandtnis. Die Franzosen werfen uns vor, daß eine gewisse Schwerfälligkeit des Charakters uns niemals den Takt, den Ton, der dazu nötig, treffen lasse, und sie mögen einigermaßen darin recht haben. Gestehen muß ich indessen, daß mich die gerühmte Lebendigkeit der französischen Zirkel betäubt und unmutig macht und daß ich ihre Bonmots, ihre Calembours, die sich machen lassen auf den Kauf, auch nicht einmal für solchen gesellschaftlichen Witz halten kann, aus dem wahres frisches Leben der Unterhaltung sprüht. Überhaupt ist mir der eigentlich echt französische Witz im höchsten Grade fatal."

"Diese Meinung", sprach Cyprian, "kommt recht tief aus deinem stillen freundlichen Gemüt, mein herzenslieber Sylvester. Du hast aber noch vergessen, daß außer den größtenteils höchst nüchternen Bonmots der Gesellschaftswitz der Franzosen auf eine gegenseitige Verhöhnung basiert ist, die wir mit dem Worte ,Aufziehen' bezeichnen und die, leicht die Grenzen der Zartheit überschreitend, unserer Unterhaltung sehr bald alles wahrhaft Erfreuliche rauben würde. Dafür haben die Franzosen auch nicht den mindesten Sinn für den Witz, dessen Grundlage der echte Humor ist, und es ist kaum zu begreifen, wie ihnen manchmal die Spitze irgendeines gar nicht etwa tiefen, sondern oberflächlich drolligen Geschichtleins entgeht."

"Vergiß nicht", sprach Ottmar, "daß eben eine solche Spitze oft ganz unübersetzbar ist."

"Oder", fuhr Vinzenz fort, "ungeschickt übersetzt wird. — Nun, mir fällt dabei ein gar lustiges Ding ein, das sich vor wenigen Tagen zutrug und das ich euch auftischen will, wenn ihr zu hören geneigt seid."

"Erzähle, erzähle, teurer Anekdotist, ergötzlicher Fabulant!" So riefen die Freunde.

"Ein junger Mensch", erzählte Vinzenz, "den die Natur mit einer tüchtigen kräftigen Baßstimme begabt und der zum Theater gegangen, sollte gleich das erstemal als Sarastro auftreten. Im Begriff, in den Wagen zu steigen, überfiel ihn aber eine solche fürchterliche Angst, daß er zitterte und bebte, ja daß er, als er herausgefahren werden sollte, ganz in sich zusammensank, und alle Ermahnungen des Direktors, doch sich zu ermutigen und wenigstens aufrecht im Wagen zu stehen, blieben vergebens. Da begab es sich, daß das eine Rad des Wagens den weit überhängenden Mantel Sarastros faßte und den Ehrwürdigen, je weiter es vorwärts ging, desto mehr rücklings überzog, wogegen er sich im Wagen festfußend sträubte, so daß er in der Mitte des Theaters dastand mit vorwärts gedrängtem Unterteil und rückwärts gedrängtem Oberteil des Körpers. Und alle Welt war entzückt über den königlichen Anstand des unerfahrnen Jünglings, und hoch erfreut schloß der Direktor mit ihm einen günstigen Kontrakt. Dies einfache Anekdötlein wurde neulich in einer Gesellschaft erzählt, der eine Französin beiwohnte, die keines deutschen Wortes mächtig. Als nun beim Schluß alles lachte, so verlangte die Französin zu wissen, worüber man lache; und unser ehrliche D., der, spricht er französisch, mit dem echtesten Akzent, mit der treuesten Nachbildung von Ton und Gebärde den Franzosen herrlich spielt, dem aber jeden Augenblick Worte fehlen, übernahm es, den Dolmetscher zu machen. Als er nun auf das Rad kam, das den Mantel Sarastros gefaßt und diesen zur majestätischen Stellung genötigt, sprach er: le rat statt la roue. Das Gesicht der Französin verfinsterte sich, die Augenbraunen zogen sich zusammen, und in ihren Blicken las man das Entsetzen, das ihr die Erzählung verursachte, wozu noch freilich beitrug, daß unser gute D. alle Register des tragikomischen Muskelspiels auf seinem Gesicht angezogen hatte. Als wir beim Schluß alle noch stärker über das seltsame Mißverständnis, das zu heben sich jeder wohl hütete, lachten, lispelte die Französin: ,Ah! — les barbares!' — Für Barbaren

mußte die Gute uns wohl halten, wenn wir es so überaus belachenswert fanden, daß ein abscheuliches ratzenhaftes Untier den armen Jüngling, in dem verhängnisvollsten Augenblick des beginnenden Theaterlebens seinen Mantel erfassend, halb zu Tode geängstigt."

"Wir wollen", sprach, als die Freunde sich satt gelacht, Vinzenz weiter, "wir wollen aber nun die französische Konversation mit all ihren Bonmots, Calembours und sonstigen Bestandteilen und Ingredienzien ruhen lassen und gestehen, daß es wohl hohe Lust zu nennen, wenn unter geistreichen, von echtem Humor beseelten Deutschen das Gespräch wie ein nie erlöschendes Feuerwerk aufstrahlt in tausend knisternden Leuchtkugeln, Schwärmern und Raketen."

"Wohl zu merken", nahm Theodor das Wort, "wohl zu merken ist aber, daß eine solche Lust nur dann stattfinden kann, wenn die Freunde nicht allein geistreich und humoristisch sind, sondern auch das Talent haben, nicht allein zu sprechen, sondern auch zu hören. Dies Talent bildet das Hauptprinzip jeder Unterhaltung."

"Ganz gewiß", fuhr Lothar fort, "die Wortführer töten jede Unterhaltung. Ganz auf niedriger Stufe stehen aber jene Witzbolde, die, mit Anekdoten, allerlei schalen Redensarten vollgestopft, von Gesellschaft zu Gesellschaft laufen und den unberufenen Pagliasso machen. Ich kannte einen Mann, der, als geistreich und witzig geltend und dabei ein gewaltiger Vielsprecher, überall eingeladen wurde, mit dem Anspruch, die Gesellschaft zu belustigen, so daß, schon wenn er eintrat, jeder, ihm ins Gesicht blickend, wartete, was für ein Witzwort er von sich geben würde. Der Arme war genötigt, sich abzuquälen, um nur, gleichviel auf welche Weise, seinen Beruf zu erfüllen, und so konnte es nicht fehlen, daß er bald matt und stumpf wurde und man ihn beiseite warf wie ein verbrauchtes Möbel. Jetzt schleicht er trübe und unmutig umher und kommt mir vor wie jener Stutzer in Rabeners ,Traum von abgeschiedenen Seelen', der, sosehr er im Leben geglänzt, nun im Jenseits traurig

und wertlos dasteht, weil er die goldne, mit Spaniol gefüllte Dose, einen integrierenden Teil seines innern Selbst, bei der schnellen unvermuteten Abfahrt stehenlassen."

"Es gibt", sprach Ottmar, "es gibt ferner gar wunderliche Leute, die, wenigstens wenn sie Gäste bewirten, das Wort führen nicht aus Arroganz, sondern in seltsam falscher Gutmütigkeit von der Angst getrieben, daß man sich nicht unterhalten werde; die beständig fragen, ob man auch vergnügt sei und sonst, und die ebendeshalb jede Heiterkeit, jede Lust im Aufkeimen töten."

"Diese Methode", sagte Theodor, "diese Methode, zu langweilen, ist die sicherste, und ich habe sie einmal von meinem alten humoristischen Onkel, den ihr, glaub ich, aus meinen Gesprächen schon kennt, mit dem glänzendsten Erfolg anwenden gesehn. — Es hatte sich nämlich ein alter Schulfreund eingefunden, der, ganz unausstehlich in allem, was er sprach, in seinem ganzen Benehmen, den Onkel jeden Morgen besuchte, ihn in seinen Geschäften störte, auf das ärgste langweilte und dann ungebeten sich mit zu Tische setzte. Der Onkel war mürrisch, verdrießlich, in sich gekehrt, gab dem Überlästigen nur zu deutlich zu verstehen, daß seine Besuche ihm eben nicht erfreulich wären, aber alles wollte nichts helfen. Ich meinte endlich, als der Alte einmal nach seiner Art kräftig genug auf den Schulfreund schimpfte, er solle dem Unverschämten geradehin die Türe weisen. ,Das geht nicht, Vetterchen', erwiderte der Alte, freundlich schmunzelnd, ,er ist einmal mein Schulfreund, aber es gibt noch ein anderes Mittel, ihn loszuwerden, das will ich anwenden, das wird helfen!' Nicht wenig verwundert war ich, als am andern Morgen mein Alter den Schulfreund mit offnen Armen empfing, als er alles beiseite warf und nun unablässig auf ihn hineinsprach, wie es ihn freue, den treuen Bruder zu sehen und sich der alten Zeit zu erinnern. Alle Geschichten aus der Jugendzeit, die der Schulfreund bis zum höchsten Überdruß ewig und ewig zu wiederholen pflegte, gingen nun über des Onkels Lippen wie

ein unaufhaltsamer Strom, so daß der Schulfreund, alles Mühens unerachtet, zu keiner Silbe kommen konnte. Und dazwischen fragte der Onkel beständig: ,Aber du bist heute nicht vergnügt? — Du bist so einsilbig? — Sei doch heiter, laß uns heute recht schwelgen in Rückerinnerungen!' Aber sowie der Schulfreund nur den Mund öffnen wollte, schnitt ihm der Onkel das Wort ab mit einer neuen endlosen Geschichte. Endlich wurde ihm das Ding zu arg, er wollte fort, da lud ihn aber der Onkel so dringend zu Tische, daß er, nicht fähig, der Verlockung guter Schüsseln und noch bessern Weins zu widerstehen, wirklich blieb. Kaum hatte der Schulfreund aber ein paar Löffel Suppe genossen, als der Onkel ganz ergrimmt rief: ,Was zum Teufel ist das für eine verdammte Wassersuppe? — Iß nicht, Bruder, ich bitte dich, iß nicht, es kommt was Besseres - Johann, die Teller weg!' — Und wie ein Blitz war dem Schulfreund der Teller vor der Nase weg verschwunden! — So ging es aber bei allen Gerichten, die mitunter lecker genug waren, um den Appetit auf das stärkste zu reizen, bis das Bessere, was noch kommen sollte, in Chesterkäse bestand, gegen den, so wie gegen Käse überhaupt, der Schulfreund einen Abscheu hegte. Vor lauter anscheinender Sorge, den Schulfreund recht üppig zu bewirten, hatte dieser nicht zwei Bissen verschlucken dürfen, und ebenso war es mit dem Wein. Kaum hatte der Schulfreund das erste Glas an die Lippen gebracht, als der Onkel rief: ,Bruder, du ziehst ein saures Gesicht? — Du hast recht, der Wein taugt nichts - Johann, eine höhere Sorte!' —Und eine Sorte nach der andern kam -französische Weine -Rheinweine, und immer hieß es: ,Bruder, der Wein schmeckt dir nicht' etc., bis bei dem Chesterkäse der Schulfreund ungeduldig aufsprang. Da sprach der Onkel im gutmütigsten Ton: ,Bruder, du bist heute gar nicht vergnügt, gar nicht wie sonst? — Nun! — weil wir einmal so fröhlich beieinander sind, so laß uns eine Flasche alten Sorgenbrechers ausstechen!' — Der Schulfreund plumpte in den Sessel nieder. Der hundertjährige Rheinwein pente herrlich und klar in den beiden Gläsern, die der Onkel einschenkte. ,Teufel!' sprach der Onkel aber, nun ein Glas gegen das Licht haltend, ,Teufel! der Wein ist mir trübe geworden, nein, Bruder, den kann ich dir nicht vorsetzen', und schlürfte mit sichtlichem Wohlgefallen beide Gläser hinunter. — Der Schulfreund fuhr in die Höhe, plumpte aber aufs neue in den Sessel nieder, als der Onkel rief: ,Johann! Tokaier!' — Der Tokaier kam, der Onkel schenkte ein und reichte dem Schulfreunde das Glas hin, indem er sprach: ,Nun, alter Junge, wirst du wohl endlich einmal vergnügt werden, wenn du den Nektar eingeschlürft!' — Kaum setzte aber der Schulfreund das Glas an die Lippen, als der Onkel schrie: ,Donner! — da ist eine große Kreuzspinne in der Flasche gewesen!' —Da schleuderte der Schulfreund in voller Wut das Glas gegen die Wand, daß es in tausend Scherben zersplitterte, rannte wie besessen von dannen und kam niemals wieder."

"Die Ironie deines alten Onkels in Ehren", sprach Sylvester, "aber mich will bedünken, daß doch etwas konsequente Bosheit dazu gehört, sich einen Überlästigen auf diese Art vom Halse zu schaffen. Ich hätte dem langweiligen Schulfreunde lieber geradehin die Türe gewiesen, wiewohl ich zugestehen will, daß es gerade in deines Onkels humoristischem Charakter lag, statt des vielleicht ärgerlichen Auftritts, den es gegeben, sich eine skurrile Theaterszene zu bereiten. Denn dafür erkläre ich den ominösen Mittag, wie du ihn geschildert. Lebhaft kann ich mir den alten Parasit denken, wie er die Qualen des Tantalus duldet, wie der Onkel immer neue Hoffnungen zu erregen und in demselben Augenblick zu vernichten weiß, wie endlich ihn die Verzweiflung ergreift -"

"Du kannst", erwiderte Theodor, "im nächsten Lustspiel Gebrauch machen von dieser artigen Szene."

"Die", fuhr Vinzenz fort, "mich übrigens lebhaft an jenes herrliche Mahl in 'Katzenbergers Badereise' und an den armen Gevatter Einnehmer erinnert, der an den Bissen, die

über die Trompetenmuskel glitten, beinahe ersticken mußte. Wiewohl diese Szene unserm Sylvester für ein neues Lustspiel eben nicht dienlich sein dürfte."

"Den vortrefflichen Katzenberger, den nur seiner robusten Zynik halber die Frauen nicht mögen", sprach Theodor, "habe ich übrigens persönlich gekannt. Er war ein Intimus meines alten Onkels, und ich kann künftig manches Ergötzliche von ihm beibringen." —Cyprian hatte in tiefen Gedanken gesessen und schien kaum gehört zu haben, was Theodor und die übrigen gesprochen. —Theodor munterte die Freunde auf, von dem warmen Punsch zu genießen, den er bereitet, weil dies Getränk das beste Gegengift gegen den bösen Einfluß der Witterung sei.

"Allerdings", sprach nun Cyprian, wie plötzlich aus dem Traum erwachend, "allerdings ist auch dieses der Keim des Wahnsinns, wo nicht schon Wahnsinn selbst." — Die Freunde schauten sich bedenklich an.

"Ha", fuhr Cyprian fort, indem er von seinem Sitz aufstand und lächelnd rundumher blickte, "ha, ich merke, daß ich den Schlußsatz laut werden ließ von dem, was ich still im Innern dachte. —Nachdem ich dieses Glas Punsch geleert und Theodors geheimnisvolle Kunst, dies Getränk nach seinen mystischen Verhältnissen der Stärke, Süße und Säure zu bereiten, gehörig gelobt, will ich nur beibringen, daß einiger Wahnsinn, einige Narrheit so tief in der menschlichen Natur bedingt ist, daß man diese gar nicht besser erkennen kann als durch sorgfältiges Studium der Wahnsinnigen und Narren, die wir gar nicht in den Tollhäusern aufsuchen dürfen, sondern die uns täglich in den Weg laufen, ja, am besten durch das Studium unseres eigenen Ichs, in dem jener Niederschlag aus dem chemischen Prozeß des Lebens genugsam vorhanden."

"Sage", rief Lothar verdrießlich, "sage, wie kamst du schon wieder auf Wahnsinn und Wahnsinnige?"

"Erzürne", erwiderte Cyprian, "erzürne dich nicht, lieber Lothar. Wir sprachen über das Talent des gesellschaftlichen

Gesprächs, und da dachte ich an zwei sich einander entgegengesetzte Charaktere, die so häufig jede gesellschaftliche Unterhaltung töten. — Es gibt nämlich Personen, die von der Idee, von der Vorstellung, die sie erfaßt, sich durchaus nicht wieder trennen können, die stundenlang, ohne Rücksicht, wie sich das Gespräch gewandt hat, immer dasselbe und wieder dasselbe wiederholen. Alles Mühen, sie mit dem Strom des Gesprächs fortzureißen, bleibt umsonst, glaubt man endlich, ihre Teilnahme an dem, was der fortschreitende Austausch der Ideen schafft, gewonnen zu haben, so kommen sie plötzlich, ehe man sich's versieht, um an den Bürgermeister in jenem Lustspiel zu erinnern, auf besagten Hammel zurück und verdammen so jenen schönen rauschenden Strom. Ihnen entgegengesetzt sind solche, die in der nächsten Sekunde vergessen, was sie in der vorigen gesprochen, welche fragen und, ohne die Antwort abzuwarten, das davon Heterogenste vorbringen, denen bei jedem Anlaß alles, mithin eigentlich nichts einfällt, das in die Form des Gesprächs taugt, die in wenigen Worten einen bunten Plunderkram von Ideen zusammenwerfen, aus dem sich nichts, das nur einigermaßen deutlich, herausfinden läßt. Auch diese töten jede gemütliche Unterhaltung und bringen zur Verzweiflung, wenn jene die ärgste Langeweile, ja wahrhaften Überdruß erregen. Aber sagt, liegt in solchen Leuten nicht der Keim, dort des fixen Wahns, hier der Narrheit, deren Charakter eben das ist, was die psychologischen Ärzte ideenflucht nennen?"

"Wohl", nahm Theodor das Wort, "wohl möcht ich noch manches sagen von der in der Tat geheimnisvollen Kunst, in Gesellschaft gut zu erzählen, die, von Ort, Zeit, individuellen Verhältnissen abhängig, sich schwer in feste Prinzipe einfügen lassen würde, mich dünkt aber, es möchte uns zu weit führen und so der eigentlichen Tendenz des würdigen Serapionsklubs entgegen sein."

"Ganz gewiß", sprach Lothar, "wir wollen uns dabei beruhigen, daß wir weder von dem Wahnsinn noch von der

Narrheit, deren unser Freund Cyprianus erwähnt hat, behaftet, daß wir vielmehr untereinander höchst vortreffliche Gesellschafter sind, die nicht allein zu sprechen, sondern auch zu hören verstehen. Ja noch mehr! —Jeder von uns hört sogar ordentlich zu, wenn der andere vorlieset, und das will viel heißen. Freund Ottmar sagte mir vor einigen Tagen, daß er eine Novelle aufgeschrieben, in welcher der berühmte dichterische Maler Salvator Rosa die Hauptrolle spiele. Mag er uns diese Novelle jetzt vorlesen."

"Nicht ohne Furcht", sprach Ottmar, indem er ein Manuskript aus der Tasche zog, "nicht ohne Furcht bin ich, daß ihr meine Novelle nicht serapiontisch finden werdet. Ich hatte im Sinn, jene gemächliche, aber anmutige Breite nachzuahmen, die in den Novellen der alten Italiener, vorzüglich des Boccaccio, herrscht, und über dieses Mühen bin ich, wie ich nur lieber gleich selbst gestehen will, weitschweifig geworden. Auch werdet ihr mir mit Recht vorwerfen, daß ich den eigentlichen Novellenton nur hin und wieder, vielleicht gar nur in den Überschriften der Kapitel getroffen. Bei diesen freien Selbstgeständnissen eines edlen Gemüts werdet ihr gewiß nicht zu strenge mit mir verfahren, sondern euch an das halten, was euch doch etwa ergötzlich und lebendig vorkommen möchte."

"Was für Vorreden", rief Lothar, "was für eine unnütze Captatio benevolentiae! Lies nur deine Novelle, mein guter Freund Ottmar, und gelingt es dir, uns recht lebendig anzuregen, daß wir deinen Salvator Rosa recht wahrhaft vor uns erschauen, so wollen wir dich als einen würdigen Serapionsbrüder anerkennen und das übrige mürrischen, tadelsüchtigen Kunstrichtern überlassen. Nicht wahr, meine vortrefflichen Serapionsbrüder?"

Die Freunde stimmten Lothar bei, und Ottmar begann:


Signor Formica


Eine Novelle



Der berühmte Maler Salvator Rosa kommt nach Rom und wird von einer gefährlichen Krankheit befallen. Was ihm in dieser Krankheit begegnet

Berühmten Leuten wird gemeiniglich viel Böses nachgesagt, gleichviel ob aus wahrhaftigem Grunde oder nicht. — So erging es auch dem wackern Maler Salvator Rosa, dessen lebendige Bilder du, geliebter Leser, gewiß nie ohne gar besondere, herzinnigliche Lust angeschaut haben wirst.

Als Salvators Ruf Neapel, Rom, Toskana, ja ganz Italien durchdrang, als die Maler, wollten sie gefallen, seinen absonderlichen Stil nachzuahmen streben mußten, gerade zu der Zeit trugen sich hämische Neider mit allerlei bösen Gerüchten, die in die herrliche Glorie seines Künstlerruhms häßliche Schattenflecke werfen sollten. Sie behaupteten, Salvator habe in einer früheren Zeit seines Lebens sich zu einer Räuberbande geschlagen und diesem ruchlosen Verkehr all die wilden, trotzigen, abenteuerlich gekleideten Gestalten zu verdanken, die er auf seinen Gemälden angebracht, so wie er auch die düstern, grauenvollen Einöden, diese selve selvagge, um mit Dante zu reden, wo er sich verbergen müssen, getreulich in seiner Landschafterei nachgebildet. Am schlimmsten war es, daß man ihm auf den Kopf zusagte, er sei in die heillose, blutige Verschwörung verwickelt gewesen, die der berüchtigte Mas'Aniello in Neapel anzettelte. Man erzählte, wie das zugegangen, mit den kleinsten Umständen.

Aniello Falcone, der Bataillenmaler (so hieß es), einer der besten Lehrmeister Salvators, entbrannte in Wut und blutdürstige Rache, als die spanischen Soldaten in einem Handgemenge einen seiner Verwandten getötet hatten. Zur Stelle rottete er einen Haufen junger verwegener Leute, mehrenteils Maler, zusammen, gab ihnen Waffen und nannte sie die Kompanie des Todes. In der Tat verbreitete

dieser Haufe alle Schauer, alles Entsetzen, das schon sein fürchterlicher Name verkündete. Truppweise durchstreiften den ganzen Tag die Jünglinge Neapel und stießen ohne Gnade jeden Spanier nieder, den sie antrafen. Noch mehr! — Sie drangen ein in die geheiligten Freistätten und mordeten auch da schonungslos den unglücklichen Gegner, der, von der Todesangst getrieben, sich dorthin geflüchtet. Nachts begaben sie sich zu ihrem Haupt, dem blutgierigen, wahnsinnigen Mas'Aniello, den sie bei dem Schein angezündeter Fackeln abmalten, so daß in kurzer Zeit Hunderte dieser Abbildungen in Neapel und der Gegend umher ausgestreut wurden.

Bei diesem mörderischen Haufen soll nun Salvator Rosa gewesen sein und tages tüchtig gemetzelt, nachts aber ebenso tüchtig gemalt haben. Wahr ist es, was ein berühmter Kunstrichter, ich glaube Taillasson, von unserm Meister sagt. Seine Werke tragen den Charakter eines wilden Stolzes, einer bizarren Energie der Gedanken und ihrer Ausführung. Nicht in der lieblichen Anmut grüner Wiesen, blühender Felder, duftender Haine, murmelnder Quellen, nein, in den Schauern gigantisch aufgetürmter Felsen oder Meeresstrände, wilder unwirtbarer Forsten tut sich ihm die Natur auf, und nicht das Flüstern des Abendwindes, das rauschende Säuseln der Blätter, nein, das Brausen des Orkans, der Donner der Katarakte ist die Stimme, die er vernimmt. Betrachtet man seine Einöden und die Männer von fremdem, wilden Ansehn, die bald einzeln, bald truppweise umherschleichen, so kommen von selbst die unheimlichen Gedanken. Hier geschah ein gräßlicher Mord, dorten wurde der blutende Leichnam in den Abgrund geschleudert und so weiter.

Mag das alles nun sein, mag Taillasson sogar recht haben, wenn er behauptet, Salvators Platon, ja selbst sein heiliger Johannes, der in der Wüste die Geburt des Heilands verkündet, sähe ein klein wenig aus wie ein Straßenräuber; mag das alles nun sein, sage ich, unrecht bliebe es doch, von den Werken auf den Meister selbst zu schließen und

zu wähnen, er, der das Wilde, Entsetzliche in vollem Leben dargestellt, müsse auch selbst ein wilder entsetzlicher Mensch gewesen sein. Wer viel von dem Schwerte spricht, führt es oft am schlechtesten; wer tief in der Seele alle Schrecknisse blutiger Greuel fühlt, daß er sie, Palette, Pinsel oder Feder in der Hand, in das Leben zu rufen vermag, ist sie zu üben am wenigsten fähig! — Genug! — ich glaube von allen bösen Gerüchten, die den wackern Salvator einen ruchlosen Räuber und Mörder schelten, durchaus nicht ein Wörtlein und wünsche, daß du, geliebter Leser, gleichen Sinnes mit mir sein mögest. Außerdem würde ich befürchten müssen, daß du vielleicht gegen alles, was ich von dem Meister dir zu erzählen eben im Begriff stehe, einige Zweifel hegen könntest, da dir mein Salvator, wie ich gedenke, als ein Mann erscheinen soll, in Feuer und Leben glühend und sprühend, aber dabei mit dem treusten, herrlichsten Gemüt begabt, das oft selbst die bittre Ironie zu beherrschen weiß, die sich, wie bei allen Menschen tiefen Geistes, aus der klarsten Anschauung des Lebens gestaltet. Übrigens ist es ja wohl bekannt, daß Salvator ein ebenso guter Dichter und Tonkünstler als Maler war. Sein innerer Genius tat sich kund in herrlicher Strahlenbrechung. — Noch einmal, ich glaube nicht daran, daß Salvator teilgehabt an Mas'Aniellos blutigen Greueln, ich denke vielmehr, daß die Schrecken der entsetzlichen Zeit ihn forttrieben von Neapel nach Rom, wo er, ein armer bedürftiger Flüchtling, gerade zu der Zeit ankam, als Mas'Aniello gefallen.

Eben nicht sonderlich gekleidet, ein schmales Beutelchen mit ein paar blassen Zechinen in der Tasche, schlich er durch das Tor, als die Nacht schon eingebrochen. Er geriet, selbst wußte er nicht wie, auf den Platz Navona. Dort hatte er sonst zu guter Zeit in einem schönen Hause, dicht neben dem Palast Pamflli gewohnt. Unmutig schaute er hinauf nach den großen Spiegelfenstern, die im Glanz der Mondesstrahlen funkelten und blitzten. "Hrn rief er mürrisch, "das wird bunte Leinwand kosten, ehe ich dort oben wieder

meine Werkstatt aufschlage!" — Aber da fühlte er sich auf einmal wie an allen Gliedern gelähmt und dabei kraft- und mutlos, wie noch niemals in seinem Leben. "Werd ich wohl", murmelte er zwischen den Zähnen, indem er sich niederließ auf die steinernen Stufen vor der Türe des Hauses, "werde ich denn aber wohl bunte Leinwand genug fördern können, wie sie die Narren wollen? — Hm! — mich will's bedünken, es wär damit am Ende!"

Ein kalter schneidender Nachtwind durchstrich die Straßen. Salvator fühlte die Notwendigkeit, ein Obdach zu suchen. Er stand mühsam auf, wankte fort, kam nach dem Korso, bog ein in die Straße Bergognona. Da stand er still vor einem kleinen, nur zwei Fenster breiten Hause, das eine arme Witwe mit ihren beiden Töchtern bewohnte. Die hatte ihn aufgenommen für geringes Geld, als er zum erstenmal nach Rom kam, von niemanden gekannt und geachtet, und bei dieser Witwe gedachte er wohl wieder ein Unterkommen zu finden, wie es nun gerade seiner schlimmen Lage angemessen.

Er klopfte getrost an die Tür und rief mehrmals seinen Namen hinein. Endlich hörte er, wie die Alte sich mühsam aus dem Schlafe ermunterte. Sie pantoffelte hinan ans Fenster und schalt heftig, welcher Schelm sie mitten in der Nacht turbiere, ihr Haus sei keine Schenke und so weiter. Da kostete es viel Hin- und Herreden, bis sie ihren alten Hausgenossen an der Stimme wiedererkannte; und als nun Salvator klagte, wie er von Neapel fortgeflüchtet und in Rom kein Obdach finden könne, da rief die Alte: "Ach, um Christus' und aller Heiligen willen! — Seid Ihr es, Signor Salvator? — Nun! Euer Stübchen oben nach dem Hofe heraus steht noch leer, und der alte Feigenbaum hat nun ganz und gar seine Zweige und Blätter in die Fenster hineingehängt, so daß Ihr sitzen und arbeiten könnt wie in einer schönen kühlen Laube! —Ei, was werden sich meine Töchter freuen, daß Ihr wieder da seid, Signor Salvator. — Aber wißt Ihr wohl, daß die Margerita recht groß und schön geworden

ist? — Die werdet Ihr nicht mehr auf dem Knie schaukeln! — Euer Kätzchen, denkt Euch, ist vor drei Monaten an einer Fischgräte erstickt. Nun, das Grab ist unser aller Erbteil. Aber wißt Ihr wohl, daß die dicke Nachbarin, über die Ihr so oft gelacht, die Ihr so oft gar possierlich abgezeichnet, wißt Ihr wohl, daß sie doch noch den jungen Menschen, den Signor Luigi, heiratet? Nun! nozze e magistrati sono da Dio destinati! — Ehen werden im Himmel geschlossen, sage ich."

"Aber", unterbrach Salvator die Alte, "aber Signora Caterina, ich bitte Euch um aller Heiligen willen, laßt mich doch nur erst hinein und erzählt mir dann von Euerm Feigenbaum, von Euern Töchtern, vom Kätzchen und der dicken Nachbarin! — Ich vergehe vor Müdigkeit und Frost."

"Nun seht mir die Ungeduld", rief die Alte. "Chi va piano, va sano, chi va presto, more lesto - eile mit Weile, sage ich! Doch Ihr seid müde, Ihr friert; also rasch die Schlüssel, rasch die Schlüssel!"

Aber nun mußte die Alte erst die Töchter wecken, dann langsam, langsam Feuer anschlagen! — Endlich öffnete sie dem armen Salvator die Tür; doch kaum war der in die Hausflur getreten, als er, von Ermattung und Krankheit überwältigt, wie tot zu Boden niederstürzte. Zum Glück war der Sohn der Witwe, der sonst in Tivoli wohnte, gerade bei ihr eingekehrt. Der wurde nun auch aus dem Bette geholt, das er gar gern dem kranken Hausfreund einräumte.

Die Alte liebte den Salvator gar sehr, setzte ihn, was seine Kunst betraf, über alle Maler in der Welt und hatte überhaupt an allem, was er begann, die herzlichste Freude. Ganz außer sich war sie daher über seinen bejammernswerten Zustand und wollte gleich fortrennen nach dem nahe gelegenen Kloster und ihren Beichtvater holen, daß er komme und mit geweihten Kerzen oder irgendeinem tüchtigen Amulett die feindliche Macht bekämpfe. Der Sohn meinte dagegen, es sei beinahe besser, sich gleich nach einem tüchtigen Arzt umzusehen, und sprang auf der Stelle fort nach dem Spanischen Platz, wo, wie er wußte, der berühmte Doktor

Splendiano Accoramboni wohnte. Sowie der hörte, daß der Maler Salvator Rosa in der Straße Bergognona krank darniederläge, war er sogleich bereit, sich bald bei dem Patienten einzufinden.

Salvator lag besinnungslos im stärksten Fieber. Die Alte hatte ein paar Heiligenbilder über dem Bette aufgehängt und betete eifrig. Die Töchter, in Tränen schwimmend, mühten sich, dem Kranken dann und wann einige Tropfen von der kühlenden Limonade einzuflößen, die sie bereitet, während der Sohn, der am Kopfende Platz genommen, ihm den kalten Schweiß von der Stirne trocknete. So war der Morgen herangekommen, als die Tür mit vielem Geräusch aufging und der berühmte Doktor Signor Splendiano Accoramboni eintrat.

Wäre nur Salvator nicht so auf den Tod krank und darüber so gar großes Herzeleid gewesen, die beiden Dirnen, mein ich, hätten, mutwillig und lustig, wie sie sonst waren, laut aufgelacht über des Doktors verwunderliches Ansehn, statt daß sie sich jetzt, ganz erschrocken, scheu in die Ecke zurückzogen. Es ist der Mühe wert, zu sagen, wie das Männlein aussah, das in der Morgendämmerung bei der Frau Caterina in der Straße Bergognona erschien. Aller Anlagen zum vortreiflichsten Wachstum unerachtet, hatte es der Herr Doktor Splendiano Accoramboni doch nicht ganz bis zu der ansehnlichen Größe von vier Schuh bringen können. Dabei war er aber in seinen jungen Jahren von dem zierlichsten Gliederbau, und ehe der von Haus aus etwas unförmliche Kopf durch die dicken Backen und das stattliche Doppelkinn zu viel Anwuchs gewonnen, ehe die Nase durch überreichliche Spaniol-Atzung sich zu sehr in die Breite gemästet, ehe das Bäuchlein sich durch Makkaronifutter zu sehr in die Spitze hinausgetrieben, stand ihm die Abbatenkleidung, die er damals trug, allerliebst. Er war mit Recht ein niedliches Männlein zu nennen, und die römischen Damen hießen ihn deshalb auch in der Tat ihren caro pupazzetto, ihren lieben Püppling.

Jetzt war das nun freilich vorüber, und ein deutscher Maler meinte, als er den Herrn Doktor Splendiano über den Spanischen Platz wandeln sah, nicht ganz mit Unrecht, der Mann sähe aus, als sei ein baumstarker, sechs Fuß hoher Kerl unter seinem eignen Kopf davongelaufen, und der sei auf den Körper eines kleinen Marionetten-Puicinells gefallen, der ihn nun wie seinen eignen herumtragen müsse. — Diese kleine absonderliche Figur hatte sich in eine unbillige Menge großgeblümten venezianischen Damastes, die zu einem Schlafrock verschnitten, gesteckt, dicht unter der Brust einen breiten ledernen Gurt umgeschnallt, an dem ein drei Ellen langer Stoßdegen hing, und auf der schneeweißen Perücke eine hohe spitze Mütze, die dem Obelisk auf dem Petersplatz nicht unähnlich, aufgerichtet. Da besagte Perücke, einem wirren, zerzausten Gewebe gleich, dick und breit über den ganzen Rücken herabbauschte, so konnte sie füglich für den Kokon gelten, aus dem der schöne Seidenwurm hervorgekrochen.

Der würdige Splendiano Accoramboni glotzte durch seine großen funkelnden Brillengläser erst den kranken Salvator, dann die Frau Caterina an und rief diese beiseite. "Da liegt", schnarrte er halbleise, "da liegt nun der tüchtige Maler Salvator Rosa todkrank bei Euch, Frau Caterina, und er ist verloren, wenn ihn nicht meine Kunst rettet! —Sagt mir doch, seit wann ist er bei Euch eingekehrt? — Hat er viele schöne große Bilder mitgebracht?"

"Ach, lieber Herr Doktor", erwiderte Frau Caterina, "erst in dieser Nacht kehrte mein armer Sohn bei mir ein, und was die Bilder betrifft, so weiß ich noch nichts davon; aber unten steht eine große Kiste, die bat mich Salvator, ehe er so besinnungslos wurde, wie Ihr ihn jetzt seht, wohl und sorgfältig zu bewahren. Es ist wohl ein gar schönes Gemälde dareingepackt, das er in Neapel gemalt."

Das war nun eine Lüge, die Frau Caterina vorbrachte; aber wir werden schon erfahren, welchen guten Grund sie dazu hatte, dem Herrn Doktor dergleichen aufzubinden.

"So, so", sprach der Doktor, strich sich schmunzelnd den Bart, näherte sich so gravitätisch, als es der lange Stoßdegen, mit dem er überall an Stühlen und Tischen hängenblieb, nur zulassen wollte, dem Kranken, faßte seine Hand, befühlte seinen Puls, indem er dabei ächzte und schnaufte, welches in der andächtigen Todesstille, in die alle versunken, wunderlich genug klang. Dann nannte er einhundertundzwanzig Krankheiten auf lateinisch und griechisch, die Salvator nicht habe, dann beinahe ebensoviel, von denen er hätte befallen werden können, und schloß damit, daß er die Krankheit Salvators zwar vor der Hand nicht zu nennen wisse, binnen einiger Zeit aber schon einen passenden Namen dafür und mit diesem auch die gehörigen Mittel dagegen finden werde. — Dann ging er ebenso gravitätisch ab, wie er gekommen, und ließ alle in Angst und Besorgnis zurück.

Unten verlangte der Doktor Salvators Kiste zu sehen. Frau Caterina zeigte ihm wirklich eine, in der ein paar abgelegte Mäntel ihres seligen Eheherrn nebst einigem zerrissenen Schuhwerk wohl eingepackt lagen. Der Doktor klopfte lächelnd auf der Kiste hin und her und sprach zufrieden: "Wir werden sehen, wir werden sehen!" — Nach einigen Stunden kehrte der Doktor zurück mit einem sehr schönen Namen für Salvators Krankheit und einigen großen Flaschen eines übelriechenden Tranks, den er dem Kranken unaufhörlich einzuflößen befahl. Das kostete Mühe, denn der Kranke gab seinen größten Widerwillen, ja seinen höchsten Abscheu gegen die Arzenei zu erkennen, die aus dem Acheron selbst geschöpft schien. Sei es aber, daß Salvators Krankheit nun, da sie einen Namen erhalten und also wirklich was vorstellte, sich erst recht herrisch bewies oder daß Spiendianos Trank zu kräftig in den Eingeweiden tobte, genug, mit jedem Tage, ja mit jeder Stunde wurde der arme Salvator schwächer und schwächer, so daß, unerachtet der Doktor Splendiano Accoramboni versicherte, wie nach dem gänzlichen Stillstehen des Lebensprozesses er der Maschine, gleich dem Perpendikel einer Uhr, einen Stoß zu neuer

Schwungkraft geben werde, alle an Salvators Aufkommen zweifelten und meinten, der Herr Doktor möge vielleicht dem Perpendikel schon einen solchen unziemlichen Stoß gegeben haben, daß er gänzlich erlahmt sei.

Eines Tages begab es sich, daß Salvator, der kaum ein Glied zu rühren fähig schien, plötzlich in brennende Fieberglut geriet, erkräftigt aus dem Bette sprang, die vollen Arzneiflaschen ergriff und sie wütend durch das Fenster schleuderte. Der Doktor Splendiano Accoramboni wollte gerade ins Haus treten, und so geschah es, daß ein paar Flaschen, ihn treffend, auf seinem Kopfe zerklirrten und der braune Trank sich in reichen Strömen über Gesicht, Perücke und Halskrause ergoß. Der Doktor sprang schnell ins Haus und schrie wie besessen: "Signor Salvator ist toll geworden, in Raserei gefallen, keine Kunst kann ihn retten, er ist tot in zehn Minuten. Her mit dem Bilde, Frau Caterina, her mit dem Bilde, das ist mein, der geringe Lohn meiner Mühe! Her mit dem Bilde, sag ich."

Als nun aber Frau Caterina die Kiste öffnete und der Doktor Splendiano die alten Mäntel und das zerrissene Schuhwerk zu Gesichte bekam, rollten seine Augen wie ein paar Feuerräder im Kopfe; er knirschte mit den Zähnen, stampfte mit den Füßen, übergab den armen Salvator, die Witwe, das ganze Haus allen Teufeln der Hölle und stürzte pfeilschnell, wie aus der Mündung einer Kanone geschossen, fort zum Hause hinaus.

Salvator fiel, da der wütende Paroxysmus des heftigsten Fiebers vorüber, aufs neue in einen todähnlichen Zustand. Frau Caterina glaubte nicht anders, als Salvators Ende sei nun wirklich herangekommen; rannte daher schnell nach dem Kloster und holte den Pater Bonifacio, daß er dem Sterbenden das Sakrament reiche. Als Pater Bonifaz den Kranken erblickte, meinte er, die gar besondern Züge, die der Tod auf des Menschen Antlitz zeichne, wenn er ihn erfassen wolle, kenne er gar gut; bei dem ohnmächtigen Salvator sei zur Zeit nichts davon zu spüren und Hülfe noch

möglich, die er ihm gleich verschaffen wolle, nur dürfe der Herr Doktor Splendiano Accoramboni mit seinen griechischen Namen und höllischen Flaschen nicht mehr über die Schwelle. Der gute Pater machte sich sogleich auf den Weg, und wir werden erfahren, daß er, was die versprochene Hülfe betraf, Wort hielt.

Salvator erwachte aus seiner Ohnmacht, und da dünkte es ihm, er läge in einer schönen duftigen Laube, denn über ihm rankten sich grüne Zweige und Blätter. Er fühlte, wie eine wohltätige Lebenswärme ihn durchströmte, nur war es ihm, als sei sein linker Arm gefesselt. — "Wo bin ich?" rief er mit matter Stimme. Da stürzte ein junger Mensch von hübschem Ansehn, der an seinem Bette gestanden und den er jetzt erst gewahrte, nieder auf die Knie, ergriff seine rechte Hand, küßte sie, benetzte sie mit heißen Tränen, rief ein Mal über das andere: "0 mein bester Herr! — mein hoher Meister! — nun ist alles gut - Ihr seid gerettet, Ihr werdet gesunden

"Aber sagt mir nur", fing Salvator an - doch der junge Mensch bat ihn, sich ja in seiner großen Mattigkeit nicht durch Reden anzustrengen, er wolle erzählen, wie es sich mit ihm begeben. "Seht", begann der junge Mensch, "seht, mein lieber hoher Meister, Ihr wart wohl sehr krank, als Ihr von Neapel hier ankamt; aber so zum Tode gefährlich mochte doch wohl Euer Zustand nicht sein, und geringe Mittel angewandt, hätte Euch Eure starke Natur in kurzer Zeit wieder auf die Beine geholfen, wäret Ihr nicht durch Karlos gutgemeintes Ungeschick, der gleich nach dem nächsten Arzte rannte, dem unseligen Pyramiden-Doktor in die Hände geraten, der alle Anstalten machte, Euch unter die Erde zu bringen."

"Was", rief Salvator und lachte, so matt wie er war, recht herzlich, "was sagt Ihr? — dem Pyramiden-Doktor? — Ja, ja, trotz meiner Krankheit habe ich es wohl gesehen, der kleine damastne Kerl, der mich zu dem abscheulichen ekelhaften Höllengesöff verdammte, trug den Obelisk vom Petersplatz

auf dem Kopfe, und darum heißt Ihr ihn den Pyramiden-Doktor!"

"0 heiliger Gott", sprach der junge Mensch, indem er ebenfalls laut auflachte, "da ist Euch der Doktor Splendiano Accoramboni in seiner spitzen verhängnisvollen Nachtmütze erschienen, in der er, wie ein unheilbringendes Meteor, jeden Morgen auf dem Spanischen Platz zum Fenster hinausleuchtet. Aber dieser Mütze wegen heißt er keinesweges der Pyramiden-Doktor, vielmehr hat es damit eine ganz andere Bewandtnis. — Der Doktor Splendiano ist ein großer Liebhaber von Gemälden und besitzt auch in der Tat eine ganz auserlesene Gemäldesammlung, die er sich durch eine besondere Praktik erworben. Er stellt nämlich den Malern und ihren Krankheiten mit Schlauigkeit und Eifer nach. Vorzüglich fremde Meister, haben sie nur einmal ein paar Makkaroni zuviel gegessen oder ein Glas Syrakuser mehr als dienlich getrunken, weiß er in sein Garn zu locken und hängt ihnen bald diese, bald jene Krankheit an, die er mit einem ungeheuern Namen tauft und darauf los kuriert. Für die Kur läßt er sich ein Gemälde versprechen, das er, da nur besonders hartnäckige Naturen seinen kräftigen Mitteln widerstehen, gewöhnlich aus dem Nachlaß des armen fremden Malers holt, den sie nach der Pyramide des Cestius getragen und eingescharrt. Daß Signor Splendiano dann immer das Beste wählt, was der Maler gefertigt, und dann noch manches andere Bild mitgehen heißt, versteht sich von selbst. Der Begräbnisplatz bei der Pyramide des Cestius ist das Saatfeld des Doktors Splendiano Accoramboni, das er fleißig bestellt, und deshalb wird er der Pyramiden-Doktor genannt. Zum Überfluß hatte Frau Caterina, freilich in guter Absicht, dem Doktor eingebildet, Ihr hättet ein schönes Gemälde mitgebracht, und nun könnt Ihr denken, mit welchem Eifer er für Euch seine Tränke kochte. — Euer Glück, daß Ihr im Fieberparoxysmus dem Doktor seine Flaschen auf den Kopf warf, ein Glück, daß er zornig Euch verließ, ein Glück, daß Frau Caterina den Pater Bonifacio holte, Euch,

den sie in Todesnöten glaubte, mit dem Sakrament zu versehen. Pater Bonifacio versteht sich etwas auf die Heilkunde, er beurteilte Euern Zustand ganz richtig, er holte mich."

"Also seid Ihr auch ein Doktor?"fragte Salvator mit matter weinerlicher Stimme.

"Nein", erwiderte der Jüngling, indem ihm hohe Röte ins Gesicht stieg, "nein, mein lieber, hoher Meister, ich bin keinesweges ein Doktor wie Signor Splendiano Accoramboni, aber wohl ein Wundarzt. Ich dachte, ich müsse in die Erde versinken vor Schreck - vor Freude, als Pater Bonifacio mir sagte, Salvator Rosa liege todkrank in der Straße Bergognona und bedürfe meiner Hülfe. Ich eilte her, ich schlug Euch eine Ader am linken Arm; Ihr wart gerettet! Wir brachten Euch hieher in das kühle luftige Zimmer, das Ihr sonst bewohntet. Schaut um Euch, dort steht noch die Staffelei, die Ihr zurückließet; dort liegen noch ein paar Handzeichnungen, die Frau Caterina aufbewahrt hat, wie ein Heiligtum. — Eure Krankheit ist gebrochen; einfache Mittel, die Euch Pater Bonifacio bereitet, und gute Pflege werden Euch bald ganz erkräftigen. — Und nun erlaubt, daß ich noch einmal diese Hand küsse, diese schöpferische Hand, die die verborgensten Geheimnisse der Natur ins rege Leben zaubert! —Erlaubt, daß der arme Antonio Scacciati sein ganzes Herz ausströmen lasse in Entzücken und feurigen Dank, daß der Himmel es ihm verstattete, dem hohen, herrlichen Meister Salvator Rosa das Leben zu retten." — Und damit stürzte der Jüngling aufs neue nieder auf die Knie, ergriff Salvators Hand, küßte sie und benetzte sie mit heißen Tränen, wie zuvor.

"Ich weiß nicht", sprach Salvator, indem er sich mühsam etwas in die Höhe richtete, "ich weiß nicht, lieber Antonio, welcher besondere Geist Euch treibt, daß Ihr mir so gar große Verehrung beweiset. Ihr seid, wie Ihr sagt, ein Wundarzt, und dies Gewerbe pflegt sich doch sonst mit der Kunst schwer zu paaren?"

"Wenn Ihr", erwiderte der Jüngling mit niedergeschlagenen

Augen, "wenn Ihr, mein lieber Meister, wieder mehr bei Kräften seid, so werde ich Euch manches sagen, was mir jetzt schwer auf dem Herzen liegt."

"Tut das", sprach Salvator, "faßt volles Vertrauen zu mir. Ihr könnt das; denn ich wüßte nicht, welches Menschen Anblick mir mehr ins treue Gemüt gedrungen als der Eurige. — Je mehr ich Euch anschaue, desto klarer geht es mir auf, daß Euer Antlitz Spuren trägt einer Ähnlichkeit mit dem göttlichen Jüngling - ich meine den Sanzio!" — Antonios Augen leuchteten hoch auf in blitzendem Feuer - er schien vergebens nach Worten zu ringen.

In dem Augenblick trat Frau Caterina mit dem Pater Bonifacio herein, der dem Salvator ein Getränk brachte, das er kunstverständig zubereitet und das dem Kranken besser mundete und bekam als das acherontische Wasser des Pyramiden-Doktors Splendiano Accoramboni.



Antonio Scacciati kommt durch Salvator Rosas Vermittlung zu hoben Ehren. Er entdeckt die Ursache seiner fortdauernden Betrübnis dem Salvator, der ihn tröstet und zu helfen verspricht

Es kam so, wie Antonio vorausgesagt. Die einfachen, heilbringenden Mittel des Pater Bonifacio, die sorgsame Pflege der guten Frau Caterina und ihrer Töchter, die milde Jahreszeit, die eben eintrat, alles schlug bei dem von Natur kräftigen Salvator so gut an, daß er sich bald gesund genug fühlte, an seine Kunst zu denken, und fürs erste tüchtige Handzeichnungen entwarf, die er künftig auszuführen gedachte.

Antonio verließ beinahe gar nicht Salvators Zimmer, er war ganz Aug, wenn Salvator seine Skizzen entwarf; und sein Urteil über manches zeigte, daß er eingeweiht sein mußte in die Geheimnisse der Kunst.

"Hört", sprach Salvator eines Tages zu ihm, "hört, Antonio, Ihr versteht Euch so gut auf die Kunst, daß ich

glaube, Ihr habt nicht allein vieles mit richtigem Verstande angeschaut, sondern wohl gar selbst den Pinsel in der Hand gehabt."

"Erinnert", erwiderte Antonio, "erinnert Euch, mein lieber Meister, daß ich schon damals, als Ihr aus tiefer Ohnmacht zur Genesung erwachtet, Euch sagte, schwer läge manches auf meinem Herzen. Nun ist es wohl an der Zeit, daß ich mein Inneres Euch ganz und gar offenbare! — Seht, so wie ich der Wundarzt Antonio Scacciati bin, der Euch die Ader schlug, so gehöre ich doch ganz und gar der Kunst an, der ich mich nun auch ganz ergeben will, das verhaßte Handwerk beiseite werfend!"

"Hoho", rief Salvator, "hoho, Antonio, bedenkt, was Ihr tut. Ihr seid ein geschickter Wundarzt und werdet vielleicht ein stümperhafter Maler werden und bleiben; denn verzeiht, so jung Ihr noch an Jahren sein möget, so seid Ihr doch schon zu alt, um jetzt noch die Kohle zur Hand zu nehmen. Reicht doch kaum ein Menschenalter hin, um nur zu einiger Erkenntnis des Wahrhaftigen - und noch mehr zur praktischen Fähigkeit, es darzustellen, zu gelangen!"

"Ei", erwiderte Antonio mild lächelnd, "ei, mein lieber Meister, wie sollte mir der wahnsinnige Gedanke kommen, jetzt mich zur schweren Malerkunst zu wenden, hätt ich nicht, wie ich nur konnte, schon von Kindesbeinen an die Kunst getrieben, hätt es nicht der Himmel gewollt, daß ich, durch meines Vaters Starrsinn von allem zurückgehalten, was Kunst heißt, doch in die Nähe berühmter Meister kam. Wißt, daß der große Annibal sich des verlaßnen Knaben annahm, wißt, daß ich mich wohl recht eigentlich Guido Renis Schüler nennen darf."

"Nun", sprach Salvator etwas scharf, wie es zuweilen in seiner Art lag, "nun, wackerer Antonio, so habt Ihr ja gar große Lehrer gehabt, und so kann es gar nicht fehlen, daß Ihr, Eurer Wundarzneikunst unbeschadet, auch ein großer Schüler sein müßt. — Nur begreife ich nicht, wie Ihr, ein treuer Anhänger des sanften, zierlichen Guido, den Ihr vielleicht

- die Schüler tun ja das wohl im Enthusiasmus - in Euern Gemälden noch überzierlicht, wie Ihr da einiges Wohlgefallen an meinen Bildern finden, wie Ihr mich wirklich für einen Meister der Kunst halten könnt."

Dem Jüngling stieg hohe Glut ins Gesicht bei diesen Worten Salvators, die auch wohl beinahe klangen wie verhöhnender Spott.

"Laßt", sprach er, "laßt mich jetzt alle Scheu, die sonst mir den Mund verschließt, beiseite setzen, laßt mich alles frei heraussagen, wie ich es in mir trage. — Seht, Salvator, niemals habe ich einen Meister so aus dem tiefsten Grunde meiner Seele verehrt als eben Euch. Es ist die oft übermenschliche Größe der Gedanken, die ich in Euren Werken anstaune. Ihr erfaßt die tiefsten Geheimnisse der Natur, Ihr erschaut die wunderbaren Hieroglyphen ihrer Felsen, ihrer Bäume, ihrer Wasserfälle, Ihr vernehmt ihre heilige Stimme, Ihr versteht ihre Sprache und habt die Macht, es aufzuschreiben, was sie zu Euch gesprochen. — Ja, ein Aufschreiben möcht ich Euer keckes, kühnes Malen nennen. — Der Mensch allein mit seinem Treiben genügt Euch nicht, Ihr schaut den Menschen nur in dem Kreise der Natur und insofern sein innerstes Wesen durch ihre Erscheinungen bedingt ist; deshalb, Salvator, seid Ihr auch nur wahrhaft groß in Euern wunderbar staffierten Landschaften. Das historische Bild setzt Euch Grenzen, die Euern Flug hemmen zum Nachteil der Darstellung -"

"Das", unterbrach Salvator den Jüngling, "das redet Ihr den neidischen Historienmalern nach, Antonio, die mir die Landschaft hinwerfen wie einen guten Bissen, an dem ich kauen und ihr eigenes Fleisch verschonen soll! — Ob ich mich wohl auf menschliche Figuren und auf alles, was dem anhängig, verstehe? —Aber das tolle Nachreden -"

"Werdet", fuhr Antonio fort, "werdet nicht ungehalten, mein lieber Meister, ich rede niemanden etwas blindlings nach, und am wenigsten darf ich jetzt dem Urteil unserer Meister hier in Rom trauen! — Wer wird die kühne Zeichnung,

den wunderbaren Ausdruck, vorzüglich aber die lebendige Bewegung Eurer Figuren nicht hoch bewundern! — Man merkt es, daß Ihr nicht nach dem steifen, ungelenken Modell oder gar nach der toten Gliederpuppe arbeitet; man merkt es, daß Ihr selbst Euer reges lebendiges Modell seid, indem Ihr, wann Ihr zeichnet oder malt, vor einem großen Spiegel die Figur darstellt, die Ihr auf die Leinwand zu bringen im Sinne habt!"

"Der Tausend! Antonio", rief Salvator lachend, "ich glaube, Ihr habt schon öfters, ohne daß ich es eben gewahr worden, in meine Werkstatt geguckt, da Ihr so genau wisset, wie es darin hergeht?"

"Könnte das nicht sein?" erwiderte Antonio, "doch laßt mich weitersprechen! — Die Bilder, die Euch Euer mächtiger Geist eingibt, möcht ich gar nicht so ängstlich in ein Fach stellen, wie die pedantischen Meister zu tun sich mühen. In der Tat, was man gewöhnlich Landschaft nennt, paßt schlecht auf Eure Gemälde, die ich lieber historische Darstellungen im tiefern Sinne nennen möchte. Scheint oft dieser, jener Felsen, dieser, jener Baum wie ein riesiger Mensch mit ernstem Blick uns anzuschauen, so gleicht diese, jene Gruppe seltsam gekleideter Menschen wiederum einem wunderbaren, lebendig gewordnen Gestein; die ganze Natur, im harmonischen Einklang sich regend, spricht den erhabenen Gedanken aus, der in Euch aufglühte. So hab ich Eure Gemälde betrachtet, und auf diese Weise verdanke ich ihnen, Euch, mein hoher, herrlicher Meister, allein das tiefere Verständnis der Kunst. — Glaubt deshalb nicht, daß ich in kindische Nachahmerei verfallen. — Sosehr ich mir die Freiheit, die Keckheit Eures Pinsels wünsche, so muß ich doch gestehen, daß mir die Färbung in der Natur anders erscheint, als ich sie auf Euern Gemälden erblicke. Ist es, meine ich, auch der Praktik wegen, dem Schüler heilsam, den Stil dieses oder jenes Meisters nachzuahmen, so muß et, steht er nur einigermaßen auf eigenen Füßen, doch darnach ringen, die Natur so darzustellen, wie er sie erschaut! — Dieses

wahrhafte Schauen, diese Einigkeit mit sich selbst kann ja nur allein Charakter und Wahrheit erzeugen. — Guido war dieser Meinung, und der unruhige Preti, den sie, wie Euch bekannt ist, den Calabrese nennen, ein Maler, der gewiß wie kein andrer über seine Kunst nachgedacht hat, warnte mich ebenso vor aller Nachahmerei! — Nun wißt Ihr, Salvator, warum ich Euch so überaus verehre, ohne Euer Nachahmer zu sein."

Salvator hatte dem Jüngling, während er sprach, starr in die Augen geschaut, jetzt riß er ihn stürmisch an die Brust.

"Antonio", sprach er dann, "Ihr habt in diesem Augenblick gar weise tiefsinnige Worte gesagt. — So jung Ihr an Jahren seid, so möget Ihr es doch, was das wahre Verständnis der Kunst betrifft, manchem von unsern alten, hochgepriesenen Meistern zuvortun, die viel Abenteuerliches von ihrem Malen faseln, ohne jemals der Sache auf den Grund zu kommen. Wahrhaftig! als Ihr von meinen Bildern spracht, war es, als würde ich mir selbst erst recht klar, und daß Ihr meinen Stil nicht nachahmt, daß Ihr nicht, wie manche andere, den schwarzen Farbentopf zur Hand nehmt, grelle Lichter aufsetzet oder gar ein paar verkrüppelte Gestalten mit abscheulichen Gesichtern aus der kotigen Erde herausgucken laßt und dann meint, der Salvator sei fertig: eben darum schätze ich Euch gar hoch. — Wie Ihr da seid, habt Ihr an mir den treusten Freund gefunden! — Ich gebe mich Euch hin mit ganzer Seele!"

Antonio war außer sich vor Freude über das Wohlwollen, das ihm der Meister so mit aller Gemütlichkeit bezeugte. Salvator äußerte lebhaftes Verlangen, Antonios Bilder zu sehen. Antonio führte ihn zur Stelle in seine Werkstatt.

Nicht Geringes hatte Salvator von dem Jünglinge erwartet, der so verständig über die Kunst gesprochen, in dem ein besonderer Geist sich zu regen schien; und doch wurde der Meister durch Antonios reiche Bilder gar höchlich überrascht. Er fand überall kühne Gedanken, korrekte Zeichnung, und das frische Kolorit, der große Geschmack in dem

breiten Faltenwurf, die ungemeine Zierlichkeit der Extremitäten, die hohe Anmut der Köpfe zeigte den würdigen Schüler des großen Reni, wiewohl das Bestreben Antonios, nicht, wie jenes Meisters, der das wohl zu tun pflegte, den Ausdruck der Schönheit zu opfern, oft zu sichtlich hervortrat. Man sah, Antonio rang nach Annibals Stärke, ohne sie zur Zeit erreichen zu können.

In ernstem Schweigen hatte Salvator jedes von Antonios Gemälden lange Zeit hindurch betrachtet, dann sprach er: "Hört, Antonio, es ist wohl nun nicht anders, Ihr seid recht eigentlich für die edle Malerkunst geboren. Denn nicht allein, daß die Natur Euch den schöpferischen Geist gegeben hat, der in unversiegbarem Reichtum die herrlichsten Gedanken entflammt, sie verlieh Euch auch das seltene Talent, das in kurzer Zeit die Schwierigkeiten der Praktik überwindet. — Ich würde lügenhaft schmeicheln, wenn ich Euch sagen sollte, daß Ihr jetzt schon Eure Meister, daß Ihr Guidos wunderbare Anmut, daß Ihr Annibals Stärke erreicht habt; aber gewiß ist es, daß Ihr unsere Meister, die sich hier in der Akademie San Luca so brüsten, den Tiarini, den Gessi, den Sementa, und wie sie alle heißen, ja selbst den Lanfranco nicht ausgenommen, der nur auf Kalk zu malen versteht, weit übertrefft. — Und doch, Antonio! und doch würde ich mich, wär ich an Eurer Stelle, besinnen, ob ich die Lanzette ganz und gar wegwerfen und den Pinsel allein zur Hand nehmen solle! — Das klingt sonderbar, aber hört mich an! — Es ist jetzt in der Kunst eine böse Zeit eingetreten, oder vielmehr, der Teufel scheint geschäftig zu sein unter unsern Meistern und sie wacker zu hetzen! — Seid Ihr nicht darauf gefaßt, Kränkungen jeder Art zu erfahren, je höher Ihr in der Kunst steigt, desto mehr Hohn und Verachtung zu leiden, überall, sowie Euer Ruhm sich verbreitet, auf hämische Bösewichter zu stoßen, die mit freundlicher Miene sich an Euch drängen, um Euch desto sicherer zu verderben, seid Ihr, sage ich, auf alles das nicht gefaßt, so bleibt weg von der Malerei! — Denkt an das Schicksal Eures

Lehrers, des großen Annibal, den ein schurkischer Haufe von Kunstgenossen in Neapel tückisch verfolgte, so daß er kein einziges großes Werk auszuführen bekam, sondern überall mit Verachtung abgewiesen wurde, was ihm denn den frühen Tod zuzog! — Denkt doch nur daran, wie es unserm Domenichino erging, als er die Kuppel in der Kapelle des heiligen Januars malte. Bestachen nicht die Bösewichter von Malern - ich will nun eben keinen nennen, auch nicht den Schurken Belisario und den Ribera! — bestachen die nicht Domenichinos Diener, daß er Asche unter den Kalk werfen solle? So konnte das Bewerfen der Mauer nicht binden und die Malerei keinen Bestand haben. — Denkt an das alles und prüft Euch wohl, ob Euer Gemüt stark genug ist, dergleichen zu ertragen, denn sonst wird Eure Kraft gebrochen, und mit dem festen Mut, zu schaffen, geht auch die Fähigkeit dazu verloren!"

"Ach, Salvator", erwiderte Antonio, "es ist wohl kaum möglich, daß ich, habe ich mich dann ganz und gar zu den Malern geschlagen, mehr Hohn und Verachtung erdulden kann, als es jetzt schon geschehen ist, da ich noch Wundarzt bin. — Ihr habt Wohlgefallen gefunden an meinen Gemälden, ja, Ihr habt es, und doch wohl aus innerer Überzeugung ausgesprochen, daß ich Tüchtigeres zu schaffen vermag als manche von unsern Lucanern; und doch sind es ebendiese, die über alles, was ich mit großem Fleiß hervorgebracht, die Nase rümpfen und verächtlich sprechen: ,Seht doch, der Wundarzt will malen!' — Ebendarum steht aber mein Entschluß fest, mich von einem Gewerbe ganz zu trennen, das mir mit jedem Tage verhaßter wird! — Auf Euch, mein würdiger Meister, habe ich aber nun meine ganze Hoffnung gestellt! — Euer Wort gilt viel, Ihr könnt, wollt Ihr für mich sprechen, mit einemmal meine neidischen Verfolger zu Boden schlagen, Ihr könnt mich hinstellen an den Platz, wo ich hingehöre!"

"Ihr habt", erwiderte Salvator, "Ihr habt viel Vertrauen zu mir; aber, nachdem wir uns so recht über unsere Kunst

verständigt, nachdem ich Eure Werke gesehen, wüßte ich auch in der Tat nicht, für wen ich lieber mit aller meiner Kraft in den Kampf gehen sollte als eben für Euch!"

Salvator betrachtete noch einmal Antonios Gemälde und blieb vor einem stehen, das eine Magdalena zu des Heilands Füßen darstellte und das er ganz besonders pries.

"Ihr seid", sprach er, "von der gewöhnlichen Art, wie man diese Magdalena darstellt, abgewichen. Eure Magdalena ist nicht die ernste Jungfrau, sondern mehr ein unbefangenes, liebliches Kind, aber ein so wunderbares, wie es Guido nur hätte schaffen können. — Es liegt ein besonderer Zauber in der holden Gestalt; Ihr habt mit Begeisterung gemalt, und irr ich nicht, so lebt das Original dieser Magdalena und ist hier in Rom zu finden. — Gesteht es, Antonio! — Ihr seid in Liebe!" — Antonio schlug den Blick zu Boden und sprach leise und schüchtern: "Eurem Scharfblick entgeht nichts, mein lieber Meister, es mag wohl so sein, wie Ihr saget; aber tadelt mich nicht darum. — Jenes Bild halt ich am höchsten, und ich habe es wie ein heiliges Geheimnis zur Zeit verborgen gehalten vor jedermanns Auge."

"Was sagt Ihr", unterbrach Salvator den Jüngling, "niemand von den Malern hat Euer Bild geschaut?"

"So ist es", erwiderte Antonio.

"Nun", fuhr Salvator fort, indem ihm die Augen vor Freude blitzten, "nun, Antonio, so seid gewiß, daß ich Eure neidischen, hochmütigen Verfolger zu Boden schlage und Euch zu verdienten Ehren bringe. Vertraut mir Euer Bild an, schafft es zur Nachtzeit heimlich in meine Wohnung, und für das übrige laßt mich dann sorgen. — Wollt Ihr das tun?"

"Mit tausend Freuden", erwiderte Antonio. "Ach, ich möchte nun auch gleich von dem Ungemach meiner Liebe zu Euch reden; aber es ist mir so, als wenn ich das nun gerade heute, da in der Kunst unser Inneres sich gegenseitig erschlossen, nicht dürfe. Künftig flehe ich Euch wohl an, auch was meine Liebe betrifft, mir beizustehen mit Rat und Tat -"

"Mit beidem", sprach Salvator, "stehe ich Euch zu Diensten, wo und wenn es not tut!" —Im Davonschreiten wandte sich Salvator noch einmal um und sprach lächelnd: "Hört, Antonio, als Ihr mir entdecktet, daß Ihr ein Maler wäret, da fiel es mir schwer aufs Herz, daß ich von Eurer Ähnlichkeit mit dem Sanzio gesprochen. Ich glaubte schon, Ihr könntet so faselig tun, wie manche von unsern jungen Leuten, die, tragen sie eine flüchtige Ähnlichkeit mit diesem, jenem großen Meister im Gesicht, sich sogleich den Bart so stutzen oder die Haare, wie der es tat, und darin den Beruf finden, jenes Meisters Manier auch in der Kunst nachzuahmen, widerstrebt dem gleich ihre Natur! — Wir haben beide den Namen Raffael nicht genannt, aber glaubt mir, in Euern Bildern habe ich die deutliche Spur gefunden, wie der ganze Himmel der göttlichen Gedanken in den Werken des größten Malers der Zeit Euch aufgegangen! — Ihr versteht den Raffael, Ihr werdet mir nicht so antworten wie der Velazquez, den ich neulich fragte, was er von dem Sanzio halte. Tizian, erwiderte er mir, sei der größte Maler, Raffael wisse nichts von der Karnation. — In diesem Spanier ist das Fleisch, aber nicht das Wort; und doch erheben sie ihn in San Luca bis in den Himmel, weil er einmal Kirschen gemalt, die die Spatzen angepickt!" —

Es begab sich, daß nach einigen Tagen die Akademisten von San Luca sich in ihrer Kirche versammelten, um über die Werke der Maler, die sich zur Aufnahme gemeldet, zu urteilen. Dort hatte Salvator das schöne Bild Scacciatis aufstellen lassen. Unwillkürlich wurden die Maler von der Stärke und Anmut des Gemäldes hingerissen, und von allen Lippen ertönte das ungemessenste Lob, als Salvator versicherte, daß er das Bild aus Neapel mitgebracht, als den Nachlaß eines jungen, früh verstorbenen Malers.

Wenige Zeit dauerte es, so strömte ganz Rom hin, das Gemälde des jungen, unbekannt verstorbenen Malers zu bewundern; man war darüber einig, daß seit Guido Renis Zeiten ein solches Bild nicht geschaffen worden, ja man ging

im gerechten Enthusiasmus so weit, die wunderliebliche Magdalena noch über Guidos Schöpfungen der Art zu stellen. — Unter der Menge von Menschen, die immer vor Scacciatis Gemälde versammelt, bemerkte Salvator eines Tages einen Mann, der bei seinem übrigens gar besonderen Ansehen sich wie närrisch gebärdete. Er war hoch in den Jahren, groß, dürr wie eine Spindel, bleichen Angesichts, mit langer spitzer Nase, mit ebenso langem Kinn, das überdies in einen kleinen Bart sich zuspitzte, und grauen, blitzenden Augen. Auf die dicke, hellblonde Perücke hatte er einen hohen Hut mit einer stattlichen Feder gesetzt, er trug ein kleines, dunkelrotes Mäntelchen mit vielen blanken Knöpfen, ein himmelblaues, spanisch geschlitztes Wams, große, mit silbernen Frangen besetzte Stülphandschuhe, einen langen Stoßdegen an der Seite, hellgraue Strümpfe, über die spitzen Knie gezogen und mit gelben Bändern gebunden, und ebensolche gelbe Bandschleifen auf den Schuhen.

Diese seltsame Figur stand nun wie entzückt vor dem Bilde, erhob sich auf den Zehen, duckte sich ganz klein nieder -hüpfte dann mit beiden Beinen zugleich auf - stöhnte —ächzte - kniff die Augen fest zu, daß die Tränen hervorperlten, riß sie dann wieder weit auf, schaute unverwandt hin nach der lieblichen Magdalena, seufzte, lispelte mit feiner, klagender Kastratenstimme: "Ah carissima - benedettissima - ah Marianna - Mariannina - bellissima" etc. Salvator, auf solche Figuren besonders erpicht, drängte sich zu dem Alten, wollte sich mit ihm in ein Gespräch einlassen über Scacciatis Bild, das ihn so zu entzücken schien. Ohne sonderlich auf Salvator zu achten, verfluchte aber der Alte seine Armut, die ihm nicht erlaube, das Bild für eine Million zu erstehen und zu verschließen, damit nur kein anderer seine satanischen Blicke darauf richte. Und dann hüpfte er wieder auf und nieder und dankte der Jungfrau und allen Heiligen, daß der verruchte Maler tot sei, der das himmlische Bild gemalt, das ihn in Verzweiflung und Raserei stürze.

Salvator schloß, der Mann müsse wahnsinnig oder ein ihm unbekannter Akademist von San Luca sein.

Ganz Rom war erfüllt von dem wunderbaren Gemälde Scacciatis; es war kaum von etwas anderm die Rede, und dies mußte wohl schon zur Genüge die Vortreiflichkeit des Werkes beweisen. Als nun die Maler aufs neue in der Kirche des heiligen Lucas versammelt waren, um über die Aufnahme verschiedener, die sich dazu gemeldet, zu entscheiden, fragte Salvator Rosa plötzlich, ob nicht der Maler, dessen Werk die Magdalena zu des Heilands Füßen, würdig gewesen, in die Akademie aufgenommen zu werden. Alle Maler, selbst den über die Gebühr kritischen Ritter Josepin nicht ausgenommen, versicherten einstimmig, daß solch ein hoher Meister eine Zierde der Akademie gewesen sein würde, und bedauerten in den ausgesuchtesten Redensarten seinen Tod, wiewohl sie ebensogut, als jener tolle Alte, im Herzen den Himmel dafür priesen. —Ja, sie gingen in ihrem Enthusiasmus so weit, daß sie beschlossen, den vortrefflichen Jüngling, den der Tod zu früh der Kunst entrissen, noch im Grabe zum Akademiker zu ernennen und zum Heil seiner Seele Messen lesen zu lassen in der Kirche des heiligen Lucas. Sie erbaten sich daher von dem Salvator den vollständigen Namen des Verstorbenen, sein Geburtsjahr, den Ort seiner Herkunft und so weiter.

Da erhob sich Salvator Rosa und sprach mit lauter Stimme: "Ei, ihr Herren, die Ehre, die ihr einem Toten im Grabe erweisen wollet, könnet ihr besser einem Lebendigen zuwenden, der unter euch wandelt. — Wißt, die Magdalena zu des Heilands Füßen, das Gemälde, das ihr mit Recht so hoch, so über alle Malereien stellt, die die neueste Zeit hervorgebracht hat, es ist nicht das Werk eines neapolitanischen Malers, der schon verstorben, wie ich vorgab, damit euer Urteil unbefangen sein möchte - jenes Gemälde, das Meisterwerk, welches ganz Rom bewundert, ist von der Hand Antonio Scacciatis, des Wundarztes!"

Stumm und starr, wie von jähem Blitz getroffen, schauten

die Maler den Salvator an. Der weidete sich einige Augenblicke an ihrer Verlegenheit und fuhr dann fort: "Nun, ihr Herren, ihr habt den wackern Antonio nicht unter euch dulden wollen, weil er ein Wundarzt ist, nun mein ich aber, ein Wundarzt täte der erhabenen Akademie von San Luca eben recht not, um den verkrüppelten Figuren, wie sie aus der Werkstatt von manchen eurer Maler hervorgehen, die Glieder einzurenken! — Jetzt werdet ihr aber wohl nicht länger anstehen, zu tun, was ihr längst hättet tun sollen, nämlich den tüchtigen Maler Antonio Scacciati aufnehmen in die Akademie San Luca."

Die Akademiker verschluckten Salvators bittere Pille, stellten sich hoch erfreut, daß Antonio sein Talent auf solch entscheidende Weise beurkundet, und ernannten ihn mit vielem Gepränge zum Mitgliede der Akademie.

Kaum ward es in Rom bekannt, daß Antonio das wunderbare Bild geschaffen, als ihm von allen Seiten Lobeserhebungen, ja Anerbieten, große Werke zu unternehmen, zuströmten. So wurde nun der Jüngling durch Salvators kluge, listige Handlungsweise auf einmal aus dem Dunkel hervorgezogen und kam im Augenblick, als er seine eigentliche Künstlerlaufbahn beginnen wollte, zu hohen Ehren.

Antonio schwamm in Seligkeit und Wonne. Desto mehr nahm es den Salvator wunder, als, da einige Tage vergangen, der Jüngling bei ihm sich einfand, bleich, entstellt, ganz Gram und Verzweiflung. "Ach, Salvator", sprach Antonio, "was hilft es mir nun, daß Ihr mich emporgebracht habt, wie ich es gar nicht ahnen konnte, daß ich überhäuft werde mit Lob und Ehre, daß die Aussicht des herrlichsten Künstlerlebens sich mir geöffnet, da ich doch grenzenlos elend bin, da ebendas Bild, dem ich nächst Euch, mein lieber Meister, meinen Sieg verdanke, mein Unglück rettungslos entschieden hat!"

"Still", erwiderte Salvator, "versündigt Euch nicht an der Kunst und an Euerm Bilde! An das entsetzliche Unglück, das Euch betroffen, glaube ich ganz und gar nicht. Ihr seid

in Liebe, und da mag sich denn nicht gleich alles Euern Wünschen fügen wollen: das wird alles sein. Verliebte sind wie die Kinder, die gleich weinen und schreien, wenn man nur ihr Püppchen berührt. Laßt, ich bitt Euch, laßt das Lamentieren, ich kann es durchaus nicht leiden. Dort setzt Euch hin und erzählt mir ruhig, wie es sich verhält mit Eurer holden Magdalena, mit Eurer Liebesgeschichte überhaupt, und wo die Steine des Anstoßes liegen, die wir wegräumen müssen, denn ich sage Euch im voraus meine Hülfe zu. Je abenteuerlicher die Dinge sind, die wir unternehmen müssen, desto lieber ist es mir. — In der Tat, das Blut wallt wieder rasch in meinen Adern, und meine Diät will es, daß ich einige tolle Streiche unternehme. — Aber nun erzählt, Antonio! und, wie gesagt, fein ruhig ohne Oh - Ach und Weh!"

Antonio nahm Platz in dem Sessel, den ihm Salvator an die Staffelei, an der er arbeitete, hingeschoben, und begann in folgender Art:

"In der Straße Ripetta, in dem hohen Hause, dessen weit vorstehenden Balkon man gleich erblickt, wenn man durch die Porta de! Popolo tritt, wohnt der närrischste Kauz, den es vielleicht in ganz Rom gibt. Ein alter Hagestolz, alle Gebrechen seines Standes in sich tragend, geizig, eitel, den Jüngling spielend, verliebt, geckenhaft! — Er ist groß, dürr wie eine Gerte, geht in buntscheckig spanischer Tracht, mit blonder Perücke, spitzem Hute, Stülphandschuhen, Stoßdegen an der Seite -"

"Halt, halt", rief Salvator, den Jüngling unterbrechend, "erlaubt einige Augenblicke, Antonio!" — Und damit drehte er das Bild, an dem er eben malte, um, nahm die Kohle zur Hand und zeichnete auf die Kehrseite mit einigen kecken Strichen den seltsamen alten Mann hin, der sich vor Antonios Gemälde so närrisch gebärdete.

"Bei allen Heiligen", schrie Antonio, indem er aufsprang vom Stuhl und, seiner Verzweiflung unbeschadet, hell auflachte, "bei allen Heiligen, das ist er, das ist Signor Pasquale

Capuzzi, von dem ich eben spreche, wie er leibt und lebt!"

"Nun seht Ihr wohl", sprach Salvator ruhig, "ich kenne schon den Patron, der höchstwahrscheinlich Euer arger Widersacher ist; doch fahrt nur fort."

"Signor Pasquale Capuzzi", sprach Antonio weiter, "ist steinreich, dabei, wie ich schon sagte, schmutziger Geizhals und ein ausgemachter Geck. Das Beste an ihm ist noch, daß er die Künste liebt, vorzüglich Musik und Malerei; aber es läuft dabei so viel Narrheit mit unter, daß auch in dieser Hinsicht mit ihm gar nicht auszukommen ist. Er hält sich für den größten Komponisten der Welt und für einen Sänger, wie er in der päpstlichen Kapelle gar nicht zu finden. Deshalb sieht er unsern alten Frescobaldi nur über die Schultern an und meint, wenn die Römer von dem wunderbaren Zauber sprechen, der in Ceccarellis Stimme liege, Ceccarelli verstehe vom Gesange soviel wie ein Reitstiefel, und er, Capuzzi, wisse wohl, wie man die Leute zu bezaubern vermöge. Weil aber der erste Sänger des Papstes den stolzen Namen Odoardo Ceccarelli di Merania führt, so hört es unser Capuzzi gern, wenn man ihn Signor Pasquale Capuzzi di Senigaglia heißt. Denn in Senigaglia, und zwar, wie die Leute sagen, auf einem Fischerkahn, jäh erschreckt durch einen auftauchenden Seehund, gebar ihn seine Mutter, weshalb viel Seehündisches in seine Natur gekommen. In frühern Jahren brachte er eine Oper aufs Theater, die jämmerlich ausgepfiffen wurde, das hat ihn aber nicht geheilt von seiner Sucht, abscheuliche Musik zu machen; vielmehr schwur er, als er Francesco Cavallis Oper ,Le Nozze di Teti e di Peleo' gehört, der Kapellmeister habe die sublimsten Gedanken aus seinen unsterblichen Werken entlehnt, worüber er beinahe Prügel oder gar Messerstiche bekommen. Noch ist er wie besessen darauf, Arien zu singen und dazu eine arme schwindsüchtige Chitarre abzumartern, daß sie zu seinem abscheulichen Gequarre stöhnen und ächzen muß. Sein treuer Pylades ist ein mißratener zwerghafter Kastrat,

den die Römer Pitichinaccio nennen. Zu den beiden gesellt sich - denkt Euch, wer! — Nun! kein andrer als der Pyramiden-Doktor, der Töne von sich gibt wie ein melancholischer Esel und dennoch meint, er sänge einen vortrefflichen Baß, trotz dem Martinelli in der päpstlichen Kapelle. Die drei würdigen Leute kommen nun zusammen abends und stellen sich hin auf den Balkon und singen die Motetten von Carissimi, daß alle Hunde und Katzen in der ganzen Nachbarschaft in ein lautes Jammergeschrei ausbrechen und die Menschen das höllische Trio zu allen tausend Teufeln wünschen.

Bei diesem närrischen Signor Pasquale Capuzzi, den Ihr aus meiner Schilderung hinlänglich kennengelernt haben werdet, ging nun mein Vater aus und ein, weil er ihm Perücke und Bart zustutzte. Als mein Vater gestorben, übernahm ich das Geschäft, und Capuzzi war gar sehr mit mir zufrieden, einmal, weil er behauptete, ich verstehe wie kein andrer, seinem Zwickelbart unter der Nase einen kühnen Schwung aufwärts zu geben, dann aber wohl, weil ich mit den elenden paar Quattrinos zufrieden war, die er mir für meine Mühe gab. Doch glaubte er mich überreich zu belohnen, weil er mir jedesmal, wenn ich ihm seinen Bart gestutzt, mit fest zugedrückten Augen eine Arie von seiner Komposition vorkrähte, die mir die Ohren zerriß, wiewohl mir die tollen Gebärden des Alten viel Spaß machten, weshalb ich auch immer wieder hinging. — Eines Tages steige ich ganz ruhig die Treppen herauf, klopfe an die Tür, öffne sie - da tritt mir ein Mädchen - ein Engel des Lichts entgegen! — Ihr kennt meine Magdalena! — sie war es! — Erstarrt, fest in den Boden gewurzelt, bleibe ich stehen. — Nein, Salvator! — Ihr möget kein Oh und Ach! — Genug, sowie ich die wunderlieblichste der Jungfrauen schaute, ergriff mich die heißeste, glühendste Liebe. Der Alte sagte mir schmunzelnd, das Mädchen sei die Tochter seines Bruders Pietro, der in Senigaglia gestorben, heiße Marianna, sei mutter-und geschwisterlos; als Onkel und Vormund habe er sie

daher zu sich ins Haus genommen. Ihr könnt denken, daß von nun an Capuzzis Haus mein Paradies war. Ich mocht es anstellen, wie ich wollte, nie glückte es mir, mit Marianna auch nur einen Augenblick allein zu sein. Doch ihre Blicke, mancher verstohlne Seufzer, ja mancher Händedruck ließen mich mein Glück nicht bezweifeln. — Der Alte erriet mich, und das konnte ihm wohl nicht schwerfallen. Er meinte, mein Betragen gegen seine Nichte gefiele ihm ganz und gar nicht, und fragte, was ich denn eigentlich wolle. — Offen gestand ich ihm, daß ich Marianna mit voller Seele liebe und kein höheres Glück auf Erden kenne, als mich mit ihr zu verbinden. Da maß mich Capuzzi von oben bis unten, brach dann in ein höhnisches Gelächter aus und meinte, er habe gar nicht geglaubt, daß in dem Kopf eines armseligen Bartkratzers solche hohe Ideen spuken könnten. Der Zorn wollte in mir überwallen, ich sagte, er wisse wohl, daß ich kein armseliger Bartkratzer, vielmehr ein tüchtiger Wundarzt und überdem, was die herrliche Malerkunst betreffe, ein treuer Schüler des großen Annibal Caracci, des unübertroffenen Guido Reni sei. Noch in ein stärkeres Gelächter brach nun der niederträchtige Capuzzi aus und quiekte in seinem scheußlichen Falsett: ,Ei, mein süßer Signor Bartkratzer, mein vortrefflicher Signor Wundarzt, mein holdseliger Annibal Caracci, mein geliebtester Guido Reni, schert Euch zu allen Teufeln und laßt Euch hier nicht mehr sehen, wenn Ihr mit gesunden Beinen davonkommen wollt!' — Damit packte mich der alte wahnsinnige Knickebein und hatte nichts Geringeres im Sinn, als mich zur Türe hinaus, die Treppe hinabzuwerfen. —Nein! das war nicht zu dulden! — Wütend faßte ich den Alten, stülpte ihn um, daß er, laut aufkreischend, die Beine in die Höhe streckte, rannte die Treppe hinab, zur Türe hinaus, die nun freilich für mich verschlossen blieb.

So standen die Sachen, als Ihr nach Rom kamt und als der Himmel dem guten Pater Bonifacio es eingab, mich zu Euch zu führen. —Nun, da durch Eure Geschicklichkeit das

gelungen, wornach ich vergebens getrachtet hätte, als die Akademie von San Luca mich aufgenommen, als ganz Rom mir Lob und Ehre in überreichem Maß gespendet hatte, ging ich geradesweges zum Alten und stand plötzlich vor ihm in seinem Zimmer wie ein bedrohliches Gespenst. — So mußte ich ihm nämlich vorkommen, denn er wurde leichenblaß und zog sich zurück, an allen Gliedern zitternd, hinter einen großen Tisch. Mit ernstem, festen Ton hielt ich ihm nun vor, daß es jetzt keinen Bartkratzer und Wundarzt, wohl aber einen berühmten Maler und Akademiker von San Luca, Antonio Scacciati, gebe, dem er die Hand seiner Nichte Marianna nicht verweigern werde. Da hättet Ihr die Wut sehen sollen, in die der Alte geriet. Er heulte, er schlug mit den Armen um sich, wie vom Teufel besessen; er schrie, ich trachte, ein ruchloser Mörder, nach seinem Leben, ich habe ihm seine Marianna gestohlen, da ich sie in dem Gemälde abkonterfeit, das ihn in Raserei und Verzweiflung stürze, da nun alle Welt - alle Welt seine Marianna - sein Leben - seine Hoffnung - sein Alles mit gierigen, lüsternen Blicken anschaue; — aber ich solle mich hüten, das Haus über dem Kopf wolle er mir anzünden, damit ich verbrenne samt meinem Gemälde. — Und damit fing er so übermäßig an zu schreien: ,Feuer - Mörder - Diebe - Hülfe' — daß ich, ganz bestürzt, nur eilte, um aus dem Hause zu kommen.

Der alte, wahnsinnige Capuzzi ist bis über die Ohren verliebt in seine Nichte, er schließt sie ein, er wird, gelingt es ihm, Dispensation zu bekommen, sie zu der abscheulichsten Verbindung zwingen. — Alle Hoffnung ist verloren."

"Warum nicht gar", sprach Salvator lachend, "ich meine vielmehr, daß Eure Sachen gar nicht besser stehen können! — Marianna liebt Euch, davon seid Ihr überzeugt, und es kommt nur darauf an, sie dem alten, tollen Signor Pasquale Capuzzi zu entreißen. Nun wüßt ich aber doch in der Tat nicht, warum ein paar unternehmende rüstige Leute, wie wir, das nicht bewerkstelligen sollten! — Faßt Mut, Antonio! statt zu klagen, statt liebeskrank zu seufzen und zu ohnmächteln,

ist es besser, emsig zu sinnen auf Mariannas Rettung. — Gebt acht, Antonio, wie wir den alten Geck bei der Nase herumführen wollen: das Tollste ist mir kaum toll genug bei derlei Unternehmungen! — Gleich auf der Stelle will ich sehen, wie ich mehr über den Alten und über seine ganze Lebensweise erfahre. Ihr dürft Euch dabei nicht blicken lassen, Antonio; geht nur fein nach Hause und kommt morgen in aller Frühe zu mir, damit wir den Plan zum ersten Angriff überlegen."

Damit schnickte Salvator den Pinsel aus, warf den Mantel um und eilte nach dem Korso, während Antonio, getröstet, lebensfrische Hoffnung in der Brust, sich, wie ihm Salvator geheißen, in seine Wohnung begab.



Signor Pasquale Capuzzi erscheint in Salvator Rosas Wohnung. Was sich dabei begibt. Listiger Streich, den Rosa und Scacciati ausführen, und dessen Folgen


Antonio verwunderte sich nicht wenig, als am andern Morgen Salvator ihm auf das genaueste Capuzzis ganze Lebensweise beschrieb, die er indessen erforscht. "Die arme Marianna", sprach Salvator, "wird von dem wahnsinnigen Alten auf höllische Weise gequält. Er seufzt und liebelt den ganzen Tag, und was das ärgste, singt, um ihr Herz zu rühren, ihr alle mögliche verliebte Arien vor, die er jemals komponiert hat oder komponieren wollen. Dabei ist er so bis zur Tollheit eifersüchtig, daß er dem bedauernswerten Mädchen sogar nicht einmal die gewöhnliche weibliche Bedienung verstattet, aus Furcht vor Liebesintrigen, zu denen die Zofe vielleicht verleitet werden könnte. Statt dessen erscheint jeden Morgen und jeden Abend ein kleines scheußliches Gespenst mit hohlen Augen und bleichen, schlotternden Wangen, das Zofendienste bei der holden Marianna verrichtet. Und dies Gespenst ist niemand anders als der winzige Däumling, der Pitichinaccio, der sich in Weiberkleider werfen muß. Ist Capuzzi abwesend, so verschließt und verriegelt er sorgfältig alle Türen, und außerdem hält ein verfluchter Kerl Wache, der ehemals ein Bravo, dann aber Sbirre war und der unten in Capuzzis Hause wohnt. In seine Wohnung einzudringen scheint daher unmöglich, und doch verspreche ich Euch, Antonio, daß Ihr schon in künftiger Nacht bei Capuzzi im Zimmer sein und Eure Marianna schauen sollt, wiewohl für diesmal nur in Capuzzis Gegenwart -"

"Was sagt Ihr", rief Antonio ganz begeistert, "was sagt Ihr, Salvator, in künftiger Nacht sollte geschehen, was mir unmöglich dünkt?"

"Still", fuhr Salvator fort, "still, Antonio, laßt uns ruhig überlegen, wie wir den Plan mit Sicherheit ausführen, den ich entworfen! — Fürs erste muß ich Euch sagen, daß ich mit dem Signor Pasquale Capuzzi in Verbindung stehe, ohne daß ich es wußte. Jenes erbärmliche Spinett, das dort im Winkel steht, gehört dem Alten, und ich soll ihm den ungeheuern Preis von zehn Dukaten dafür bezahlen. — Als ich gesund geworden, sehnte ich mich nach der Musik, die mir Trost und Labsal ist; ich bat meine Wirtin, mir solch ein Instrument, wie das Spinett dort, zu besorgen. Frau Caterina mittelte gleich aus, daß in der Straße Ripetta ein alter Herr wohne, der ein schönes Spinett verkaufen wolle. Das Instrument wurde hergeschafft. Ich kümmerte mich weder um den Preis noch um den Besitzer. Erst gestern abend erfuhr ich ganz zufällig, daß es der ehrliche Signor Capuzzi sei, der mich mit seinem alten, gebrechlichen Spinett zu prellen beschlossen. Frau Caterina hatte sich an eine Bekannte gewendet, die im Hause des Capuzzi, und noch dazu in demselben Stockwerk, wohnt, und nun könnt Ihr Euch wohl denken, wo ich alle meine schöne Nachrichten herhabe!"

"Ha!" rief Antonio, "so ist der Zugang gefunden, Eure Wirtin -"

"Ich weiß", fiel ihm Salvator ins Wort, "ich weiß, Antonio, was Ihr sagen wollt; durch Frau Caterina meint Ihr den Weg zu finden zu Eurer Marianna. Damit ist es aber

gar nichts; Frau Caterina ist viel zu geschwätzig, sie bewahrt nicht das kleinste Geheimnis und ist daher in unsern Angelegenheiten ganz und gar nicht zu brauchen. Hört mich nur ruhig an! —Jeden Abend in der Finsternis trägt Signor Pasquale, wird ihm das bei seiner Knickbeinigkeit auch blutsauer, seinen kleinen Kastraten, wenn sein Zofendienst beendigt ist, auf den Armen nach Hause. Nicht um die Welt würde der furchtsame Pitichinaccio um diese Zeit einen Fuß auf das Pflaster setzen. Nun also wenn -"

In diesem Augenblick wurde an Salvators Tür geklopft, und zu nicht geringem Erstaunen beider trat Signor Pasquale Capuzzi herein in voller Pracht und Herrlichkeit. — Sowie er den Scacciati erblickte, blieb er, wie an allen Gliedern gelähmt, stehen, riß die Augen weit auf und schnappte nach Luft, als wollte ihm der Atem vergehen. Doch Salvator sprang hastig auf ihn zu, faßte ihn bei beiden Händen und rief: "Mein bester Signor Pasquale, wie fühle ich mich beehrt durch Eure Gegenwart in meiner schlechten Wohnung! — Gewiß ist es die Liebe zur Kunst, die Euch zu mir führt - Ihr wollt sehen, was ich Neues geschaffen, vielleicht gar eine Arbeit auftragen. — Sprecht, mein bester Signor Pasquale, worin kann ich Euch gefällig sein -"

"Ich habe", stammelte Capuzzi mühsam, "ich habe mit Euch zu reden, bester Signor Salvator! aber - allein - wenn Ihr allein seid. Erlaubt, daß ich mich jetzt entferne und zu gelegnerer Zeit wiederkomme -"

"Mitnichten", sprach Salvator, indem er den Alten festhielt, "mitnichten, mein bester Signor! Ihr sollt nicht von der Stelle; Ihr konntet zu keiner gelegneren Stunde kommen, denn da Ihr ein großer Verehrer der edeln Malerkunst, der Freund aller tüchtigen Maler seid, so wird es Euch nicht wenig Freude machen, wenn ich Euch hier den Antonio Scacciati vorstelle, den ersten Maler unserer Zeit, dessen herrliches Gemälde, dessen wundervolle Magdalena zu des Heilands Füßen ganz Rom mit dem glühendsten Enthusiasmus bewundert. Gewiß seid auch Ihr ganz und gar von dem

Bilde erfüllt und habt wohl eifrig gewünscht, den wackern Meister selbst zu kennen!"

Den Alten überfiel ein heftiges Zittern, er schüttelte sich wie im Fieberfrost, während er glühende, wütende Blicke auf den armen Antonio schoß. Der trat aber auf den Alten zu, verbeugte sich mit freiem Anstande, versicherte, daß er sich glücklich schätze, den Signor Pasquale Capuzzi, dessen tiefe Kenntnisse in der Musik sowohl als in der Malerei nicht allein Rom, sondern ganz Italien bewundere, so unvermuteterweise anzutreffen, und empfahl sich seiner Protektion.

Daß Antonio so tat, als sähe er ihn zum erstenmal, daß er ihn mit so schmeichelhaften Worten anredete, das brachte den Alten auf einmal wieder zu sich selbst. Er zwang sich zum schmunzelnden Lächeln, strich sich, da nun Salvator seine Hände fahrenlassen, zierlich den Zwickelbart in die Höhe, stotterte einige unverständliche Worte und wandte sich dann zum Salvator, den er um die Zahlung der zehn Dukaten für das verkaufte Spinett anging.

"Wir wollen", erwiderte Salvator, "die lumpige Kleinigkeit nachher abmachen, bester Signor! Erst laßt es Euch gefallen, die Skizze eines Gemäldes zu betrachten, die ich entworfen, und dabei ein Glas edeln Syrakuser-Weines zu trinken." Damit stellte Salvator seine Skizze auf die Staffelei, rückte dem Alten einen Stuhl hin und reichte ihm, als er sich niedergelassen, einen großen schönen Pokal, in dem der edle Syrakuser pente.

Der Alte trank gar zu gern ein Glas guten Weins, wenn er kein Geld dafür ausgeben durfte; hatte er nun noch dazu die Hoffnung im Herzen, für ein abgelebtes morsches Spinett zehn Dukaten zu erhalten, und saß er vor einem herrlich und kühn entworfenen Gemälde, dessen wunderbare Schönheit er sehr gut zu schätzen verstand, so mußte ihm wohl ganz behaglich zumute werden. Diese Behaglichkeit äußerte er denn auch, indem er gar lieblich schmunzelte, die Äuglein halb zudrückte, sich fleißig Kinn und Zwickelbart strich,

ein Mal über das andere lispelte: "Herrlich, köstlich!", ohne daß man wußte, was er meinte, das Gemälde oder den Wein!

Sowie denn nun der Alte ganz fröhlich geworden, fing Salvator plötzlich an: "Sagt mir doch, mein bester Signor, Ihr sollt ja eine wunderschöne, wunderliebliche Nichte haben, Marianna geheißen? — Alle unsere jungen Herren rennen, vom verliebten Wahnsinn getrieben, unaufhörlich durch die Straße Ripetta und renken sich, nach Eurem Balkon hinaufschauend, beinahe die Hälse aus, nur, um Eure holde Marianna zu sehen, um einen einzigen Blick ihrer Himmelsaugen zu erhaschen."

Fort war aus dem Gesichte des Alten plötzlich alles liebliche Schmunzeln, alle Fröhlichkeit, die der gute Wein entzündet. Finster vor sich hinblickend, sprach er barsch: "Da sieht man das tiefe Verderbnis unserer sündigen Jugend. Auf Kinder richten sie ihre satanischen Blicke, die abscheulichen Verführer! — Denn ich sage Euch, mein bester Signor, ein pures Kind ist meine Nichte Marianna, ein pures Kind, kaum der Amme entwachsen."

Salvator sprach von was anderm; der Alte erholte sich. Aber sowie er, neuen Sonnenschein im Antlitz, den vollgefüllten Pokal an die Lippen setzte, fing Salvator aufs neue an: "Sagt mir doch, mein bester Signor, hat Eure sechszehnjährige Nichte, die holde Marianna, wirklich solche wunderschöne kastanienbraune Haare und solche Augen voll Wonne und Seligkeit des Himmels wie Antonios Magdalena? —Man will das allgemein behaupten!"

"Ich weiß das nicht", erwiderte der Alte in noch barscherem Ton als vorher, "ich weiß das nicht, doch laßt uns von meiner Nichte schweigen, wir können ja bedeutendere Worte wechseln über die edle Kunst, wozu mich Euer schönes Gemälde von selbst auffordert!"

Als nun aber Salvator jedesmal, wenn der Alte den Pokal ansetzte und einen tüchtigen Schluck tun wollte, aufs neue von der schönen Marianna zu sprechen anfing, sprang

der Alte endlich in voller Wut vom Stuhle auf, stieß den Pokal heftig auf den Tisch nieder, daß er beinahe zerbrochen wäre, schrie mit gehender Stimme: "Beim schwarzen höllischen Pluto, bei allen Furien, zu Gift, zu Gift macht Ihr mir den Wein! Aber ich merk es, Ihr und der saubere Signor Antonio mit Euch, Ihr wollt mich foppen! — Das soll Euch aber schlecht gelingen. Zahlt mir sogleich die zehn Dukaten, die Ihr mir schuldig seid, und dann überlasse ich Euch samt Eurem Kumpan, dem Bartkratzer Antonio, allen Teufeln!"

Salvator schrie, als übermanne ihn der wütendste Zorn: "Was? — Ihr untersteht Euch, mir hier in meiner Wohnung so zu begegnen? — Zehn Dukaten soll ich Euch zahlen für jenen morschen Kasten, aus dem die Holzwürmer schon längst alles Mark, allen Ton, weggezehrt haben? — Nicht zehn - nicht fünf - nicht drei - nicht einen Dukaten sollt Ihr für das Spinett erhalten, das kaum einen Quattrino wert ist; — fort mit dem lahmen Dinge!" — Und damit stieß Salvator das kleine Spinett mit dem Fuße um und um, daß die Saiten einen lauten Jammerton von sich gaben.

"Ha", kreischte Capuzzi, "noch gibt es Gesetze in Rom - zur Haft - zur Haft laß ich Euch bringen, in den tiefesten Kerker werfen", und wollte brausend, wie eine Hagelwolke, zur Türe hinausstürmen. Salvator umfaßte ihn aber fest mit beiden Armen, drückte ihn in den Lehnsessel nieder und lispelte ihm mit süßer Stimme in die Ohren: "Mein bester Signor Pasquale, merkt Ihr denn nicht, daß ich nur Scherz treibe? — Nicht zehn, dreißig blanke bare Dukaten sollt Ihr für Euer Spinett haben!" — Und so lange wiederholte er: "dreißig blanke bare Dukaten", bis Capuzzi mit matter, ohnmächtiger Stimme sprach: "Was sagt Ihr, bester Signor? — Dreißig Dukaten für das Spinett, ohne Reparatur?" Da ließ Salvator den Alten los und versicherte, er setze seine Ehre zum Pfande, daß das Spinett binnen einer Stunde dreißig - vierzig Dukaten wert sein und daß Signor Pasquale so viel dafür erhalten solle.

Der Alte, mit einem tiefen Seufzer neuen Atem schöpfend, murmelte: "Dreißig - vierzig Dukaten?" Dann begann er: "Aber Ihr habt mich schwer geärgert, Signor Salvator!" — "Dreißig Dukaten", wiederholte Salvator. — Der Alte schmunzelte, aber dann wieder: "Ihr habt mir ins Herz gegriffen, Signor Salvator!" — "Dreißig Dukaten", fiel ihm Salvator ins Wort und wiederholte immer: "Dreißig Dukaten, dreißig Dukaten", solange der Alte noch schmollen wollte, bis er endlich ganz fröhlich sprach: "Kann ich für mein Spinett dreißig -vierzig Dukaten erhalten, so sei alles vergeben und vergessen, bester Signor 1"

"Doch", begann Salvator, "doch habe ich, ehe ich mein Versprechen erfülle, noch eine kleine Bedingung zu machen, die Ihr, mein würdigster Signor Pasquale Capuzzi di Senigaglia, sehr leicht erfüllen könnt. Ihr seid der erste Komponist in ganz Italien und dabei der vortreiflichste Sänger, den es geben mag. Mit Entzücken habe ich die große Szene in der Oper ,Le Nozze di Teti e Peleo' gehört, die der verruchte Francesco Cavalli Euch diebischerweise entwandt hat und für seine Arbeit ausgibt. — Wolltet Ihr, während ich hier das Spinett instand setze, mir diese Arie vorsingen, ich wüßte in der Tat nicht, was mir Angenehmeres erzeigt werden könnte."

Der Alte verzog den Mund zu dem süßesten Lächeln, blinzelte mit den grauen Äugelein und sprach: "Man merkt es, daß Ihr selbst ein tüchtiger Musiker seid, bester Signor; denn Ihr habt Geschmack und wißt würdige Leute besser zu schätzen als die undankbaren Römer. — Hört! — Hört! die Arie aller Arien!"

Damit stand der Alte auf, erhob sich auf den Fußspitzen, breitete die Arme aus, drückte beide Augen zu, daß er ganz einem Hahn zu vergleichen, der sich zum Krähen rüstet, und fing sogleich an, dermaßen zu kreischen, daß die Wände klangen und alsbald Frau Caterina mit ihren beiden Töchtern hereinstürzte, nicht anders meinend, als daß das entsetzliche Jammergeschrei irgendein geschehenes Unheil verkünde.

— Ganz erstaunt blieben sie in der Türe stehen, als sie den krähenden Alten erblickten, und bildeten so das Publikum des unerhörten Virtuosen Capuzzi.

Währenddessen hatte aber Salvator das Spinett aufgerichtet, den Deckel zurückgeschlagen, die Palette zur Hand genommen und mit kecker Faust in kräftigen Pinselstrichen auf ebendem Spinettdeckel die wunderbarste Malerei begonnen, die man nur sehen konnte. Der Hauptgedanke war eine Szene aus der Cavallischen Oper ,Le Nozze di Teti', aber darunter mischten sich auf ganz phantastische Weise eine Menge anderer Personen. Unter ihnen Capuzzi, Antonio, Marianna, treu nach Antonios Gemälde, Salvator, Frau Caterina und ihre beiden Töchter in kenntlichen Zügen, ja sogar der Pyramiden-Doktor fehlte nicht, und alles so verständig, sinnig, genial geordnet, daß Antonio sein Erstaunen über den Geist, über die Praktik des Meisters nicht bergen konnte.

Der Alte ließ es gar nicht bei der Szene bewenden, die Salvator hören wollte, sondern sang oder kreischte vielmehr, von dem musikalischen Wahnsinn fortgerissen, ohne Aufhören, indem er durch die greulichsten Rezitative sich von einer höllischen Arie zur andern durcharbeitete. Das mochte wohl beinahe zwei Stunden gedauert haben, da sank er, kirschbraun im Gesicht, atemlos in den Lehnsessel. In dem Augenblicke hatte aber auch Salvator seine Skizze so herausgearbeitet, daß alles lebendig geworden und in einiger Entfernung das Ganze einem vollendeten Gemälde glich.

"Ich habe Wort gehalten wegen des Spinetts, bester Signor Pasquale — so lispelte nun Salvator dem Alten in die Ohren. Der fuhr, wie aus tiefem Schlummer, in die Höhe. Sogleich fiel sein Blick auf das bemalte Spinett, das ihm geradeüber stand. Da riß er die Augen weit auf, als sähe er Wunder, stülpte den spitzen Hut auf die Perücke, nahm den Krückstock unter den Arm, sprang hin mit einem Satz ans Spinett, riß den Deckel aus den Scharnieren, hob ihn hoch über den Kopf und rannte so wie besessen zur Tür

hinaus, die Treppe hinab, fort, fort aus dem Hause, indem Frau Caterina und ihre beiden Töchter hinter ihm her lachten.

"Der alte Geizhals weiß", sprach Salvator, "daß er den bemalten Deckel nur zum Grafen Colonna oder zu meinem Freunde Rossi tragen darf, um vierzig Dukaten und auch wohl noch mehr dafür zu erhalten."

Beide, Salvator und Antonio, überlegten nun den Angriffsplan, der noch in kommender Nacht ausgeführt werden sollte. — Wir werden gleich sehen, was die beiden Abenteurer begannen und wie ihnen der Anschlag glückte.

Als es Nacht geworden, trug Signor Pasquale, nachdem er seine Wohnung wohl verschlossen und verriegelt, wie gewöhnlich, das kleine Ungeheuer von Kastraten nach Hause. Den ganzen Weg über miaute und ächzte der Kleine und klagte, daß, nicht genug, daß er sich an Capuzzis Arien die Schwindsucht an den Hals singen und bei dem Makkaronikochen die Hände verbrennen müsse, er jetzt noch zu einem Dienst gebraucht werde, der ihm nichts einbringe als tüchtige Ohrfeigen und derbe Fußtritte, die ihm Marianna, sowie er sich nur ihr nähere, in reichlichem Maß zuteile. Der Alte tröstete ihn, wie er nur konnte, versprach, ihn besser mit Zuckerwerk zu versorgen, als es bisher geschehen, verpflichtete sich sogar, als der Kleine gar nicht aufhören wollte zu quäken und zu lamentieren, ihm aus einer alten schwarzen Plüschweste, die er, der Kleine, schon oft mit begehrlichen Blicken angeschaut, ein nettes Abbatenröcklein machen zu lassen. Der Kleine forderte noch eine Perücke und einen Degen. Darüber kapitulierend, kamen sie in der Straße Bergognona an, denn ebenda wohnte Pitichinaccio, und zwar nur vier Häuser von Salvators Wohnung.

Der Alte setzte den Kleinen behutsam nieder, öffnete die Haustür, und nun stiegen beide, der Kleine voran, der Alte hinterher, die schmale Treppe hinauf, die einer elenden Hühnerleiter zu vergleichen. Aber kaum hatten sie die Hälfte der Stiege erreicht, als oben auf dem Hausflur ein

entsetzliches Gepolter entstand und sich die rauhe Stimme eines wilden besoffenen Kerls vernehmen ließ, der alle Teufel der Hölle beschwor, ihm den Weg aus dem verwünschten Hause zu zeigen. Pitichinaccio drückte sich dicht an die Wand und bat den Capuzzi um aller Heiligen willen, vorauszugehen. Doch kaum hatte Capuzzi noch ein paar Stufen erstiegen, als der Kerl von oben die Treppe herunterstürzte, den Capuzzi wie ein Wirbelwind erfaßte und sich mit ihm hinabschleuderte durch die offenstehende Haustüre bis mitten auf die Straße. Da blieben sie liegen; Capuzzi unten, der besoffene Kerl auf ihm wie ein schwerer Sack. — Ca. puzzi schrie erbärmlich um Hülfe, und alsbald fanden sich auch zwei Männer ein, die mit vieler Mühe den Signor Pasquale von seiner Last befreiten; der Kerl taumelte, als sie ihn aufgerichtet, fluchend fort.

"Jesus, was ist Euch geschehen, Signor Pasquale - wie kommt Ihr zur Nachtzeit hieher - was habt Ihr für schlimme Händel gehabt in dem Hause?" — So fragten Antonio und Salvator; denn niemand anders waren die beiden Männer.

"Das ist mein Ende", ächzte Capuzzi; "alle meine Glieder hat mir der Höllenhund zerschellt, ich kann mich nicht rühren."

"Laßt doch sehen", sprach Antonio, betastete den Alten am ganzen Leibe und kniff ihm dabei plötzlich so heftig ins rechte Bein, daß Capuzzi laut aufschrie.

"Alle Heiligen!" rief Antonio ganz erschrocken, "alle Heiligen! bester Signor Pasquale, Ihr habt das rechte Bein gebrochen an der gefährlichsten Stelle. Wird Euch nicht schleunige Hülfe geleistet, so seid Ihr binnen weniger Zeit des Todes oder bleibt doch wenigstens auf immer lahm."

Capuzzi stieß ein fürchterliches Geheul aus. "Beruhigt Euch nur, bester Signor", fuhr Antonio fort; "unerachtet ich jetzt Maler bin, so habe ich doch den Wundarzt noch nicht vergessen. Wir tragen Euch nach Salvators Wohnung, und ich verbinde Euch augenblicklich."

"Mein bester Signor Antonio", wimmerte Capuzzi, "Ihr

seid mir feindlich gesinnt, ich weiß es -" —"Ach", fiel Salvator ihm ins Wort, "hier ist von keiner Feindschaft weiter die Rede; Ihr seid in Gefahr, und das ist dem ehrlichen Antonio genug, alle seine Kunst aufzubieten zu Eurer Hülfe. —Faßt an, Freund Antonio!"

Beide hoben nun den Alten, der über die unsäglichsten Schmerzen schrie, die der gebrochene Fuß verursache, sanft und behutsam auf und trugen ihn nach Salvators Wohnung.

Frau Caterina versicherte, daß sie irgendein Unheil geahnt und deswegen sich nicht zur Ruhe begeben. Sowie sie den Alten ansichtig wurde und hörte, wie es ihm ergangen, brach sie in Vorwürfe aus über sein Tun und Treiben. "Ich weiß es wohl", sprach sie, "ich weiß es wohl, Signor Pasquale, wen Ihr wieder nach Hause gebracht habt! — Ihr denkt, ist gleich Eure schöne Nichte Marianna bei Euch im Hause, der weiblichen Bedienung gar nicht zu bedürfen und mißbraucht recht schändlich und gotteslästerlich den armen Pitichinaccio, den Ihr in den Weiberrock steckt. Aber seht Ihr wohl: ogni carne ha il suo osso, jedes Fleisch hat seinen Knochen! — Wollt Ihr ein Mädchen bei Euch haben, so bedürft Ihr auch der Weiber! Fate il passo secondo la gamba, streckt Euch nach der Decke und verlangt nicht mehr und nicht weniger, als was recht ist, von Eurer Marianna. Sperrt sie nicht ein wie eine Gefangene, macht Euer Haus nicht zum Kerker, asino punto convien che trotti, wer auf der Reise ist, muß fort; Ihr habt eine schöne Nichte und müßt Euer Leben darnach einrichten, das heißt, nur lediglich tun, was die schöne Nichte will. Aber Ihr seid ein ungalanter hartherziger Mann und wohl gar, wie ich nicht hoffen will, in Eurem hohen Alter noch verliebt und eifersüchtig. — Verzeiht, daß ich das alles Euch gerade heraussage, aber: chi ha nel petto fiele, non puo sputar miele, wessen das Herz voll ist, geht der Mund über! —Nun, wenn Ihr nicht, wie bei Eurem hohen Alter zu vermuten steht, an Eurem Beinbruch sterbt, so wird Euch das wohl zur Warnung dienen, und Ihr werdet Eurer Nichte die Freiheit lassen, zu

tun, was sie will, und den hübschen jungen Menschen zu heiraten, den ich wohl schon kenne -"

So ging es in einem Strome fort, während Salvator und Antonio den Alten behutsam entkleideten und aufs Bette legten. Der Frau Caterina Worte waren lauter Dolchstiche, die ihm tief in die Brust fuhren; aber sowie er etwas dazwischenreden wollte, bedeutete ihm Antonio, daß alles Sprechen ihm Gefahr bringe, er mußte daher alle bittere Galle in sich schlucken. Salvator schickte endlich Frau Caterina fort, um, wie Antonio geboten, Eiswasser zu besorgen.

Salvator und Antonio überzeugten sich, daß der in Pitichinaccios Wohnung abgesendete Kerl seine Sachen vortrefflich gemacht. Außer einigen blauen Flecken hatte Capuzzi nicht die mindeste Beschädigung davongetragen, so fürchterlich der Sturz auch dem Anscheine nach gewesen. Antonio schiente und schnürte dem Alten den rechten Fuß zusammen, daß er sich nicht regen konnte. Und dabei umwikkelten sie ihn mit in Eiswasser genetzten Tüchern, angeblich um der Entzündung zu wehren, daß der Alte wie im Fieberfrost sich schüttelte.

"Mein guter Signor Antonio", ächzte er leise, "sagt mir, ist es um mich geschehen? —muß ich sterben?"

"Beruhigt Euch nur", erwiderte Antonio, "beruhigt Euch nur, Signor Pasquale, da Ihr den ersten Verband mit so vieler Standhaftigkeit und ohne in Ohnmacht zu sinken ausgehalten, so scheint die Gefahr vorüber; doch ist die sorgsamste Pflege nötig: Ihr dürft fürs erste nicht aus den Augen des Wundarztes kommen."

"Ach, Antonio", wimmerte der Alte, "Ihr wißt, wie ich Euch liebhabe! — wie ich Eure Talente schätze! — Verlaßt mich nicht! — reicht mir Eure liebe Hand! — so! — Nicht wahr, mein guter, lieber Sohn, Ihr verlaßt mich nicht?"

"Bin ich", sprach Antonio, "bin ich gleich nicht mehr Wundarzt, hab ich gleich das mir verhaßte Gewerbe ganz aufgegeben, so will ich doch bei Euch, Signor Pasquale, eine Ausnahme machen und mich Eurer Kur unterziehen, wofür

ich nichts verlange, als daß Ihr mir wieder Eure Freundschaft, Euer Zutrauen schenkt - Ihr waret ein wenig barsch gegen mich -"

"Schweigt", lispelte der Alte, "schweigt davon, bester Antonio!"

"Eure Nichte", sprach Antonio weiter, "wird sich, da Ihr nicht ins Haus zurückgekehrt seid, halbtot ängstigen! — Ihr seid für Euern Zustand munter und stark genug, wir wollen Euch daher, sowie der Tag anbricht, in Eure Wohnung tragen. Dort sehe ich noch einmal nach dem Verbande, bereite Euch das Lager, wie es sein muß, und sage Eurer Nichte alles, was sie für Euch zu tun hat, damit Ihr recht bald geneset."

Der Alte seufzte recht tief auf, schloß die Augen und blieb einige Augenblicke stumm. Dann streckte er die Hand aus nach Antonio, zog ihn dicht an sich und sprach ganz leise: "Nicht wahr, bester Signor, das mit Marianna, das war nur Euer Scherz, solch ein lustiger Einfall, wie ihn junge Leute haben -"

"Denkt doch", erwiderte Antonio, "denkt doch jetzt nicht an so etwas, Signor Pasquale! Es ist wahr, Eure Nichte stach mir in die Augen; aber jetzt habe ich ganz andere Dinge im Kopfe und bin - ich muß es Euch nur aufrichtig gestehen - recht sehr damit zufrieden, daß Ihr mich mit meinem törichten Antrage so kurz abgefertigt habt. Ich dachte in Eure Marianna verliebt zu sein und erblickte in ihr doch nur ein schönes Modell zu meiner Magdalena. Daher mag es denn kommen, daß Marianna mir, nachdem ich das Gemälde vollendet, ganz gleichgültig geworden ist!"

"Antonio", rief der Alte laut, "Antonio, Gesegneter des Himmels! Du bist mein Trost - meine Hülfe, mein Labsal! Da du Marianna nicht liebst, ist mir aller Schmerz entnommen

"In der Tat", sprach Salvator, "in der Tat, Signor Pasquale, kennte man Euch nicht als einen ernsten, verständigen Mann, welcher wohl weiß, was seinen hohen Jahren ziemt,

man sollte glauben, Ihr wäret wahnsinnigerweise selbst in Eure sechszehnjährige Nichte verliebt."

Der Alte schloß aufs neue die Augen und ächzte und lamentierte über die gräßlichen Schmerzen, die mit verdoppelter Wut wiederkehrten.

Das Morgenrot dämmerte auf und strahlte durch das Fenster. Antonio sagte dem Alten, es sei nun Zeit, ihn in die Straße Ripetta nach seiner Wohnung zu schaffen. Signor Pasquale antwortete mit einem tiefen kläglichen Seufzer. Salvator und Antonio hoben ihn aus dem Bette und wickelten ihn in einen weiten Mantel, den Frau Caterinas Eheherr getragen und den sie dazu hergab. Der Alte bat um aller Heiligen willen, doch nur die schändlichen Eistücher, womit sein kahles Haupt umwickelt, wegzunehmen und ihm Perücke und Federhut aufzusetzen. Auch sollte Antonio ihm womöglich den Zwickelbart in Ordnung richten, damit Marianna sich nicht so sehr vor seinem Anblick entsetze.

Zwei Träger mit einer Bahre standen bereits vor dem Hause. Frau Caterina, immerfort den Alten ausscheltend und unzählige Sprüchwörter einmischend, trug Betten herab, in die der Alte wohl eingepackt und so, von Salvator und Antonio begleitet, in sein Haus geschafft wurde.

Sowie Marianna den Oheim in dem erbärmlichen Zustande erblickte, schrie sie laut auf; ein Tränenstrom stürzte ihr aus den Augen; ohne auf den Geliebten, der mitgekommen, zu achten, faßte sie des Alten Hände, drückte sie an die Lippen, jammerte über das entsetzliche Unglück, das ihn betroffen. — So tiefes Mitleiden hatte das fromme Kind mit dem Alten, der sie mit seinem verliebten Wahnsinn marterte und quälte. Aber in demselben Augenblick tat sich auch die ihr angeborne innerste Natur des Weibes kund; denn ein paar bedeutende Blicke Salvators reichten hin, sie über das Ganze vollkommen zu verständigen. Nun erst schaute sie den glücklichen Antonio verstohlen an, indem sie hoch errötete, und es war wunderlieblich anzuschauen, wie durch Tränen ein schalkhaftes Lächeln siegend

hervorbrach. Überhaupt hatte Salvator sich die Kleine doch nicht so gar anmutig, so wunderbar hübsch gedacht, der Magdalena unerachtet, als er sie nun wirklich fand, und indem er den Antonio um sein Glück beinahe hätte beneiden mögen, fühlte er doppelt die Notwendigkeit, die arme Marianna dem verdammten Capuzzi zu entreißen, koste es, was es wolle.

Signor Pasquale, von seiner schönen Nichte so zärtlich empfangen, wie er es gar nicht verdiente, vergaß sein Ungemach. Er schmunzelte, er spitzte die Lippen, daß der Zwikkelbart wackelte, und ächzte und winselte nicht vor Schmerz, sondern vor lauter Verliebtheit.

Antonio bereitete kunstmäßig das Lager, schnürte, als man den Capuzzi hineingelegt, den Verband noch fester und umwickelte auch das linke Bein so, daß der Alte regungslos daliegen mußte wie eine Holzpuppe. Salvator begab sich fort und überließ die Liebenden ihrem Glücke.

Der Alte lag in Kissen begraben, zum Überfluß hatte ihm aber noch Antonio ein dickes, mit starkem Wasser benetztes Tuch um den Kopf gebunden, so daß er das Geflüster der Liebenden nicht vernehmen konnte, die nun zum erstenmal ihr ganzes Herz ausströmen ließen und sich unter Tränen und süßen Küssen ewige Treue schwuren. Nicht ahnen mochte der Alte, was vorging, da Marianna dazwischen sich unaufhörlich nach seinem Befinden erkundigte und es sogar zuließ, daß er ihre kleine weiße Hand an seine Lippen drückte.

Als der Tag hoch heraufgekommen, eilte Antonio fort, um, wie er sagte, die nötigen Mittel für den Alten herbeizuschaffen, eigentlich aber, um zu ersinnen, wie er wenigstens auf einige Stunden den Alten in noch hülfloseren Zustand versetzen solle, und mit Salvator zu überlegen, was dann weiter anzufangen sei.



Neuer Anschlag, den Salvator Rosa und Antonio Scacciati wider den Signor Pasquale Capuzzi und wider seine Gesellschaft ausführen, und was sich darauf weiter begibt

Am andern Morgen kam Antonio zum Salvator, ganz Mißmut und Gram.

"Nun, wie geht es", rief Salvator ihm entgegen, "warum hängt Ihr so den Kopf? — was ist Euch Überglücklichem, der Ihr nun jeden Tag Euer Liebchen schauen, küssen und herzen könnt, denn widerfahren?"

"Ach, Salvator", rief Antonio, "mit meinem Glück ist es aus, rein aus; der Teufel hat sein Spiel mit mir! Gescheitert ist unsere List, und wir stehen nun mit dem verdammten Capuzzi in offner Fehde!"

"Desto besser", sprach Salvator, "desto besser! Aber sprecht, Antonio, was hat sich denn begeben?"

"Stellt Euch vor", begann Antonio, "stellt Euch vor, Salvator, als ich gestern nach einer Abwesenheit von höchstens zwei Stunden mit allerlei Essenzen zurückkehre nach der Straße Ripetta, erblicke ich den Alten ganz angekleidet in der Türe seiner Wohnung. — Hinter ihm steht der Pyramiden-Doktor und der verfluchte Sbirre, und zwischen ihren Beinen zappelt noch etwas Buntes. Das war, glaub ich, die kleine Mißgeburt, der Pitichinaccio. Sowie der Alte mich ansichtig wurde, drohte er mit der Faust, stieß die grimmigsten Flüche und Verwünschungen aus und schwur, daß er mir alle Glieder zerbrechen lassen würde, sowie ich nur vor seiner Tür erschiene. ,Schert Euch zu allen Teufeln, verruchter Bartkratzer' — kreischte er; ,mit Lug und Trug gedenkt Ihr mich zu überlisten; wie der leidige Satan selbst stellt Ihr meiner armen frommen Marianna nach und gedenkt sie in Eure höllischen Schlingen zu locken - aber wartet! — meine letzten Dukaten wende ich dran, Euch, ehe Ihr's Euch verseht, das Lebenslicht ausblasen zu lassen! — Und Euer sauberer Patron, der Signor Salvator, der Mörder, der Räuber, der dem Strange entflohen, der soll zur Hölle fahren zu seinem Hauptmann Mas'Aniello,

den schaffe ich fort aus Rom, das ist mir leichte Mühe!'

So tobte der Alte, und da der verfluchte Sbirre, vom Pyramiden-Doktor angehetzt, Anstalt machte, auf mich loszugehen, da das neugierige Volk sich zu sammeln begann, was blieb mir übrig, als in aller Schnelligkeit das Feld zu räumen? Ich mochte in meiner Verzweiflung gar nicht zu Euch gehen: denn ich weiß schon, Ihr hättet mich nur mit meinen trostlosen Klagen ausgelacht. Könnt Ihr doch jetzt kaum das Lachen unterdrücken!"

Sowie Antonio schwieg, lachte Salvator auch in der Tat hell auf.

"Jetzt", rief er, "jetzt wird die Sache erst recht ergötzlich! Nun will ich aber Euch, mein wackerer Antonio, auch umständlich sagen, wie sich alles begab in Capuzzis Hause, als Ihr fortgegangen. Kaum wart Ihr nämlich aus dem Hause, als Signor Splendiano Accoramboni, der - Gott weiß, auf welche Weise - erfahren, daß sein Busenfreund Capuzzi in der Nacht das rechte Bein gebrochen, feierlichst mit einem Wundarzt heranrückte. Euer Verband, die ganze Art, wie Signor Pasquale behandelt worden, mußte Verdacht erregen. Der Wundarzt nahm die Schienen, die Bandagen ab, und man fand, was wir beide wissen, daß nämlich an dem rechten Fuß des würdigen Capuzzi auch nicht ein Knöchelchen verrenkt, viel weniger zerbrochen war! — Das übrige ließ sich nun ohne sonderlichen Scharfsinn erklären."

"Aber", sprach Antonio voll Erstaunen, "aber, mein bester Meister, aber sagt mir nur, wie Ihr das alles erfahren konntet, wie Ihr eindringt in Capuzzis Wohnung und alles wißt, was sich dort begibt?"

"Ich habe Euch gesagt", erwiderte Salvator, "daß in Capuzzis Hause, und zwar in demselben Stock, eine Bekannte der Frau Caterina wohnt. Diese Bekannte, die Witwe eines Weinhändlers, hat eine Tochter, zu der meine kleine Margarita öfters hingeht. Die Mädchen haben nun einen besondern

Instinkt, ihresgleichen aufzusuchen und zu finden, und so mittelten denn auch Rosa - so heißt die Tochter der Weinhändlerswitwe - und Margarita gar bald ein kleines Luftloch in der Speisekammer aus, das in eine finstere Kammer geht, die an Mariannas Gemach stößt. Mariannas Aufmerksamkeit entging keinesweges das Wispern und Flüstern der Mädchen sowie das Luftloch, und so wurde dann bald der Weg gegenseitiger Mitteilung eröffnet und benutzt. Hält der Alte sein Mittagsschläfchen, so schwatzen sich die Mädchen recht nach Herzenslust aus. Ihr werdet bemerkt haben, daß die kleine Margarita, der Frau Caterina und mein Liebling, gar nicht so ernst und spröde wie ihre ältere Schwester Anna, sondern ein drolliges, munteres, pfiffiges Ding ist. Ohne gerade von Eurer Liebschaft zu sprechen, habe ich sie unterrichtet, wie sie alles, was sich in Capuzzis Hause begibt, von Marianna sich erzählen lassen soll. Sie beweist sich dabei gar anstellig, und wenn ich vorhin über Euren Schmerz, über Eure Verzweiflung lachte, so geschah es, weil ich Euch zu trösten, Euch zu beweisen vermag, daß Eure Angelegenheiten jetzt erst in einen Gang kommen, der recht ersprießlich ist. — Ich habe einen ganzen Sack voll der treiflichsten Neuigkeiten für Euch -"

"Salvator", rief Antonio, indem ihm die Augen vor Freude glänzten, "welche Hoffnungen gehen mir auf! —Gesegnet sei das Luftloch in der Speisekammer! — Ich schreibe an Marianna -Margarita nimmt das Brieflein mit sich -"

"Nichts davon", entgegnete Salvator, "nichts davon, Antonio! Margarita soll uns nützlich werden, ohne gerade Eure Liebesbotin zu machen. Zudem könnte auch der Zufall, der oft sein wunderliches Spiel treibt, dem Alten Euer Liebesgeschwätz in die Hände bringen und der armen Marianna tausend neues Unheil bereiten, da sie in diesem Augenblick im Begriff steht, den alten verliebten Gecken ganz und gar unter ihr Samtpantöffelchen zu bringen. Denn hört nur an, wie sich ferner alles begeben. Die Art, wie Marianna den Alten, als wir ihn ins Haus brachten, empfing, hat ihn ganz

und gar bekehrt. Er glaubt nichts Geringeres, als daß Marianna Euch nicht mehr liebt, sondern ihm wenigstens zur Hälfte ihr Herz geschenkt hat, so daß es nur darauf ankommt, noch die andere Hälfte zu erobern. Marianna ist, nachdem sie das Gift Eurer Küsse eingesogen, sogleich um drei Jahre klüger, schlauer, erfahrener geworden. Sie hat den Alten nicht allein überzeugt, daß sie gar keinen Anteil hatte an unserm Streich, sondern daß sie unser Verfahren verabscheut und mit tiefer Verachtung jede List, die Euch in ihre Nähe bringen könnte, zurückweisen wird. Der Alte hat im Übermaß des Entzückens sich übereilt und geschworen, daß, wenn er seiner angebeteten Marianna eine Freude bereiten könne, es zur Stelle geschehen solle, sie möge nur irgendeinen Wunsch aussprechen. Da hat denn Marianna ganz bescheiden nichts weiter verlangt, als daß der Zio carissimo sie in das Theater vor der Porta de! Popolo zum Signor Formica führen solle. Darüber ist der Alte etwas verdutzt worden; es hat Beratschlagungen gegeben mit dem Pyramiden-Doktor und dem Pitichinaccio; endlich haben beide, Signor Pasquale und Signor Splendiano, beschlossen, Marianna wirklich morgenden Tages in jenes Theater zu bringen. Pitichinaccio soll sie in Zofentracht begleiten, wozu er sich' nur unter der Bedingung verstanden, daß Signor Pasquale außer der Plüschweste ihm noch eine Perücke schenken, in der Nacht ihn aber abwechselnd mit dem Pyramiden-Doktor nach Hause tragen solle. Darüber sind sie eins geworden, und morgen wird sich das merkwürdige Kleeblatt mit der holden Marianna wirklich in das Theater vor der Porta de! Popolo zum Signor Formica begeben." — Es ist nötig zu sagen, was für eine Bewandtnis es mit dem Theater vor der Porta de! Popolo und mit dem Signor Formica hatte.

Nichts ist betrübter, als wenn zur Zeit des Karnevals in Rom die Impresarien in der Wahl ihrer Compositori unglücklich waren, wenn der Primo tenore in der Argentina seine Stimme unterwegs gelassen, wenn der Primo uomo da donna in dem Teatro Valle am Schnupfen darniederliegt,

kurz, wenn das Hauptvergnügen, das die Römer zu finden glaubten, fehischlägt und der Giovedi grasso alle Hoffnungen, die sich vielleicht noch auftun könnten, mit einem Male abschneidet. Gerade nach einem solchen betrübten Karneval — kaum waren die Fasten vorüber - eröffnete ein gewisser Nicolo Musso vor der Porta de! Popolo ein Theater, auf dem er nichts darzustellen versprach als kleine improvisierte Buffonaden. Die Ankündigung war in einem geistreichen, witzigen Stil abgefaßt, und dadurch bekamen die Römer ein günstiges Vorurteil für Mussos Unternehmen, hätten sie auch sonst nicht schon im ungestillten dramatischen Heißhunger begierig nach der geringsten Speise der Art gehascht. Die Einrichtung des Theaters, oder vielmehr der kleinen Bude, zeugte eben nicht von den glänzenden Umständen des Unternehmers. Es gab weder ein Orchester noch Logen. Statt derselben war im Hintergrunde eine Galerie angebracht, an der das Wappen des Hauses Colonna prangte, ein Zeichen, daß der Conte Colonna den Musso und sein Theater in besondern Schutz genommen. Eine mit Teppichen verkleidete Erhöhung, auf welcher rundumher einige bunte Tapeten gehängt waren, die nach dem Bedürfnisse des Stücks Wald, Saal, Straße vorstellen mußten: das war die Bühne. Kam noch hinzu, daß die Zuschauer es sich gefallen lassen mußten, auf harten, unbequemen, hölzernen Bänken zu sitzen, so konnt es nicht fehlen, daß die Eintretenden ziemlich laut über Signor Musso murrten, der eine elende Bretterbude ein Theater nenne. Kaum hatten aber die beiden ersten Schauspieler, welche auftraten, einige Worte gesprochen, so wurden die Zuschauer aufmerksam; sowie das Stück fortging, stieg die Aufmerksamkeit zum Beifall, der Beifall zur Bewunderung, die Bewunderung zum höchsten Enthusiasmus, der sich durch das anhaltendste, wütendste Gelächter, Klatschen, Bravorufen Luft machte.

In der Tat konnte man auch nichts Vollkommneres sehen als diese improvisierten Darstellungen des Nicolo Musso, die von Witz, Laune und Geist übersprudelten und die Torheiten

des Tages mit scharfer Geißel züchtigten. Jeder Schauspieler gab seine Rolle mit unvergleichlicher Charakteristik, vorzüglich riß aber der Pasquarello durch sein unnachahmliches Gebärdenspiel, durch das Talent, in Stimme, Gang und Stellung bekannte Personen bis zur höchsten Täuschung nachzuahmen, durch seine unerschöpfliche Laune, durch das Schlagende seiner Einfälle alle Zuschauer mit sich fort. Den Mann, der die Rolle des Pasquarello spielte und der sich Signor Formica nannte, schien ein ganz besonderer, ungewöhnlicher Geist zu beseelen; oft war in Ton und Bewegung so etwas Seltsames, daß die Zuschauer im tollsten Gelächter sich von Schauern durchfröstelt fühlten. Ihm zur Seite stand würdig der Doktor Graziano mit einem Mienenspiel, mit einem Organ, mit einem Talent, in dem anscheinend ungereimtesten Zeuge die ergötzlichsten Dinge zu sagen, dem nichts in der Welt zu vergleichen. Diesen Doktor Graziano spielte ein alter Bologneser, Maria Agli mit Namen. Es konnte nicht fehlen, daß in kurzer Zeit die gebildete Welt von Rom unablässig hinströmte nach Nicolo Mussos kleinem Theater vor der Porta del Popolo, daß jeder den Namen Formica im Munde führte und auf der Straße wie im Theater in voller Begeistrung ausrief: "0 Formica! — Formica benedetto! — o Formicissimo!" — Man betrachtete den Formica als eine überirdische Erscheinung, und manche alte Frau, die im Theater sich vor Lachen ausgeschüttet, wurde, wagte ja einer nur das mindeste zu tadeln an Formicas Spiel, plötzlich ernsthaft und sprach feierlich: "Scherza coi fand e lascia star i santi!" — Das kam daher, weil Signor Formica außer dem Theater ein unerforschliches Geheimnis blieb. Man sah ihn durchaus nirgends, und vergebens blieb alles Mühen, ihm auf die Spur zu kommen. Nicolo Musso schwieg unerbittlich über Formicas Aufenthalt.

So war das Theater beschaffen, nach dem sich Marianna sehnte.

"Laßt uns", sprach Salvator, "unsern Feinden geradezu

auf den Hals gehen: der Gang aus dem Theater nach der Stadt bietet uns die bequemste Gelegenheit dazu dar."

Er teilte jetzt dem Antonio einen Plan mit, der gar abenteuerlich und gewagt schien, den aber Antonio mit Freuden ergriff, weil er hoffte, dabei seine Marianna dem niederträchtigen Capuzzi zu entreißen. Auch war es ihm recht, daß Salvator es vorzüglich darauf angelegt, den Pyramiden-Doktor zu züchtigen.

Als es Nacht worden, nahmen beide, Salvator und Antonio, Chitarren, gingen nach der Straße Ripetta und brachten, um den alten Capuzzi recht zu ärgern, der holden Marianna die schönste Serenata, die man nur hören konnte. Salvator spielte und sang nämlich meisterhaft, und Antonio tat es, was einen schönen Tenor betrifft, beinahe dem Odoardo Ceccarelli gleich. Signor Pasquale erschien zwar auf dem Balkon und wollte hinabschimpfend den Sängern Stillschweigen gebieten; die Nachbaren, die der schöne Gesang in die Fenster gelockt, riefen ihm aber zu: weil er mit seinen Gefährten so heule und schreie wie alle höllische Geister zusammen, wolle er wohl keine gute Musik in der Straße leiden; er möge sich hineinscheren und die Ohren verstopfen, wenn er den schönen Gesang nicht hören wolle. — So mußte Signor Pasquale zu seiner Marter dulden, daß Salvator und Antonio beinahe die ganze Nacht hindurch Lieder sangen, die bald die süßesten Liebesworte enthielten, bald die Torheit verliebter Alten verhöhnten. Sie gewahrten deutlich Marianna im Fenster, die Signor Pasquale vergebens mit den süßesten Worten und Beteurungen beschwor, sich doch nicht der bösen Nachtluft auszusetzen.

Am folgenden Abend wandelte dann die merkwürdigste Gesellschaft, die man jemals gesehen, durch die Straße Ripetta nach der Porta de! Popolo. Sie zog aller Augen auf sich, und man fragte, ob denn der Karneval noch einen Rest toller Masken zurückgelassen. — Signor Pasquale Capuzzi in seinen bunten, spanischen, wohl gebürsteten Kleidern, mit einer neuen gelben Feder auf dem spitzen Hut

prangend, geschniegelt und gebügelt, durch und durch Zierlichkeit und Grazie, in zu engen Schuhen wie auf Eiern dahertretend, führte am Arm die holde Marianna, deren schlanken Wuchs, viel weniger deren Antlitz man nicht erschauen konnte, weil sie auf ungewöhnliche Weise in Schleier verhüllt war. Auf der andern Seite schritt Signor Splendiano Accoramboni in seiner großen Perücke, die den ganzen Rücken bedeckte, so daß es von hinten anzusehen war, als wandle ein ungeheurer Kopf daher auf zwei kleinen Beinchen. Dicht hinter Marianna, sich beinahe an sie anklammernd, krebste das kleine Scheusal, der Pitichinaccio, nach, in feuerfarbnen Weiberkleidern und den ganzen Kopf auf widerwärtige Art mit bunten Blumen besteckt.

Signor Formica übertraf sich den Abend selbst, und was noch nie geschehn, er mischte kleine Lieder ein, die er bald in dem Ton dieses, bald jenes bekannten Sängers vortrug. In dem alten Capuzzi erwachte alle Theaterlust, die früher in jungen Jahren beinahe ausartete in Wahnsinn. Er küßte in Entzücken der Marianna ein Mal über das andere die Hände und schwur, daß er keinen Abend versäumen werde, mit ihr Nicolo Mussos Theater zu besuchen. Er erhob den Signor Formica bis über die Sterne und stimmte mit aller Gewalt ein in den lärmenden Beifall der übrigen Zuschauer. Weniger zufrieden war der Signor Splendiano, der unablässig den Signor Capuzzi und die schöne Marianna ermahnte, nicht so übermäßig zu lachen. Er nannte in einem Atem etliche zwanzig Krankheiten, welche die zu große Erschütterung des Zwerchfells herbeiführen könne. Beide, Marianna und Capuzzi, kehrten sich aber daran ganz und gar nicht. Ganz unglücklich fühlte sich Pitichinaccio. Er hatte hinter dem Pyramiden-Doktor Platz nehmen müssen, der ihn mit seiner großen Perücke ganz und gar umschattete. Er sah auch nicht das mindeste von der Bühne und den spielenden Personen und wurde überdem von zwei mutwilligen Weibern, die sich neben ihn gesetzt, unaufhörlich geängstigt und gequält. Sie nannten ihn eine artige liebe Signora, fragten,

ob er trotz seiner Jugend schon verheiratet sei und Kinderchen habe, die allerliebste Wesen sein müßten und so weiter. Dem armen Pitichinaccio standen die kalten Schweißtropfen auf der Stirne, er wimmerte und winselte und verfluchte sein elendes Dasein.

Als die Vorstellung geendet, wartete Signor Pasquale, bis sich alle Zuschauer aus dem Hause entfernt hatten. Man löschte das letzte Licht aus, an dem Signor Splendiano noch eben ein Stückchen von einer Wachsfackel angezündet hatte, als Capuzzi mit seinen würdigen Freunden und der Marianna langsam und bedächtig den Rückweg antrat.

Pitichinaccio weinte und schrie; Capuzzi mußte ihn zu seiner Qual auf den linken Arm nehmen, mit dem rechten faßte er Marianna. Vorauf zog der Doktor Splendiano mit seinem Fackelstümpfchen, das mühsam und erbärmlich genug brannte, so daß sie bei dem matten Schein die dicke Finsternis der Nacht erst recht gewahr wurden.

Noch ziemlich weit entfernt waren sie von der Porta de! Popolo, als sie sich urplötzlich von mehreren hohen, in Mäntel dicht verhüllten Gestalten umringt sahen. In dem Augenblick wurde dem Doktor die Fackel aus der Hand geschlagen, daß sie am Boden verlöschte. — Lautlos blieb Capuzzi, blieb der Doktor stehen. Da fiel, man wußte nicht, woher er kam, ein blasser rötlicher Schimmer auf die Vermummten, und vier bleiche Totengesichter starrten den Pyramiden-Doktor mit hohlen, gräßlichen Augen an. "Wehe - wehe — wehe dir, Splendiano Accoramboni!" — So heulten die entsetzlichen Gespenster in tiefem, dumpfen Ton; dann wimmerte einer: "Kennst du mich, kennst du mich, Splendiano? — Ich bin Cordier, der französische Maler, der in voriger Woche begraben wurde, den du mit deiner Arznei unter die Erde brachtest!" Dann der zweite: "Kennst du mich, Splendiano? Ich bin Küfner, der deutsche Maler, den du mit deinen höllischen Latwergen vergiftetest!" Dann der dritte: "Kennst du mich, Splendiano? Ich bin Liers, der Flamländer, den du mit deinen Pillen umbrachtest und seinen

Bruder um die Gemälde betrogst." Dann der vierte: "Kennst du mich, Splendiano? Ich bin Ghigi, der neapolitanische Maler, den du mit deinen Pulvern tötetest!" — Und nun alle vier zusammen: "Wehe, wehe - wehe dir, Splendiano Accoramboni, verfluchter Pyramiden-Doktor! — du mußt hinab - hinab zu uns unter die Erde. — Fort - fort — fort mit dir! — Halloh - halloh!" — und damit stürzten sie auf den unglücklichen Doktor, hoben ihn hoch in die Luft und fuhren mit ihm ab wie der Sturmwind.

Sosehr das Entsetzen den Signor Pasquale übermannen wollte, so faßte er sich doch mit wunderbarem Mute, als er sah, daß es nur auf seinen Freund Accoramboni abgesehen war. Pitichinaccio hatte den Kopf samt dem Blumenbeet, das darauf befindlich, unter Capuzzis Mantel gesteckt und sich so fest um seinen Hals geklammert, daß alle Mühe, ihn abzuschütteln, vergebens blieb.

"Erhole dich", sprach Capuzzi zu Marianna, als nichts mehr zu schauen war von den Gespenstern und dem Pyramiden-Doktor, "erhole dich, komm zu mir, mein süßes, liebes Täubchen! — Mein würdiger Freund Splendiano, der ist nun hin; Sankt Bernardus, der selbst ein tüchtiger Doktor war und vielen zur Seligkeit verholfen, möge ihm beistehen, wenn ihm die rachsüchtigen Maler, die er zu rasch nach seiner Pyramide befördert hat, den Hals umdrehen! — Wer wird nun zu meinen Kanzonen den Baß singen? — Und der Bengel, der Pitichinaccio, drückt mir dermaßen die Kehle zu, daß ich den Schreck, den mir Spiendianos Transport verursacht, mit eingerechnet, vielleicht binnen sechs Wochen keinen reinen Ton werde hervorbringen können! — Sei nur nicht bange, meine Marianna! mein süßes Hoffen! — es ist alles vorüber!"

Marianna versicherte, daß sie den Schreck ganz überwunden, und bat, sie nur allein, ohne Hülfe gehen zu lassen, damit Capuzzi sich von seinem lästigen Schoßkinde befreien könne. Signor Pasquale faßte aber das Mädchen nur noch fester und meinte, daß er um keinen Preis der Welt sie

in dieser bedrohlichen Finsternis auch nur einen Schritt von sich lassen würde.

In demselben Augenblicke, als nun Signor Pasquale ganz wohlgemütlich weiter fort wollte, tauchten dicht vor ihm, wie aus tiefer Erde, vier gräßliche Teufelsgestalten auf, in kurzen rotgleißenden Mänteln, die ihn mit funkelnden Augen anblitzten und ein abscheuliches Gekrächze und Gepfeife erhoben. "Hui, hui! —Pasquale Capuzzi, verfluchter Narr! — Alter verliebter Teufel! — Wir sind deine Kumpane, wir sind Liebesteufel, wir kommen, dich zu holen in die Hölle, in die glühende Hölle, samt deinem Spießgesellen Pitichinaccio!" — So kreischten die Teufel und fielen über den Alten her. Capuzzi stürzte mit dem Pitichinaccio zu Boden, und beide erhoben ein gellendes, durchdringendes Jammergeschrei, wie eine ganze Herde geprügelter Esel.

Marianna hatte sich mit Gewalt vom Alten losgerissen und war auf die Seite gesprungen. Da schloß sie einer von den Teufeln sanft in die Arme und sprach mit süßer, lieblicher Stimme: "Ach, Marianna! — meine Marianna! — endlich ist's gelungen! —Die Freunde tragen den Alten weit, weit fort, während wir eine sichere Zuflucht finden!" — "Mein Antonio!"lispelte Marianna leise.

Aber plötzlich ward es ringsumher hell von Fackeln, und Antonio fühlte einen Stich in das Schulterblatt. Mit Blitzesschnelle wandte er sich um, riß den Degen aus der Scheide und ging dem Kerl, der eben mit dem Stilett in der Hand den zweiten Stoß führen wollte, zu Leibe. Er gewahrte, wie seine drei Freunde sich gegen eine Überzahl von Sbirren verteidigten. Es gelang ihm, den Kerl, der ihn angegriffen, fortzutreiben und sich zu den Freunden zu gesellen. So tapfer sie sich aber auch hielten, der Kampf war doch zu ungleich; die Sbirren mußten unfehlbar Siegen, hätten sich nicht plötzlich mit lautem Geschrei zwei Männer in die Reihe der Jünglinge gestürzt, von denen der eine sogleich den Sbirren, der dem Antonio am härtesten zusetzte, niederstieß.

Der Kampf war nun in wenigen Augenblicken zum Nachteil

der Sbirren entschieden. Wer von ihnen nicht hart verwundet auf dem Platze lag, floh mit lautem Geschrei der Porta de! Popolo zu.

Salvator Rosa (niemand anders war der, der dem Antonio zu Hülfe eilte und den Sbirren niederstieß) wollte mit Antonio und den jungen Malern, die in den Teufelsmasken steckten, ohne weiteres hinter den Sbirren her, nach der Stadt.

Maria Agli, der mit ihm gekommen und, seines hohen Alters unerachtet, den Sbirren zugesetzt hatte, trotz jedem andern, meinte indessen, dies sei nicht ratsam, da die Wache bei der Porta del Popolo, von dem Vorfall unterrichtet, sie alle unbezweifelt verhaften würde. Sie begaben sich nun alle zum Nicolo Musso, der sie in seinem kleinen, engen Hause, unfern des Theaters, mit Freuden aufnahm. Die Maler legten ihre Teufelslarven und ihre mit Phosphor bestrichenen Mäntel ab, und Antonio, der außer dem unbedeutenden Stich im Schulterblatt gar nicht verwundet war, machte den Wundarzt geltend, indem er den Salvator, den Agli und die Jünglinge, welche alle Wunden davongetragen, mit denen es aber nicht die mindeste Gefahr hatte, verband.

Der Streich, so toll und keck angelegt, wäre gelungen, hätten Salvator und Antonio nicht eine Person außer acht gelassen, die ihnen alles verdarb. Michele, der gewesene Bravo und Sbirre, der unten in Capuzzis Hause wohnte und in gewisser Art seinen Hausknecht machte, war, wie es Capuzzi gewollt, hinter ihm hergegangen nach dem Theater, wiewohl in einiger Entfernung, da der Alte sich des zerlumpten Tagediebes schämte. Ebenso hatte Michele den Alten zurückbegleitet. Als nun die Gespenster erschienen, merkte Michele, der ganz eigentlich weder Tod noch Teufel fürchtete, gleich Unrat, lief in finstrer Nacht spornstreichs nach der Porta de! Popolo, machte Lärm und kam mit den Sbirren, die sich zusammengefunden, wie wir wissen, gerade in dem Augenblick an, als die Teufel über den Signor Pasquale herfielen und ihn entführen wollten, wie die Toten den Pyramiden-Doktor.

In dem hitzigsten Gefecht hatte doch einer von den jungen Malern sehr deutlich wahrgenommen, daß ein Kerl, die ohnmächtige Marianna auf den Armen, fortlief nach dem Tore und daß ihm Signor Pasquale mit unglaublicher Hast, als sei Quecksilber in seine Beine gefahren, nachrannte. Dabei hatte etwas im Fackelschein hell Aufgleißendes an seinem Mantel gehangen und gewimmert; das mochte wohl der Pitichinaccio gewesen sein.

Am andern Morgen wurde bei der Pyramide des Cestius der Doktor Splendiano gefunden, ganz zusammengekugelt und in seine Perücke hineingedrückt, fest eingeschlafen, wie in einem warmen, weichen Nest. Als man ihn weckte, redete er irre und war schwer zu überzeugen, daß er sich noch auf der Oberwelt, und zwar in Rom, befinde, und als man ihn endlich nach Hause gebracht, dankte er der Jungfrau und allen Heiligen für seine Errettung, warf alle seine Tinkturen, Essenzen, Latwergen und Pulver zum Fenster hinaus, verbrannte seine Rezepte und gelobte, künftig seine Patienten nicht anders zu heilen als durch Bestreichen und Auflegen der Hände, wie es einmal ein berühmter Arzt, der zugleich ein Heiliger war, dessen Namen mir aber nicht beifallen will, vor ihm mit vielem Erfolg getan. Denn seine Patienten starben ebensogut wie die Patienten der andern und sahen schon vor dem Tode den Himmel offen und alles, was der Heilige nur wollte.

"Ich weiß nicht", sprach Antonio andern Tages zum Salvator, "ich weiß nicht, welcher Grimm in mir entbrannt ist, seitdem mein Blut geflossen! — Tod und Verderben dem niederträchtigen Capuzzi! — Wißt Ihr, Salvator, daß ich entschlossen bin, mit Gewalt einzudringen in Capuzzis Haus? — Ich stoße den Alten nieder, wenn er sich widersetzt, und entführe Marianna!"

"Herrlicher Anschlag", rief Salvator lachend, "herrlicher Anschlag! —Vortreiflich ausgedacht! — Ich zweifle gar nicht, daß du auch das Mittel gefunden haben wirst, deine Marianna durch die Luft nach dem Spanischen Platz zu bringen,

damit sie dich nicht, ehe du diese Freistatt erreicht hast, greifen und aufhängen! — Nein, mein lieber Antonio! — mit Gewalt ist hier gar nichts auszurichten, und Ihr könnt es Euch wohl denken, daß Signor Pasquale jetzt jedem öffentlichen Angriff auszuweichen wissen wird. Zudem hat unser Streich gar gewaltiges Aufsehen gemacht, und gerade das unmäßige Gelächter der Leute über die tolle Art, wie wir den Splendiano und den Capuzzi gehetzt haben, weckte die Polizei aus dem sanften Schlummer, die uns nun, soviel sie es mit ihren schwächlichen Mitteln vermag, nachstellen wird. —Nein, Antonio, laßt uns zur List unsre Zuflucht nehmen. Con arte e con inganno si vive mezzo 1' anno, con inganno e con arte si vive 1' altra parte. (Es bringen Trug und Künste des Sommers uns Gewinste, und schlaue Kunst, betrügen, schafft Winters uns Vergnügen!) — So spricht Frau Caterina, und sie hat recht. — Überdem muß ich lachen, daß wir recht wie junge, unbedachtsame Leute gehandelt haben, welches mir vorzüglich zur Last fällt, da ich ein gut Teil älter bin als Ihr. Sagt, Antonio, wäre uns der Streich wirklich gelungen, hättet Ihr Marianna dem Alten wirklich entrissen, sagt, wohin mit ihr fliehen, wo sie verborgen halten, wie es anfangen, so rasch die Verbindung durch den Priester herbeizuführen, daß der Alte sie nicht mehr zu hintertreiben vermochte? — Ihr sollt in wenigen Tagen Eure Marianna wirklich entführen. Ich habe den Nicolo Musso, den Formica in alles eingeweiht und mit ihnen gemeinschaftlich einen Streich ersonnen, der kaum fehlschlagen kann. Tröstet Euch nur, Antonio! —Signor Formica wird Euch helfen!"

"Signor Formica?" sprach Antonio mit gleichgültigem, beinahe verächtlichem Ton, "Signor Formica? — Was kann mir der Spaßmacher nützen?"

"Hoho", rief Salvator, "habt Ehrfurcht vor dem Signor Formica, das bitte ich mir aus! — Wißt Ihr denn nicht, daß Formica eine Art von Zaubrer ist, der ganz im Verborgnen über die wunderbarsten Künste gebietet? — Ich sage Euch, Signor Formica wird helfen! Auch der alte Maria Agli, der

vortreffliche Doktor Graziano Bolognese, ist in unser Komplott gezogen und wird dabei eine gar bedeutende Rolle spielen. Aus Mussos Theater, Antonio, sollt Ihr Eure Marianna entführen."

"Salvator", sprach Antonio, "Ihr schmeichelt mir mit trügerischen Hoffnungen! — Ihr sagtet selbst, daß Signor Pasquale jetzt sorglich jedem öffentlichen Angriff ausweichen wird. Wie ist es denn nun möglich, daß er sich entschließen könnte, nachdem ihm so Arges widerfahren, noch einmal Mussos Theater zu besuchen?"

"Den Alten dahin zu verlocken", erwiderte Salvator, "ist so schwer nicht, als Ihr denken möget. Viel schwerer wird es halten, zu bewirken, daß er ohne seine Kumpanen in das Theater steigt. — Doch dem sei, wie ihm wolle, jetzt ist es nötig, daß Ihr, Antonio, Euch vorbereitet, mit Marianna, sowie der günstige Moment da ist, aus Rom entfliehen zu können. — Ihr sollt nach Florenz, Ihr seid dort schon durch Eure Kunst empfohlen, und daß es Euch nach Eurer Ankunft nicht an Bekanntschaft, nicht an würdiger Unterstützung und Hülfe mangeln soll, dafür laßt mich sorgen! — Einige Tage müssen wir ruhen, dann wollen wir sehen, was sich weiter begibt. — Noch einmal, Antonio! — faßt Hoffnung; Formica wird helfen



Neuer Unfall, der den Signor Pasquale Capuzzi betrifft. Antonio Scacciati führt einen Anschlag im Theater des Nicolo Musso glücklich aus und flüchtet nach Florenz

Signor Pasquale wußte zu gut, wer ihm das Unheil, das ihn und den armen Pyramiden-Doktor vor der Porta de! Popolo betroffen, bereitet hatte, und man kann denken, in welchem Grimm er entbrannt war gegen Antonio und gegen Salvator Rosa, den er mit Recht für den Anstifter von allem hielt. Er mühte sich ab, die arme Marianna zu trösten, die ganz erkrankt war vor Schreck, wie sie sagte; aber eigentlich vor Betrübnis, daß der verdammte Michele mit seinen Sbirren

sie ihrem Antonio entrissen hatte. Margarita brachte ihr indessen fleißig Nachricht von dem Geliebten, und auf den unternehmenden Salvator setzte sie ihre ganze Hoffnung. — Mit Ungeduld wartete sie von einem Tage zum andern auf irgendein neues Ereignis und ließ diese Ungeduld aus an dem Alten durch tausend Quälereien, die ihn in seiner wahnsinnigen Verliebtheit kirre und kleinmütig genug machten, ohne indessen etwas über den Liebesteufel zu vermögen, der in seinem Innern spukte. Hatte Marianna alle üble Laune des eigensinnigsten Mädchens im reichlichsten Maße ausgegossen und litt sie dann nur ein einziges Mal, daß der Alte seine welken Lippen auf ihre kleine Hand drückte, so schwur er im Übermaße des Entzückens, daß er nicht ablassen wolle vom Pantoffel des Papstes mit inbrünstigen Küssen, bis er die Dispensation zur Heirat mit seiner Nichte, dem Ausbunde aller Schönheit und Liebenswürdigkeit, erhalten. Marianna hütete sich, ihn in diesem Entzücken zu stören, denn eben in diesem Hoffnungsschimmer des Alten leuchtete auch ihre Hoffnung auf, ihm desto leichter zu entfliehen, je fester er sie mit unauflöslichen Banden verstrickt glaubte.

Einige Zeit war vergangen, als eines Tages zur Mittagsstunde Michele die Treppe heraufstampfte und dem Signor Pasquale, der ihm nach vielem Klopfen die Tür öffnete, mit vieler Weitläuftigkeit meldete, daß ein Herr unten sei, der durchaus verlange, den Signor Pasquale Capuzzi, der, wie er wisse, in diesem Hause wohne, zu sprechen.

"0 all ihr himmlischen Heerscharen", schrie der Alte erbost, "ob der Schlingel nicht weiß, daß ich in meiner Wohnung durchaus keinen Fremden spreche!"

Der Herr, meinte Michele, sei aber von gar feinem Ansehen, etwas ältlich, führe eine hübsche Sprache und nenne sich Nicolo Musso!

"Nicolo Musso", sprach Capuzzi nachdenklich in sich hinein, "Nicolo Musso, der das Theater vor der Porta de! Popolo hat, was mag der nur von mir wollen?"Damit verschloß

und verriegelte er sorgfältig die Türe und stieg mit Michele die Treppe herab, um mit Nicolo unten vor dem Hause auf der Straße zu sprechen.

"Mein bester Signor Pasquale", kam ihm Nicolo, sich mit freiem Anstande verneigend, entgegen, "wie hoch erfreut bin ich, daß Ihr mich Eurer Bekanntschaft würdigt! Wie vielen Dank bin ich Euch schuldig! — Seit die Römer Euch, den Mann von dem bewährtesten Geschmack, von der durchdringendsten Wissenschaft und Virtuosen in der Kunst, in meinem Theater gesehen haben, verdoppelte sich mein Ruf und meine Einnahme. Um so mehr schmerzt es mich tief, daß böse mutwillige Buben Euch und Eure Gesellschaft auf mörderische Weise angefallen haben, als Ihr aus meinem Theater nachts nach der Stadt zurückkehrtet! — Um aller Heiligen willen, Signor Pasquale, werft dieses Streichs halber, der schwer geahndet werden wird, nicht einen Groll auf mich und mein Theater! — Entzieht mir nicht Euren Besuch!"

"Bester Signor Nicolo", erwiderte der Alte schmunzelnd, "seid versichert, daß ich noch nie mehr Vergnügen empfand als in Eurem Theater. Euer Formica, Euer Agli, das sind Schauspieler, wie ihresgleichen nicht zu finden. Doch der Schreck, der meinem Freunde, dem Signor Splendiano Accoramboni, ja mir selbst beinahe den Tod gebracht hat, war zu groß; er hat mir nicht Euer Theater, wohl aber den Gang dahin auf immer verleidet. Schlagt Ihr Euer Theater auf dem Platze de! Popolo oder in der Straße Babuina, in der Straße Ripetta auf, so fehle ich gewiß keinen Abend, aber vor das Tor de! Popolo bringt mich zur Nachtzeit keine Macht der Erde."

Nicolo seufzte auf, wie von tiefem Kummer erfaßt. "Das trifft mich hart", sprach er dann, "härter, als Ihr vielleicht glaubt, Signor Pasquale! — Ach! — auf Euch hatte ich alle meine Hoffnung gesetzt! — Um Euern Beistand wollte ich flehen

"Um meinen Beistand", fragte der Alte verwundert, "um

meinen Beistand, Signor Nicolo? Auf welche Weise hätte der Euch frommen können?"

"Mein bester Signor Pasquale", erwiderte Nicolo, indem er mit dem Schnupftuch über die Augen fuhr, als trockne er hervorquellende Tränen, "mein bester vortreiflichster Signor Pasquale, Ihr werdet bemerkt haben, daß meine Schauspieler hin und wieder Arien einmischten. Das gedachte ich denn so ganz unvermerkt weiter und weiter hinaufzutreiben, ein Orchester anzuschaffen, kurz, zuletzt alle Verbote umgehend, eine Oper einzurichten. Ihr, Signor Capuzzi, seid der erste Komponist in ganz Italien, und nur der unglaubliche Leichtsinn der Römer, der hämische Neid der Maestri ist schuld daran, daß man auf den Theatern etwas anders hört als Eure Kompositionen. Signor Pasquale, um Eure unsterblichen Werke wollte ich Euch fußfällig bitten, um sie, wie es nur in meinen Kräften stand, auf mein geringes Theater zu bringen

"Bester Signor Nicolo", sprach der Alte, den vollsten Sonnenschein im Antlitz, "was unterreden wir uns denn hier auf öffentlicher Straße! — Laßt es Euch gefallen, ein paar steile Treppen hinaufzusteigen! — Kommt mit mir in meine schlechte Wohnung!"

Kaum mit Nicolo im Zimmer angelangt, holte der Alte ein großes Pack bestäubter Noten hervor, schlug es auseinander, nahm die Chitarre zur Hand und begann das entsetzliche, gehende Gekreisch, welches er Singen nannte.

Nicolo gebärdete sich wie ein Verzückter! — Er seufzte - er stöhnte - er schrie dazwischen: "Bravo! — bravissimo! — benedettissimo Capuzzi!" — bis er endlich, wie im Übermaß der seligsten Begeisterung, dem Alten zu Füßen stürzte und seine Knie umfaßte, die er aber so heftig drückte, daß der Alte in die Höhe fuhr, vor Schmerz aufjauchzte, laut aufschrie: "Alle Heiligen! —Laßt ab von mir, Signor Nicolo, Ihr bringt mich um!"

"Nein", rief Nicolo, "nein, Signor Pasquale, nicht eher stehe ich auf, bis Ihr mir die göttlichen Arien versprecht,

die Ihr soeben vorgetragen, damit sie übermorgen Formica in meinem Theater singen kann!"

"Ihr seid ein Mann von Geschmack", ächzte Pasquale, "ein Mann von tiefer Einsicht! — Wem könnte ich besser meine Kompositionen anvertrauen als Euch! — Ihr sollt alle meine Arien mit Euch nehmen - laßt mich nur los! — Aber, o Gott, ich werde sie nicht hören, meine göttliche Meisterwerke! —Laßt mich nur los, Signor Nicolo!"

"Nein", rief Nicolo, noch immer auf den Knien und des Alten dürre Spindelbeine fest umklammernd, "nein, Signor Pasquale, ich lasse Euch nicht, bis Ihr Euer Wort gebt, übermorgen in meinem Theater zu sein! —Besorgt doch nur nicht einen neuen Anfall! Glaubt Ihr denn nicht, daß die Römer, haben sie Eure Arien gehört, Euch im Triumph mit hundert Fackeln zu Hause bringen werden? — Aber sollte das auch nicht geschehen, ich selbst und meine getreuen Kameraden, wir bewaffnen uns und geleiten Euch bis in Euer Haus!"

"Ihr selbst", fragte Pasquale, "wollt mich begleiten mit Euern Kameraden! —Wieviel Leute sind das wohl?"

"Acht bis zehn Personen stehen Euch zu Befehl, Signor Pasquale! Entschließt Euch, erhört mein Flehen!"

"Formica", lispelte Pasquale, "hat eine schöne Stimme! — Wie er nur meine Arien vortragen wird!"

"Entschließt Euch", rief Nicolo noch einmal, indem er fester des Alten Beine packte! — "Ihr steht mir", sprach der Alte, "Ihr steht mir dafür, daß ich unangefochten mein Haus erreiche?"

"Ehre und Leben zum Pfande", rief Nicolo, indem er den Beinen einen schärfern Druck gab.

"Topp — schrie der Alte, "ich bin übermorgen in Eurem Theater!"

Da sprang Nicolo auf und drückte den Alten an die Brust, daß er ganz außer Atem ächzte und keuchte.

In dem Augenblick trat Marianna herein. Signor Pasquale wollte sie zwar mit einem grimmigen Blick, den er ihr zuwarf, zurückscheuchen; sie kehrte sich aber gar nicht daran,

sondern ging geradezu auf den Musso los und sprach wie im Zorn: "Vergebens, Signor Nicolo, versucht Ihr, meinen lieben Oheim in Euer Theater zu locken! — Ihr vergeßt, daß der abscheuliche Streich, den ruchlose Verführer, die mir nachstellen, neulich uns spielten, meinem herzgeliebten Oheim, seinem würdigen Freunde Splendiano, ja mir selbst beinahe das Leben kostete! Nimmermehr werde ich zugeben, daß mein Oheim sich aufs neue solcher Gefahr aussetze! Steht nur ab von Euern Bitten, Nicolo! — Nicht wahr, mein geliebtester Oheim, Ihr bleibt fein im Hause und wagt Euch nicht mehr vor die Porta de! Popolo in der verräterischen Nacht, die niemands Freund ist?"

Signor Pasquale war wie vom Donner gerührt. Er starrte seine Nichte mit weit aufgerissenen Augen an. Darauf gab er ihr die süßesten Worte und setzte weitläufig auseinander, wie Signor Nicolo sich dazu verpflichtet, solche Maßregeln zu treffen, die jeder Gefahr beim Rückwege vorbeugen sollten.

"Und doch", sprach Marianna, "bleibe ich bei meinem Wort, indem ich Euch, geliebtester Oheim, auf das flehentlichste bitte, nicht in das Theater vor der Porta de! Popolo zu gehen. — Verzeiht, Signor Nicolo, daß ich in Eurer Gegenwart geradezu heraussage, welche schwarze Ahnung in meiner Seele ist! — Ihr seid, ich weiß es, mit Salvator Rosa und auch wohl mit dem Antonio Scacciati bekannt. — Wie, wenn Ihr mit unsern Feinden unter einer Decke stecktet, wie, wenn Ihr meinen Oheim, der, ich weiß es, ohne mich Euer Theater nicht besuchen wird, nur auf hämische Weise verlocken wolltet, damit desto sicherer ein neuer verruchter Anschlag ausgeführt werde?"

"Welcher Verdacht", rief Nicolo ganz erschrocken, "welcher entsetzliche Verdacht, Signora? — Kennt Ihr mich denn von solch einer schlimmen Seite? Hab ich solch einen bösen Ruf, daß Ihr mir den abscheulichsten Verrat zutraut? — Aber denkt Ihr einmal so schlecht von mir, setzt Ihr Mißtrauen in den Beistand, den ich Euch zugesagt, nun gut, so laßt

Euch von Michele, der, wie ich weiß, Euch aus den Händen der Räuber gerettet hat, begleiten, und Michele soll eine gute Anzahl Sbirren mitnehmen, die Euch ja vor dem Theater erwarten können, da Ihr doch nicht verlangen werdet, daß ich meine Plätze mit Sbirren füllen soll."

Marianna sah dem Nicolo starr in die Augen, dann sprach sie ernst und feierlich: "Was sagt Ihr? — Michele und Sbirren sollen uns begleiten? — Nun sehe ich wohl, Signor Nicolo, daß Ihr es ehrlich meint, daß mein schlimmer Verdacht ungerecht ist! — Verzeiht mir nur meine unbesonnenen Reden! — Und doch kann ich die Angst, die Besorgnis für meinen geliebten Oheim nicht überwinden, und doch bitte ich ihn, den bedrohlichen Gang nicht zu wagen

Signor Pasquale hatte das ganze Gespräch mit seltsamen Blicken, die deutlich von dem Kampf in seinem Innern zeugten, angehört. Jetzt konnte er sich nicht länger halten, er stürzte vor der schönen Nichte auf die Knie, ergriff ihre Hände, küßte sie, benetzte sie mit Tränen, die ihm aus den Augen quollen, rief wie außer sich: "Himmlische, angebetete Marianna, lichterloh schlagen die Flammen hervor, die in meinem Herzen brennen! Ach, diese Angst, diese Besorgnis, das ist ja das süßeste Geständnis, daß du mich liebst!" — Und nun flehte er sie an, doch nur keiner Furcht Raum zu geben und von dem Theater herab die schönste der Arien zu hören, die jemals der göttlichste Komponist erfunden.

Auch Nicolo ließ nicht nach mit den wehmütigsten Bitten, bis Marianna sich für überwunden erklärte und versprach, alle Furcht beiseite gesetzt, dem zärtlichen Oheim in das Theater vor der Porta de! Popolo zu folgen. — Signor Pasquale war verzückt in den höchsten Himmel der Wonne. Er hatte die Überzeugung von Mariannas Liebe, die Hoffnung, im Theater seine Musik zu hören und Lorbeern zu erhaschen, nach denen er so lange vergebens getrachtet; er stand daran, seine süßesten Träume erfüllt zu sehen! — Nun wollte er auch sein Licht recht hell leuchten lassen vor den treu verbundenen

Freunden, er dachte daher gar nicht anders, als daß Signor Splendiano und der kleine Pitichinaccio ebenso mit ihm gehen sollten wie das erstemal.

Außer den Gespenstern, die ihn entführten, waren dem Signor Splendiano in der Nacht, als er neben der Pyramide des Cestius in seiner Perücke schlief, allerlei böse Erscheinungen gekommen. Der ganze Totenacker war lebendig worden, und hundert Leichen hatten die Knochenarme nach ihm ausgestreckt, laut jammernd über seine Essenzen und Latwergen, deren Qual sie noch im Grabe nicht verwinden konnten. Daher kam es, daß der Pyramiden-Doktor, konnte er gleich dem Signor Pasquale nicht ableugnen, wie nur der ausgelassenste Mutwille verruchter Buben ihm den Streich spielte, doch trübsinnig blieb und, sonst eben nicht zum abergläubischen Wesen geneigt, jetzt überall Gespenster sah und von Ahnungen und bösen Träumen hart geplagt wurde.

Pitichinaccio war nun durchaus nicht zu überzeugen, daß das nicht wirkliche Teufel aus der flammenden Hölle gewesen sein sollten, die über den Signor Pasquale und über ihn herfielen, und schrie laut auf, wenn man nur an jene verhängnisvolle Nacht dachte. Alle Beteurungen des Signor Pasquale, daß niemand anders als Antonio Scacciati und Salvator Rosa hinter den Teufelsmasken gesteckt, schlugen nicht an, denn Pitichinaccio schwur unter vielen Tränen, daß, seiner Angst, seines Entsetzens unerachtet, er an der Stimme und an dem ganzen Wesen den Teufel Fanfarell sehr gut erkannt habe, der ihm den Bauch braun und blau gezwickt.

Man kann denken, wie Signor Pasquale sich abmühen mußte, beide, den Pyramiden-Doktor und den Pitichinaccio, zu überreden, noch einmal mit ihm zu wandern. Splendiano entschloß sich erst dazu, als es ihm gelungen, von einem Bernhardinermönch ein geweihtes Bisamsäckchen zu erhalten, dessen Geruch weder Tote noch Teufel ertragen können und mit dem er sich wappnen wollte gegen alle Anfechtungen; Pitichinaccio vermochte dem Versprechen einer Büchse mit in Zucker eingemachten Trauben nicht zu widerstehen,

außerdem mußte aber Signor Pasquale ausdrücklich nachgeben, daß er statt der Weiberkleider, die ihm, wie er sagte, den Teufel recht auf den Hals gelockt hätten, seine neue Abbatenkleidung anlegen dürfte.

Was Salvator gefürchtet, schien also wirklich eintreffen zu wollen, und doch hing, wie er versicherte, sein ganzer Plan davon ab, daß Signor Pasquale mit Marianna allein, ohne die getreuen Kumpane, im Theater des Nicolo sein müsse.

Beide, Antonio und Salvator, zerbrachen sich weidlich den Kopf, wie sie den Splendiano und den Pitichinaccio von dem Signor Pasquale abwendig machen sollten. Zur Ausführung jedes Streichs, der dies hätte bewirken können, reichte aber die Zeit nicht hin, da schon am Abende des folgenden Tages der Anschlag im Theater des Nicolo ausgeführt werden mußte. Der Himmel, der sich oft der sonderbarsten Werkzeuge bedient, um die Narren zu züchtigen, schlug sich aber zugunsten des bedrängten Liebespaars ins Mittel und regierte den Michele, daß er seiner Tölpelei Raum gab und dadurch bewirkte, was Salvators und Antonios Kunst nicht zu erringen vermochte.

In selbiger Nacht entstand in der Straße Ripetta vor dem Hause des Signor Pasquale auf einmal ein solch entsetzliches Jammergeschrei, ein solch fürchterliches Fluchen, Toben und Schimpfen, daß alle Nachbaren auffuhren aus dem Schlafe und die Sbirren, die eben einen Mörder verfolgt hatten, der sich nach dem Spanischen Platz gerettet, neue Mordtat vermutend, schnell mit ihren Fackeln herbeieilten. Als diese nun, und mit ihnen eine Menge anderer Leute, die der Lärm herbeigelockt, ankamen auf dem vermeinten Mordplatz, lag der arme kleine Pitichinaccio wie entseelt auf dem Boden, Michele aber schlug mit einem furchtbaren Knittel auf den Pyramiden-Doktor los, der in demselben Augenblick niederstürzte, als Signor Pasquale sich mühsam aufrappelte, den Stoßdegen zog und wütend auf Michele eindrang. Rundumher lagen Stücke zersplitterter Chitarren. Mehrere Leute fielen dem Alten in den Arm, sonst hätte

er den Michele unfehlbar durch und durch gerannt. Michele, der nun erst bei dem Schein der Fackeln gewahrte, wen er vor sich hatte, stand da, zur Bildsäule erstarrt, mit herausglotzenden Augen, ein gemalter Wütrich, parteilos zwischen Kraft und Willen, wie es irgendwo heißt. Dann stieß er ein entsetzliches Geheul aus, zerraufte sich die Haare, flehte um Gnade und Barmherzigkeit. — Keiner von beiden, weder der Pyramiden-Doktor noch der Kleine, waren bedeutend beschädigt, aber so zerbleut, daß sie sich nicht rücken noch regen konnten und nach Hause getragen werden mußten.

Signor Pasquale hatte sich das Unglück selbst auf den Hals geladen.

Wir wissen, daß Salvator und Antonio der Marianna die schönste Nachtmusik brachten, die man nur hören konnte; ich habe aber vergessen zu sagen, daß sie dies zum entsetzlichsten Ingrimm des Alten in jeder der folgenden Nächte wiederholten. Signor Pasquale, dessen Wut die Nachbarn in Schranken hielten, war toll genug, sich an die Obrigkeit zu wenden, die den beiden Malern das Singen in der Straße Ripetta verbieten sollte. Die Obrigkeit meinte aber, unerhört sei es in Rom, daß irgend jemanden verwehrt sein solle, zu singen und Chitarre zu spielen, wo es ihm behebe, und es sei unsinnig, so etwas zu verlangen. Da beschloß Signor Pasquale, selbst dem Dinge ein Ende zu machen, und versprach dem Michele ein gut Stück Geld, wenn er bei der ersten Gelegenheit über die Sänger herfallen und sie tüchtig abprügeln werde. Michele schaffte sich auch sofort einen tüchtigen Knittel an und lauerte jede Nacht hinter der Türe. Nun begab es sich aber, daß Salvator und Antonio es für ratsam hielten, die Nächte vor der Ausführung ihres Anschlages selbst die Nachtmusiken in der Straße Ripetta einzustellen, damit dem Alten auch kein Gedanke an seine Widersacher einkomme. Marianna äußerte ganz unschuldig, so sehr sie den Antonio, den Salvator hasse, so habe sie doch ihren Gesang gar gern gehört, da ihr Musik, die so zur Nachtzeit in den Lüften hinaufschwebe, über alles gehe.

Signor Pasquale schrieb sich das hinter die Ohren und wollte als ein Ausbund von Galanterie sein Liebchen mit einer Serenata überraschen, die er selbst komponiert und mit seinen Getreuen sorglich eingeübt hatte. Gerade in der Nacht vor dem Tage, an dem er im Theater des Nicolo Musso seinen höchsten Triumph zu feiern gedachte, schlich er sich heimlich fort und holte seine Getreuen herbei, die schon darauf vorbereitet waren. Kaum schlugen sie aber die ersten Töne auf den Chitarren an, als Michele, dem Signor Pasquale unbedachtsamerweise nichts von seinem Vorhaben gesagt, in voller Freude, endlich das ihm versprochne Stück Geld verdienen zu können, aus der Haustür herausstürzte, auf die Musiker unbarmherzig losprügelte, und sich folglich das begab, was wir wissen. Daß nun weder Signor Splendiano noch Pitichinaccio, die über und über bepflastert in den Betten lagen, den Signor Pasquale in Nicolos Theater begleiten konnten, war keine Frage. Doch vermochte Signor Pasquale nicht davonzubleiben, ohnerachtet ihm Schultern und Rücken von den erhaltenen Prügeln nicht wenig schmerzten; jeder Ton seiner Arie war ein Band, das ihn unwiderstehlich hinzog.

"Nun das Hindernis", sprach Salvator zu Antonio, "das wir für unübersteiglich hielten, sich von selbst aus dem Wege geräumt hat, kommt es nur auf Eure Geschicklichkeit an, daß Ihr nicht den günstigen Moment versäumt, Eure Marianna aus dem Theater des Nicolo zu entführen. — Doch Ihr werdet nicht fehlen, und ich begrüße Euch schon als Bräutigam der holden Nichte Capuzzis, die in wenigen Tagen Eure Gattin sein wird. Ich wünsche Euch Glück, Antonio, wiewohl es mir durch Mark und Bein fröstelt, wenn ich an Eure Heirat denke!" "Wie meint Ihr das, Salvator?" fragte Antonio voll Erstaunen.

"Nennt es Grille", erwiderte Salvator, "nennt es törichte Einbildung, oder wie Ihr sonst wollt, Antonio, genug, ich liebe die Weiber; aber jede, selbst die, in die ich bis zum

Wahnsinn vernarrt bin, für die ich sterben möchte, macht in meinem Innersten einen Argwohn rege, der mich in den unheimlichsten Schauern erbeben läßt, sobald ich an eine Verbindung mit ihr denke, wie sie die Ehe herbeiführt. Das Unerforschliche in der Natur der Weiber spottet jeder Waffe des Mannes. Die, von der wir glauben, daß sie sich uns mit ihrem ganzen Wesen hingab, daß ihr Inneres sich uns erschlossen, betrügt uns am ersten, und mit dem süßesten Kuß saugen wir das verderblichste Gift ein."

"Und meine Marianna?"rief Antonio bestürzt.

"Verzeiht, Antonio", fuhr Salvator fort, "eben Eure Marianna, die die Holdseligkeit und Anmut selbst ist, hat mir aufs neue bewiesen, wie bedrohlich uns die geheimnisvolle Natur des Weibes ist! —Bedenkt, wie das unschuldige, unerfahrne Kind sich benahm, als wir den Oheim ihr ins Haus trugen, wie sie auf einen Blick von mir alles - alles erriet und ihre Rolle, wie Ihr mir selbst sagtet, mit der größten Klugheit fortspielte. Doch nicht mag dies in Anschlag kommen gegen das, was sich bei Mussos Besuch bei dem Alten begab! — Die geübteste Gewandtheit, die undurchdringlichste Schlauheit, kurz, alle ersinnliche Kunst des weiterfahrensten Weibes vermag nicht mehr, als was die kleine Marianna tat, um den Alten mit voller Sicherheit hinters Licht zu führen. — Sie konnte gar nicht klüger handeln, um uns den Weg zu Unternehmungen jeder Art zu bahnen. Die Fehde gegen den alten wahnsinnigen Toren - jede List erscheint gerechtfertigt, aber - doch! — geliebter Antonio! — laßt Euch durch meine träumerischen Grillen nicht irren, sondern seid glücklich mit Eurer Marianna, wie Ihr's nur zu sein vermöget!"

Gesellte sich nur noch irgendein Mönch zum Signor Pasquale, als er mit seiner Nichte Marianna herauszog nach dem Theater des Nicolo Musso, alle Welt hätte glauben müssen, das seltsame Paar würde zum Richtplatz geführt. Denn vorauf ging der tapfere Michele barschen Ansehens, bis an die Zähne bewaffnet, und ihm folgten, den Signor

Pasquale und Marianna einschließend, wohl an zwanzig Sbirren.

Nicolo empfing den Alten mit seiner Dame sehr feierlich an dem Eingange des Theaters und führte sie auf die dicht vor der Bühne befindlichen Sitze, die für sie aufbewahrt waren. Signor Pasquale fühlte sich durch diese Ehrenbezeugung sehr geschmeichelt, er blickte mit stolzen leuchtenden Blicken umher, und sein Vergnügen, seine Lust stieg um vieles höher, als er gewahrte, daß neben und hinter Marianna durchaus nur Frauen Platz genommen hatten. — Hinter den Tapeten der Bühne wurden ein paar Geigen und ein Baß eingestimmt; das Herz schlug dem Alten vor Erwartung, und wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es ihm Mark und Bein, als urplötzlich das Ritornell seiner Arie begann.

Formica trat heraus als Pasquarello und sang - sang mit der Stimme, mit dem eigentümlichsten Gebärdenspiel Capuzzis die heilloseste aller Arien! — Das Theater dröhnte von dem schallenden, schmetternden Gelächter der Zuschauer. Man schrie, man raste: "Ah Pasquale Capuzzi! — compositore, virtuoso celeberrimo bravo! — bravissimo — Der Alte, das verfängliche Lachen nicht beachtend, war ganz Wonne und Entzücken. Die Arie war beendigt, man rief zur Ruhe; denn Doktor Graziano, diesmal von Nicolo Musso selbst dargestellt, trat auf, sich die Ohren zuhaltend, schreiend, daß Pasquarello endlich einhalten sollte mit seinem tollen Gekrächze.

Der Doktor fragte nun den Pasquarello, seit wann er sich das verfluchte Singen angewöhnt und wo er die abscheuliche Arie herhabe.

Darauf Pasquarello: er wisse nicht, was der Doktor wolle, es ginge ihm so wie den Römern, die keinen Geschmack für wahrhafte Musik hätten und die größten Talente unbeachtet ließen. Die Arie sei von dem größten jetzt lebenden Komponisten und Virtuosen gesetzt, bei dem er das Glück habe in Diensten zu stehen und der ihn selbst in der Musik, im Gesang unterrichte!

Nun riet Graziano hin und her, nannte eine Menge bekannter Komponisten und Virtuosen; aber bei jedem berühmten Namen schüttelte Pasquarello verächtlich den Kopf.

Endlich Pasquarello: der Doktor zeige seine grobe Unwissenheit, da er nicht einmal den größten Komponisten der Zeit kenne. Das sei kein andrer als der Signor Pasquale Capuzzi, der ihm die Ehre erwiesen, ihn in seine Dienste zu nehmen. Ob er es nicht einsehe, daß Pasquarello Freund und Diener des Signor Pasquale sein müsse.

Da brach der Doktor Graziano in ein ungemessenes Gelächter aus und rief: was? nachdem Pasquarello ihm, dem Doktor, aus dem Dienste gelaufen, wo ihm außer Lohn und Nahrung doch noch mancher Quattrino ins Maul geflogen, sei er hingegangen zu dem allergrößten, ausgemachtesten alten Gecken, der jemals sich mit Makkaroni gestopft, zu dem buntscheckigen Fastnachtsnarren, der einherstolziere wie ein satter Haushahn nach dem Regenwetter, zu dem knurrigen Geizhals, zu dem alten verliebten Hasenfuß, der mit dem widerlichen Bocksgeschrei, das er Singen nenne, die Luft in der Straße Ripetta verpeste und so weiter.

Darauf Pasquarello, ganz erzürnt: nur der Neid spreche aus dem Doktor, er rede mit dem Herzen in der Hand (parla col cuore in mano), der Doktor sei gar nicht der Mann, der den Signor Pasquale Capuzzi di Senigaglia zu beurteilen imstande sei - er rede mit dem Herzen in der Hand - der Doktor selbst habe einen starken Beischmack von dem allen, was er an dem vortrefflichen Signor Pasquale tadle - er rede mit dem Herzen in der Hand - er habe es selbst oft genug erfahren, daß über den Herrn Doktor Graziano an sechshundert Personen auf einmal aus voller Kehle gelacht und so weiter. Nun hielt Pasquarello eine lange Lobrede auf seinen neuen Herrn, den Signor Pasquale, in der er ihm alle nur mögliche Tugenden beilegte und mit der Beschreibung seiner Person schloß, die er als die Liebenswürdigkeit und Anmut selbst herausstrich.

"Gesegneter Formica", lispelte Signor Capuzzi vor sich hin, "gesegneter Formica, ich merke, du hast es darauf abgesehen, meinen Triumph vollständig zu machen, da du den Römern allen Neid und Undank, mit dem sie mich verfolgen, gehörig in die Nase reibst und ihnen sagst, wer ich bin!"

"Da kommt mein Herr selbst", rief in dem Augenblick Pasquarello, und es trat herein - Signor Pasquale Capuzzi, wie er leibte und lebte, in Kleidung, Gesicht, Gebärde, Gang, Stellung dem Signor Capuzzi unten so völlig gleich, daß dieser, ganz erschrocken, Marianna, die er so lange mit der einen Hand festgehalten, losließ und sich selbst, Nase und Perücke betastete, um zu erspüren, ob er nicht im Traum liege und sich doppelt sehe, ob er wirklich im Theater des Nicolo Musso sitze und dem Wunder trauen dürfe.

Capuzzi auf dem Theater umarmte den Doktor Graziano mit vieler Freundlichkeit und fragte, wie es ihm ginge. Der Doktor erwiderte, sein Appetit sei gut, sein Schlaf ruhig, ihm zu dienen (per servirlo), was aber seinen Beutel betreffe, der leide an einer gänzlichen Auszehrung. Gestern hab er, seiner Liebe zu Ehren, den letzten Dukaten für ein Paar rosmarinfarbne Strümpfe ausgegeben, und eben wolle er zu dem und dem Bankier wandern, um zu sehen, ob er dreißig Dukaten geborgt erhalten könne!

"Wie könnt Ihr", sprach nun Capuzzi, "bei Eurem besten Freunde vorbeigehen! —Hier, mein bester Signor, sind funfzig Dukaten, nehmt sie hin!"

"Pasquale, was tust du!" rief der Capuzzi unten halblaut.

Der Doktor Graziano sprach nun von Schuldschein, von Zinsen; Signor Capuzzi erklärte aber, daß er beides nicht verlange von einem Freunde, wie der Doktor sei.

"Pasquale, bist du von Sinnen?" rief der Capuzzi unten noch lauter.

Doktor Graziano schied nach vielen dankbaren Umarmungen. Nun nahte sich Pasquarello, machte viele Bücklinge, erhob den Signor Capuzzi bis in den Himmel, meinte, daß sein Beute! an ebenderselben Krankheit leide wie der

Beute! Grazianos, bat auch, ihm doch mit der vortrefflichen Arznei aufzuhelfen! —Capuzzi auf dem Theater lachte, freute sich, daß Pasquarello seine gute Laune zu nutzen verstehe, und warf ihm einige blanke Dukaten hin!

"Pasquale, du bist rasend - vom Teufel besessen", rief der Capuzzi unten überlaut. Man gebot ihm Stillschweigen.

Pasquarello stieg noch höher in Capuzzis Lob und kam zuletzt auf die Arie, die er, Capuzzi, komponiert habe und womit er, Pasquarello, alle Welt zu bezaubern hoffe. Capuzzi auf dem Theater klopfte dem Pasquarello treuherzig auf die Schulter und sprach: ihm, als seinem treuen Diener, könne er es wohl vertrauen, daß er von der Kunst der Musik eigentlich gar nichts verstehe und die Arie, von der er spreche, sowie alle Arien, die er jemals komponiert, aus Frescobaldis Kanzonen und Carissimis Motetten gestohlen habe.

"Das lügst du in deinen eignen Hals hinein, du Halunke!" schrie der Capuzzi unten, indem er sich von seinem Sitze erhob. Man gebot ihm aufs neue Stillschweigen, und die Frau, welche neben ihm saß, zog ihn auf die Bank nieder.

Es sei nun Zeit, fuhr der Capuzzi auf dem Theater fort, an andere, wichtigere Dinge zu denken. Er wolle morgen einen großen Schmaus geben, und Pasquarello müsse sich frisch daranhalten, alles Nötige herbeizuschaffen. Nun holte er ein Verzeichnis der köstlichsten, teuersten Speisen hervor, welches er ablas; bei jeder Speise mußte Pasquarello anmerken, wieviel sie kosten würde, und erhielt auf der Stelle das Geld.

"Pasquale! — Unsinniger! — Rasender! — Taugenichts! — Verschwender!" — so rief der Capuzzi unten dazwischen und wurde immer zorniger und zorniger, je höher die Summe der Kosten stieg für das unsinnigste aller Mittagsmahle.

Pasquarello fragte, als endlich das Verzeichnis geschlossen, wodurch denn Signor Pasquale bewogen würde, solch ein glänzendes Fest zu geben.

"Es ist", sprach der Capuzzi auf dem Theater, "morgen

der glücklichste, freudenvollste Tag meines Lebens. Wisse, mein guter Pasquarello, daß ich morgen den segensreichen Hochzeitstag meiner lieben Nichte Marianna feiere. Ich gebe ihre Hand dem braven jungen Menschen, dem vortrefflichsten aller Künstler, dem Antonio Scacciati!"

Kaum hatte der Capuzzi oben das Wort ausgesprochen, als der Capuzzi unten, ganz außer sich, ganz von Sinnen, alle Wut der Hölle im feuerroten Antlitz, aufsprang, beide Fäuste gegen sein Ebenbild ballte und mit gellender Stimme aufkreischte: "Das tust du nicht, das tust du nicht, du schurkischer halunkischer Pasquale! — Willst du dich um deine Marianna betrügen, du Hund? —willst du sie dem verdammten Schuft an den Hals werfen - die süße Marianna, dein Leben - dein Hoffen - dein alles? — Ha, sieh zu - sieh zu - betörter Narr! sieh zu, wie du bei dir ankommst! — Deine Fäuste sollen dich zerbleuen, daß du schon Mittagsmahl und Hochzeit vergessen wirst!"

Aber Capuzzi oben ballte ebenso wie der Capuzzi unten die Fäuste und schrie ebenso in voller Wut, mit derselben gehenden Stimme: "Alle Teufel dir in den Leib, du verfluchter, unsinniger Pasquale, du verruchter Geizhals - alter verliebter Geck - bunt geputzter Esel mit der Schellenkappe um die Ohren - sieh dich vor, daß ich dir nicht das Lebenslicht ausblase, damit deine niederträchtigen Streiche, die du dem ehrlichen, guten, frommen Pasquale Capuzzi auf den Hals schieben willst, endlich einmal aufhören."

Unter den gräßlichsten Flüchen und Verwünschungen des Capuzzi unten erzählte nun der Capuzzi oben ein sauberes Stückchen von ihm nach dem andern.

"Versuche es einmal", schrie endlich der Capuzzi oben, "versuche es einmal, Pasquale, du alter verliebter Affe, das Glück dieser beiden Leute, die der Himmel selbst füreinander bestimmt, zu stören!"

In dem Augenblicke erschienen im Hintergrunde des Theaters Antonio Scacciati und Marianna, sich mit den Armen umschlingend. So schwächlich der Alte sonst auf den Beinen

war, die Wut gab ihm Behendigkeit und Kraft. Mit einem Satze war er auf der Bühne, riß den Stoßdegen aus der Scheide und rannte auf den vermeintlichen Antonio los. Er fühlte sich indessen von hinten festgehalten. Ein Offizier von der päpstlichen Garde hatte ihn erfaßt und sprach mit ernstem Ton: "Besinnt Euch, Signor Pasquale, Ihr seid auf dem Theater des Nicolo Musso! — Ohne es zu wollen, habt Ihr heute eine gar ergötzliche Rolle gespielt! — Weder Antonio noch Marianna werdet Ihr hier finden." — Die beiden Personen, die Capuzzi dafür gehalten, waren mit den übrigen Schauspielern näher getreten. Capuzzi schaute in lauter unbekannte Gesichter! —Der Degen fiel ihm aus der zitternden Hand, er holte tief Atem, wie aus einem schweren Traum erwachend, er faßte sich an die Stirne - riß die Augen weit auf. Die Ahnung dessen, was geschehen, ergriff ihn; er schrie mit fürchterlicher Stimme, daß die Wände dröhnten: "Marianna!"

Bis zu ihr konnte aber sein Ruf nicht mehr dringen. Antonio hatte nämlich den Zeitpunkt, als Pasquale, alles um sich her, sich selbst vergessend, mit seinem Doppelgänger zankte, sehr gut wahrgenommen, sich an Marianna hinan-, durch die Zuschauer fort- und zu einer Seitentüre hinauszuschlelchen, wo der Vetturino mit dem Wagen bereitstand. Fort ging es im schnellsten Lauf, fort nach Florenz.

"Marianna!" schrie der Alte nochmals, "Marianna! — Sie ist fort - sie ist entflohen - der Spitzbube Antonio hat sie mir gestohlen! —Auf -ihr nach! —Habt die Barmherzigkeit - Leute, nehmt Fackeln, sucht mir mein Täubchen - ha, die Schlange!"

Damit wollte der Alte fort. Der Offizier hielt ihn aber fest, indem er sprach: "Meint Ihr das junge holde Mädchen, das neben Euch saß, so ist es mir, als hätte ich sie längst, und zwar als Ihr den unnützen Zank mit dem Schauspieler, der eine Euch ähnliche Maske trug, anfinget, mit einem jungen Menschen, mich dünkt, es war Antonio Scacciati, herausschlüpfen gesehen. Sorgt nicht dafür; es sollen sogleich

alle nur mögliche Nachforschungen angestellt, und Marianna soll Euch zurückgeliefert werden, sowie man sie findet. Was aber jetzt Euch selbst betrifft, Signor Pasquale, so muß ich Euch, Eures Betragens, Eures mordgierigen Anschlags auf das Leben jenes Schauspielers halber, verhaften!"

Signor Pasquale, den bleichen Tod im Antlitz, keines Wortes, keines Lautes mächtig, wurde von denselben Sbirren abgeführt, die ihn schützen sollten wider verkappte Teufel und Gespenster, und so kam in derselben Nacht, in der er seinen Triumph zu feiern hoffte, tiefe Betrübnis über ihn und alle wahnsinnige Verzweiflung alter, verliebter, betrogner Toren.



Salvator Rosa verläßt Rom und begibt sich nach Florenz. Beschluß der Geschichte


Alles hienieden unter der Sonne ist stetem Wechsel unterworfen; doch nichts mag wankelmütiger genannt werden als die Gesinnung der Menschen, die sich in ewigem Kreise fortdreht wie das Rad der Glücksgöttin. Bittrer Tadel trifft morgen den, der heute großes Lob einerntete, mit Füßen tritt man heute den, der morgen hoch erhoben wird!

Wer war in Rom, der nicht den alten Pasquale Capuzzi, mit seinem schmutzigen Geiz, mit seiner närrischen Verliebtheit, mit seiner wahnsinnigen Eifersucht, verspottete und verhöhnte, der nicht der armen, gequälten Marianna die Freiheit wünschte. Und nun Antonio die Geliebte glücklich entführt hatte, wandte sich aller Hohn, aller Spott plötzlich um in Mitleid für den alten Toren, den man mit zur Erde gesenktem Haupte ganz trostlos durch die Straßen von Rom schleichen sah. Ein Unglück kommt selten allein: so begab es sich denn auch, daß Signor Pasquale bald darauf, als ihm Marianna entführt worden, seine besten Busenfreunde verlor. Der kleine Pitichinaccio erstickte nämlich an einem Mandelkern, den er unvorsichtigerweise verschlucken wollte, als er eben in einer Kadenz begriffen; dem Leben des berühmten

Pyramiden-Doktors Signor Splendiano Accoramboni setzte aber das plötzliche Ziel ein Schreibfehler, dessen er sich selbst schuldig machte. Micheles Prügel waren ihm so schlecht bekommen, daß er in ein Fieber verfiel. Er beschloß, sich selbst durch ein Mittel zu heilen, das er erfunden zu haben glaubte, verlangte Feder und Tinte und schrieb ein Rezept auf, in welchem er durch ein unrichtiges Zeichen die Dosis einer stark wirkenden Substanz auf unbillige Weise erhöhte. Kaum hatte er indessen die Arzenei verschluckt, als er in die Bettkissen zurücksank und dahinschied, so aber die Wirkung der letzten Tinktur, die er verordnete, durch den eignen Tod auf würdige, herrliche Weise bewährte.

Wie gesagt, nun waren alle, die sonst am ärgsten gelacht und tausendmal dem wackern Antonio das Gelingen seines Anschlags gewünscht hatten, ganz Mitleid für den Alten, und nicht sowohl den Antonio als den Salvator Rosa, den sie freilich mit Recht für den Anstifter des ganzen Streichs hielten, traf der bitterste Tadel.

Salvators Feinde, deren es eine gute Anzahl gab, unterließen nicht, das Feuer zu schüren, wie sie nur konnten. "Seht", sprachen sie, "das ist Mas'Aniellos saubrer Spießgeselle, der zu allen schlechten Streichen, zu allen räuberischen Unternehmungen willig die Hand bietet, dessen bedrohlichen Aufenthalt in Rom wir nächstens schwer fühlen werden!"

In der Tat gelang es der neidischen Rotte, die sich wider Salvator verschworen, den kecken Flug, den sonst sein Ruhm genommen, zu hemmen. Ein Gemälde nach dem andern, kühn erfunden, herrlich ausgeführt, ging aus seiner Werkstatt hervor; aber immer zuckten die sogenannten Kenner die Achseln, fanden bald die Berge zu blau, die Bäume zu grün, die Figuren bald zu lang, bald zu breit, tadelten alles, was nicht zu tadeln war, und suchten Salvators wohlerworbnes Verdienst auf jede Weise zu schmälern. Vorzüglich verfolgten ihn die Akademiker von San Luca, die ihm den Wundarzt nicht vergessen konnten, und gingen weiter,

als es ihres Berufs schien, da sie selbst die artigen Verse, die Salvator damals aufschrieb, herabsetzten, ja sogar zu verstehen gaben, daß Salvator die Früchte nicht auf eignern Boden pflücke, sondern fremdes Gebiet plündere. Daher kam es denn auch, daß es Salvator durchaus nicht gelingen wollte, sich mit dem Glanz zu umgeben, wie es wohl ehemals in Rom geschehen. Statt der großen Werkstatt, in der ihn sonst die vornehmsten Römer aufsuchten, blieb er bei der Frau Caterina, bei seinem grünen Feigenbaum, und gerade in dieser Beschränktheit mochte er manchmal Trost finden und Beruhigung.

Mehr als billig ging dem Salvator das hämische Betragen seiner Feinde zu Herzen, ja, er fühlte, wie eine schleichende Krankheit, von Ärger und Mißmut erzeugt, an seinem besten Lebensmark zehrte. In dieser bösen Stimmung entwarf und führte er zwei große Gemälde aus, die ganz Rom in Aufruhr setzten. Das eine dieser Gemälde stellte die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge dar, und man erkannte in der Hauptfigur, einer leichtsinnigen Weibsperson, die alle Zeichen des niederträchtigen Gewerbes an sich trug, die Geliebte eines Kardinals. Auf dem andern Gemälde war die Glücksgöttin abgebildet, die ihre reichen Gaben verspendet. Doch Kardinalshüte, Bischofsmützen, goldne Münzen, Ehrenzeichen fielen herab auf blökende Schafe, schreiende Esel und andere verachtete Tiere, während schön gestaltete Menschen in zerrissenen Kleidern vergebens hinaufblickten nach der geringsten Gabe. Salvator hatte ganz Raum gegeben seiner verbitterten Laune, und jene Tierköpfe trugen die ähnlichsten Züge dieser, jener vornehmen Person. Man kann denken, wie der Haß gegen ihn stieg, wie er ärger verfolgt wurde als jemals.

Frau Caterina warnte ihn mit Tränen in den Augen. Sie hatte es wohl bemerkt, daß, sobald es Nacht geworden, verdächtiges Gesindel um das Haus schlich, das jeden Schritt Salvators zu belauschen schien. Salvator sah ein, daß es Zeit sei, Rom zu verlassen, und Frau Caterina mit ihren herzlieben

Töchtern waren die einzigen Personen, von denen er sich mit Schmerz trennte. Er begab sich, eingedenk der wiederholten Aufforderung des Herzogs von Toskana, nach Florenz. Hier war es nun, wo dem gekränkten Salvator aller Verdruß, der ihm in Rom zugefügt worden war, reichlich vergütigt, wo ihm alle Ehre, aller Ruhm, seinem Verdienst gemäß, in reichlichem Maß gespendet wurde. Die Geschenke des Herzogs, die hohen Preise, die er für seine Gemälde erhielt, setzten ihn bald in den Stand, ein großes Haus zu beziehen und auf das prächtigste einzurichten. Da versammelten sich um ihn her die berühmtesten Dichter und Gelehrten der Zeit; es ist genug, den Evangelista Toricelli, den Valerio Chimentelli, den Battista Ricciardi, den Andrea Cavalcanti, den Pietro Salvati, den Filippo Apolloni, den Volumnio Bandelli, den Francesco Rovai zu nennen, die sich darunter befanden. Man trieb Kunst und Wissenschaft, im schönen Bunde vereinigt, und Salvator Rosa wußte den Zusammenkünften ein phantastisches Ansehen zu geben, das den Geist auf eigene Weise belebte und anfeuerte. So glich der Speisesaal einem schönen Lusthain mit duftenden Büschen und Blumen und plätschernden Springbrunnen, und selbst die Speisen, die von seltsam gekleideten Pagen aufgetragen wurden, sahen wunderbar aus, als kämen sie aus einem fernen Zauberlande. Diese Versammlungen der Dichter und Gelehrten in Salvator Rosas Hause nannte man damals die "Academia de' Percossi".

Wandte nun auf diese Weise Salvator seinen Geist ganz zu der Kunst und Wissenschaft, so lebte sein innigstes Gemüt auf bei seinem Freunde Antonio Scacciati, der mit der holden Marianna ein anmutiges, sorgenfreies Künstierleben führte. Sie gedachten des alten betrogenen Signor Pasquale, und wie sich alles im Theater des Nicolo Musso begeben. Antonio fragte den Salvator, wie er es denn angestellt, den Musso nicht allein, sondern auch den vortrefflichen Formica, den Agli für seine, des Antonios, Sache zu beleben; Salvator meinte indessen, das sei ein leichtes gewesen, da eben

Formica sein innigst verbundner Freund in Rom gewesen, so daß er alles mit Lust und Liebe auf dem Theater ausgeführt, was er, Salvator, ihm angegeben. Antonio versicherte dagegen, daß, sosehr er noch über jenen Auftritt lachen müsse, der sein Glück herbeigeführt, er doch von Herzen wünsche, den Alten zu versöhnen, wenn er übrigens auch nicht einen Quattrino von Mariannas Vermögen, das der Alte in Beschlag genommen, heraushaben wolle, da seine Kunst ihm Geld genug einbringe. Auch Marianna könne sich oft nicht der Tränen enthalten, wenn sie daran denke, daß der Bruder ihres Vaters ihr im Grabe den Streich nicht verzeihen werde, der ihm gespielt worden, und so werfe Pasquales Haß einen trüben Wolkenschatten in sein helles Leben. Salvator tröstete beide, Antonio und Marianna, damit, daß die Zeit noch viel ärgere Dinge ausgleichen und daß der Zufall vielleicht auf weniger gefährliche Weise den Alten in ihre Nähe bringen werde, als es geschehen, wenn sie in Rom geblieben oder jetzt nach Rom zurückkehren wollten.

Wir werden sehen, daß in dem Salvator ein weissagender Geist wohnte.

Mehrere Zeit war vergangen, als eines Tages Antonio atemlos, bleich wie der Tod in Salvators Werkstatt hereinstürzte. "Salvator", rief er, "Salvator, mein Freund! — mein Beschützer! — ich bin verloren, wenn Ihr nicht helft! Pasquale Capuzzi ist hier; er hat gegen mich, als den Entführer seiner Nichte, einen Verhaftsbefehl ausgewirkt!"

"Aber", sprach Salvator, "was kann Signor Pasquale jetzt gegen Euch ausrichten? — Seid Ihr denn nicht durch die Kirche mit Eurer Marianna verbunden?"

"Ach", erwiderte Antonio, ganz in Verzweiflung, "selbst der Segen der Kirche schützt mich nicht vor dem Verderben! — Weiß der Himmel, welchen Weg der Alte gefunden hat, sich dem Nepoten des Papstes zu nähern. Genug, der Nepote ist's, der den Alten in seinen Schutz genommen, der ihm Hoffnung gemacht hat, daß der Heilige Vater das

Bündnis mit Marianna für nichtig erklären, noch mehr, daß er ihm, dem Alten, Dispensation geben werde, seine Nichte zu heiraten

"Halt", rief Salvator, "nun verstehe ich alles! — Es ist der Haß des Nepoten gegen mich, der Euch, Antonio, zu verderben droht! —Wißt, daß der Nepote, dieser stolze, rohe, bäurische Tölpel sich unter jenen Tieren auf meinem Gemälde befand, die die Glücksgöttin mit ihren Gaben überschüttet! — Daß ich es war, der Euch zu Eurer Marianna, wenn auch mittelbar, verhalf, das weiß nicht allein der Nepote, das weiß jedermann in Rom; Grund genug, Euch zu verfolgen, da sie mir selbst eben nichts anhaben können! — Liebte ich Euch auch nicht als meinen besten innigsten Freund, Antonio! doch müßte ich schon darum, weil ich den Unstern auf Euch herabgezogen, alle meine Kräfte aufbieten, Euch beizustehen! — Aber bei allen Heiligen, ich weiß nicht, auf welche Weise ich Euern Gegnern das Spiel verderben soll!"

Damit legte Salvator, der so lange, ohne sich zu unterbrechen, an einem Gemälde gearbeitet, Pinsel, Palette, Malstock weg, stand auf von der Staffelei und ging, die Arme übereinandergeschlagen, im Zimmer einigemal auf und ab, während Antonio, ganz in sich versunken, starren Blicks den Boden betrachtete.

Endlich blieb Salvator vor Antonio stehen und rief lächelnd: "Hört, Antonio, ich kann nichts ausrichten gegen Eure mächtige Feinde, aber einer ist noch, der Euch helfen kann und helfen wird, und das ist -Signor Formica!"

"Ach", sprach Antonio, "scherzt nicht mit einem Unglücklichen, für den es keine Rettung mehr gibt!"

"Wollt Ihr schon wieder verzweifeln?" rief Salvator, indem er, auf einmal in die heiterste Laune versetzt, laut auflachte; "ich sage Euch, Antonio! — Freund Formica wird helfen in Florenz, wie er in Rom geholfen! — Geht fein nach Hause, tröstet Eure Marianna und erwartet ruhig, wie sich alles fügen wird. Ich hoffe, Ihr seid auf jeden Wink

bereit, das zu tun, was Signor Formica, der sich in der Tat eben hier befindet, von Euch verlangen wird!" Antonio versprach das mit vollem Herzen, indem aufs neue die Hoffnung in ihm aufdämmerte und das Vertrauen.

Signor Pasquale Capuzzi geriet nicht in geringes Erstaunen, als er eine feierliche Einladung von der Academia de' Percossi erhielt. "Ha", rief er aus, "hier in Florenz ist es also, wo man Verdienste zu schätzen weiß, wo man den mit den vortreiflichsten Gaben ausgestatteten Pasquale Capuzzi di Senigaglia kennt und würdigt!" — So überwand der Gedanke an seine Wissenschaft, an seine Kunst, an die Ehre, die ihm deshalb erzeigt wurde, den Widerwillen, den er sonst gegen eine Versammlung hegen mußte, an deren Spitze Salvator Rosa stand. Das spanische Ehrenkleid wurde sorglicher ausgebürstet als jemals, der spitze Hut mit einer neuen Feder geschmückt, die Schuhe wurden mit neuen Bandschleifen versehen, und so erschien Signor Pasquale, glänzend wie ein Goldkäfer, vollen Sonnenschein im Antlitz, in Salvators Hause. Die Pracht, von der er sich umgeben sah, selbst Salvator, der ihn, in reichem Kleidern angetan, empfing, flößte ihm Ehrfurcht ein, und wie es bei kleinen Seelen zu geschehen pflegt, die, erst stolz und aufgeblasen, sich gleich im Staube winden, sobald sie irgendeine Übermacht fühlen, Pasquale war ganz Demut und Ergebung gegen denselben Salvator, dem er in Rom kecklich zu Leibe gehen wollen.

Man erwies von allen Seiten dem Signor Pasquale so viel Aufmerksamkeit, man berief sich so unbedingt auf sein Urteil, man sprach so viel von seinen Verdiensten um die Kunst, daß er sich wie neu belebt fühlte, ja daß ein besonderer Geist in ihm wach wurde und er über manches viel gescheiter sprach, als man es hätte denken sollen. Kam noch hinzu, daß er in seinem Leben nicht herrlicher bewirtet worden, daß er niemals begeisterndern Wein getrunken, so konnte es nicht fehlen, daß seine Lust höher und höher stieg und er alle Unbill vergaß, die ihm in Rom widerfahren,

und die böse Angelegenheit, weshalb er sich in Florenz befand. Die Akademiker pflegten oft nach der Mahlzeit zu ihrer Lust kleine theatralische Darstellungen aus dem Stegreife zu geben, und so forderte denn auch heute der berühmte Schauspieldichter Filippo Apolloni diejenigen, die gewöhnlich daran teilnahmen, auf, das Fest mit einer solchen Darstellung zu beschließen. Salvator entfernte sich sogleich, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen.

Nicht lange dauerte es, so regten sich am Ende des Speisesaals die Büsche, schlugen die belaubten Zweige auseinander, und ein kleines Theater mit einigen Sitzen für die Zuschauer wurde sichtbar.

"Alle Heiligen", rief Pasquale Capuzzi erschrocken, "wo bin ich! —das ist das Theater des Nicolo Musso!"

Ohne auf seinen Ausruf zu achten, faßten ihn Evangelista Toricelli und Andrea Cavalcanti, beides ernste Männer von würdigem, ehrfurchtgebietendem Ansehen, bei den Armen, führten ihn zu einem Sitz dicht vor dem Theater und nahmen von beiden Seiten neben ihm Platz.

Kaum war dies geschehen, so erschien - Formica auf dem Theater als Pasquarello!

"Verruchter Formica!" schrie Pasquale, indem er aufsprang und mit geballter Faust nach dem Theater hindrohte. Toricellis und Cavalcantis ernste, strafende Blicke geboten ihm Ruhe und Stillschweigen.

Pasquarello schluchzte, weinte, fluchte auf das Schicksal, das ihm lauter Jammer und Herzeleid bereitet, versicherte, er wisse gar nicht mehr, wie er es anstellen solle, um zu lachen, und schloß damit, daß er sich in heller Verzweiflung ganz gewiß den Hals abschneiden, wenn er, ohne ohnmächtig zu werden, Blut sehen, oder in die Tiber stürzen würde, wenn er nur im Wasser das verfluchte Schwimmen lassen könne.

Nun trat Doktor Graziano ein und fragte den Pasquarello nach der Ursache seiner Betrübnis.

Darauf Pasquarello: ob er nicht wisse, was sich alles im

Hause seines Herrn, des Signor Pasquale Capuzzi di Senigaglia, begeben, ob er nicht wisse, daß ein verruchter Bösewicht die holde Marianna, seines Herrn Nichte, entführt.

"Ha", murmelte Capuzzi, "ich merk es, Signor Formica, Ihr wollt Euch bei mir entschuldigen, Ihr wollt meine Verzeihung! —Nun, wir wollen sehen!"

Doktor Graziano gab seine Teilnahme zu erkennen und meinte, der Bösewicht müsse es sehr schlau angefangen haben, um allen Nachforschungen Capuzzis zu entgehen.

Hoho, erwiderte Pasquarello, das möge der Doktor sich nicht einbilden, daß es dem Bösewicht Antonio Scacciati gelungen, dem schlauen, von mächtigen Freunden unterstützten Signor Pasquale Capuzzi zu entkommen; Antonio sei verhaftet, seine Ehe mit der entführten Marianna für nichtig erklärt worden und Marianna wieder in Capuzzis Gewalt gekommen!

"Hat er sie wieder?" schrie Capuzzi außer sich, "hat er sie wieder, der gute Pasquale? hat er sein Täubchen wieder, seine Marianna? — Ist der Schurke Antonio verhaftet? — O gesegneter Formica!"

"Ihr nehmt", sprach Cavalcanti sehr ernst, "Ihr nehmt zu lebhaften Anteil an dem Schauspiel, Signor Pasquale! — Laßt doch die Schauspieler reden, ohne sie auf störende Weise zu unterbrechen!"

Signor Pasquale ließ sich beschämt auf den Sitz nieder, von dem er sich erhoben. Doktor Graziano fragte, was es denn weiter gegeben. Hochzeit, fuhr Pasquarello fort, Hochzeit habe es gegeben. Marianna habe bereut, was sie getan, Signor Pasquale die gewünschte Dispensation von dem Heiligen Vater erhalten und seine Nichte geheiratet!

"Ja, ja", murmelte Pasquale Capuzzi vor sich hin, indem ihm die Augen glänzten vor Entzücken, "ja, ja, mein geliebtester Formica, er heiratet die süße Marianna, der glückliche Pasquale! — Er wußte ja, daß das Täubchen ihn liebte immerdar, daß nur der Satan sie verführte."

So sei, sprach Doktor Graziano, ja alles in Ordnung und kein Grund zur Betrübnis vorhanden.

Da begann aber Pasquarello viel ärger zu schluchzen und zu weinen als vorher und fiel endlich, wie übermannt von dem entsetzlichen Schmerz, in Ohnmacht.

Doktor Graziano lief ängstlich umher, bedauerte, kein Riechfläschchen bei sich zu tragen, suchte in allen Taschen, brachte endlich eine gebratene Kastanie hervor und hielt sie dem ohnmächtigen Pasquarello unter die Nase. Dieser erholte sich sofort unter starkem Niesen, bat ihn, dies seinen schwachen Nerven zugute zu halten, und erzählte, wie Marianna gleich nach der Hochzeit in die tiefste Schwermut gefallen, beständig den Namen Antonio genannt und dem Alten mit Abscheu und Verachtung begegnet. Der Alte, von Verliebtheit und Eifersucht ganz verblendet, habe aber nicht nachgelassen, sie mit seiner Tollheit auf die entsetzlichste Weise zu quälen. Nun führte Pasquarello eine Menge wahnsinniger Streiche an, die Pasquale begangen und die man sich in Rom wirklich von ihm erzählte. Signor Capuzzi rückte unruhig auf seinem Sitze hin und her, murmelte dazwischen: "Verfluchter Formica - du lügst - welcher Satan regiert dich!" — Nur Toricelli und Cavalcanti, die den Alten mit ernsten Blicken bewachten, hielten den wilden Ausbruch seines Zorns zurück.

Pasquarello schloß damit, daß die unglückliche Marianna endlich der ungestillten Liebessehnsucht, dem tiefen Gram und den tausendfältigen Qualen, die ihr der fluchwürdige Alte bereitet, erlegen und in der Blüte ihrer Jahre gestorben sei.

In dem Augenblicke vernahm man ein schauerliches "De profundis", von dumpfen heiseren Kehlen angestimmt, und Männer in langen schwarzen Talaren erschienen auf der Bühne, die einen offnen Sarg trugen. In demselben erblickte man die Leiche der holden Marianna, in weiße Totengewänder gehüllt. Signor Pasquale Capuzzi in der tiefsten Trauer wankte hinterher, laut heulend, sich die Brust zer

schlagend, in Verzweiflung rufend: "0 Marianna, Marianna!"

Sowie der Capuzzi unten die Leiche seiner Nichte erblickte, brach er in ein lautes Jammern aus, und beide Capuzzis, der auf dem Theater und der unten, heulten und schrien im herzzerschneidendsten Ton: "0 Marianna - o Marianna! —0 ich Unglückseliger! —Wehe mir! Wehe mir!"

Man denke sich den offnen Sarg mit der Leiche des holden Kindes, von den Trauermännern umgeben, ihr schauerliches krächzendes "Dc profundis", dabei die närrischen Masken, den Pasquarello und den Doktor Graziano, die ihren Schmerz durch das lächerlichste Gebärdenspiel ausdrücken, und nun die beiden Capuzzis, in Verzweiflung heulend und schreiend! — In der Tat, alle, die das seltsamste Schauspiel ansahen, mußten selbst in dem tollsten Gelächter, in das sie über den wunderlichen Alten ausgebrochen, sich von tiefen, unheimlichen Schauern durchbebt fühlen.

Nun verfinsterte sich plötzlich das Theater mit Blitz und Donnerschlag, und aus der Tiefe stieg eine bleiche, gespenstische Gestalt hervor, welche die deutlichsten Züge von Capuzzis in Senigaglia verstorbenem Bruder, Pietro, dem Vater der Marianna, trug.

"Verruchter Pasquale", heulte die Gestalt in hohlem, gräßlichen Tone, "wo hast du meine Tochter, wo hast du meine Tochter? — Verzweifle, verdammter Mörder meines Kindes! —Inder Hölle findest du deinen Lohn!"

Der Capuzzi oben sank, wie vom Blitze getroffen, nieder, aber in demselben Augenblicke stürzte auch der Capuzzi unten bewußtlos von seinem Sitze herab. Das Gebüsch rauschte ineinander, und verschwunden war die Bühne und Marianna und Capuzzi und das gräßliche Gespenst Pietros. Signor Pasquale Capuzzi lag in solch schwerer Ohnmacht, daß es Mühe kostete, ihn wieder zu sich selbst zu bringen.

Endlich erwachte er mit einem tiefen Seufzer, streckte beide Hände vor sich hin, als wolle er das Entsetzen von sich abwehren, das ihn erfaßt, und rief mit dumpfer Stimme:

"Laß ab von mir, Pietro!" — Dann stürzte ein Tränenstrom aus seinen Augen, und er weinte und schluchzte: "Ach, Marianna -mein holdes liebes Kind! —meine Marianna!"

"Besinnt Euch", sprach nun Cavalcanti, "besinnt Euch, Signor Pasquale, nur auf dem Theater habt Ihr ja Eure Nichte tot gesehen. Sie lebt, sie ist hier, um Verzeihung zu erflehen wegen des unbesonnenen Streichs, zu der sie Liebe und auch wohl Euer unüberlegtes Betragen trieb."

Nun stürzte Marianna und hinter ihr Antonio Scacciati hervor aus dem Hintergrunde des Saals dem Alten, den man in einen Polsterstuhl gesetzt, zu Füßen. Marianna, in hohem Liebreiz prangend, küßte seine Hände, benetzte sie mit heißen Tränen und flehte, ihr und ihrem Antonio, mit dem sie durch den Segen der Kirche verbunden, zu verzeihen.

In des Alten todbleichem Gesicht schlugen plötzlich Feuerflammen auf, Wut blitzte aus seinen Augen, er rief mit halberstickter Stimme: "Ha, Verruchter! —giftige Schlange, die ich im Busen nährte zu meinem Verderben!" — Da trat aber der alte ernste Toricelli in voller Würde vor Capuzzi hin und sprach, er, Capuzzi, habe im Bilde das Schicksal gesehen, das ihn unbedingt, rettungslos erfassen würde, wenn er es wage, seinen heillosen Anschlag gegen Mariannas und Antonios Ruhe und Glück auszuführen. Er schilderte mit grellen Farben die Torheit, den Wahnsinn verliebter Alten, die das verderblichste Unheil, welches der Himmel über einen Menschen verhängen könne, auf sich herabzögen, da alle Liebe, die ihnen noch zuteil werden könne, verlorenginge, Haß und Verachtung aber von allen Seiten die todbringenden Pfeile auf sie richte.

Und dazwischen rief die holde Marianna mit tief ins Herz dringender Stimme: "0 mein Oheim, ich will Euch ja ehren und lieben wie meinen Vater, Ihr gebt mir den bittern Tod, wenn Ihr mir meinen Antonio raubt!" Und alle Dichter, von denen der Alte umgeben, riefen einstimmig, es sei unmöglich, daß ein Mann wie Signor Pasquale Capuzzi di Senigaglia, der Kunst hold, selbst der vortreiflichste Künstler,

nicht verzeihen, daß er, der Vaterstelle bei der holdesten der Frauen vertrete, nicht mit Freuden einen solchen Künstler wie den Antonio Scacciati, der, von ganz Italien hochgeschätzt, mit Ruhm und Ehre überhäuft werde, zu seinem Eidam annehmen solle.

Man merkte deutlich, wie es in dem Innersten des Alten arbeitete und wühlte. Er seufzte, er ächzte, er hielt die Hände vors Gesicht, er schaute, während Toricelli mit den eindringlichsten Reden fortfuhr, während Marianna auf das rührendste flehte, während die übrigen den Antonio Scacciati herausstrichen, wie sie nur konnten, bald auf seine Nichte, bald auf den Antonio herab, dessen glänzende Kleider und reiche Gnadenketten das bewährten, was dem Alten über den von ihm erlangten Künstierruhm gesagt wurde.

Verschwunden war alle Wut aus Capuzzis Antlitz, er sprang auf mit leuchtenden Blicken, er drückte Marianna an seine Brust, er rief: "Ja, ich verzeihe dir, mein geliebtes Kind; ich verzeihe Euch, Antonio! — Fern sei es von mir, Euer Glück zu stören. Ihr habt recht, mein würdiger Signor Toricelli; im Bilde auf dem Theater hat mir Formica alles Unheil, alles Verderben gezeigt, das mich getroffen, hätt ich meinen wahnsinnigen Anschlag ausgeführt. — Ich bin geheilt, ganz geheilt von meiner Torheit! — Aber wo ist Signor Formica, wo ist mein würdiger Arzt, daß ich ihm tausendmal für meine Heilung danke, die nur er vollbracht. Das Entsetzen, das er über mich zu bringen wußte, hat mein ganzes Inneres umgewandelt!"

Pasquarello trat hervor. Antonio warf sich ihm an den Hals, indem er rief: "0 Signor Formica, dem ich mein Leben, mein Alles verdanke, werft sie ab, diese Euch entstellende Maske, daß ich Euer Gesicht schaue, daß nicht länger Formica für mich ein Geheimnis bleibe."

Pasquarello zog die Kappe und die künstliche Larve, die ein natürliches Gesicht schien, da sie dem Gebärdenspiel keinen Eintrag tat, herab, und dieser Formica, dieser Pasquarello war verwandelt in -Salvator Rosa!

"Salvator!" riefen voll Erstaunen Marianna, Antonio, Capuzzl.

"Ja", sprach der wunderbare Mann, "Salvator Rosa ist es, den die Römer nicht anerkennen wollten als Maler, als Dichter, und der sie, ohne daß sie es wußten, als Formica auf dem kleinen erbärmlichen Theater des Nicolo Musso länger als ein Jahr beinahe jeden Abend zum lautesten, ungemessensten Beifall begeisterte, von dem sie jeden Spott, jede Verhöhnung des Schlechten, die sie in Salvators Gedichten und Gemälden nicht leiden wollten, willig hinnahmen! — Salvator Formica ist es, der dir, mein geliebter Antonio, geholfen

"Salvator", begann nun der alte Capuzzi, "Salvator Rosa, sosehr ich Euch für meinen schlimmsten Feind gehalten, so habe ich Eure Kunst doch immer hoch geehrt, aber jetzt liebe ich Euch als den würdigsten Freund und darf Euch wohl bitten, Euch meiner anzunehmen!"

"Sprecht", erwiderte Salvator, "sprecht, mein würdiger Signor Pasquale, welchen Dienst ich Euch erzeigen kann, und seid im voraus versichert, daß ich alle meine Kräfte aufbieten werde, das zu erfüllen, was Ihr von mir verlangt."

Nun dämmerte in Capuzzis Antlitz jenes süßliche Lächeln, das entschwunden, seitdem Marianna ihm entführt worden, wieder auf. Er nahm Salvators Hand und lispelte leise: "Mein bester Signor Salvator, Ihr vermöget alles über den wackern Antonio; flehet ihn in meinem Namen an, er solle erlauben, daß ich den kurzen Rest meiner Tage bei ihm und meiner lieben Tochter Marianna verlebe, und die mütterliche Erbschaft, der ich einen guten Brautschatz hinzuzufügen gedenke, von mir annehmen! —Dann solle er aber auch nicht scheel sehen, wenn ich dem holden süßen Kinde zuweilen die kleine weiße Hand küsse, und - mir wenigstens jeden Sonntag, wenn ich in die Messe wandle, meinen verwilderten Zwickelbart aufstützen, welches niemand auf der ganzen Erde so versteht als er!"

Salvator hatte Mühe, das Lachen über den wunderlichen

Alten zu unterdrücken; ehe er aber etwas erwidern konnte, versicherten Antonio und Marianna, den Alten umarmend, daß sie erst dann an seine völlige Versöhnung glauben und recht glücklich sein würden, wenn er als geliebter Vater in ihr Haus trete und es nie wieder verlasse. Antonio setzte noch hinzu, daß er nicht nur sonntags, sondern jeden Tag Capuzzis Zwickelbart auf das zierlichste aufstützen werde, und nun war der Alte ganz Wonne und Seligkeit. Unterdessen hatte man ein köstliches Nachtmahl bereitet, zu dem sich nun alle in der fröhlichsten Stimmung hinsetzten.

Indem ich von dir, vielgeliebter Leser, scheide, wünsche ich recht von Herzen, daß die Freudigkeit, welche nun den Salvator und alle seine Freunde begeisterte, in deinem eignen Gemüt, während du die Geschichte von dem wunderbaren Signor Formica lasest, recht hell aufgegangen sein möge.



"Da" —nahm Lothar das Wort, als Ottmar geendet hatte -, "da unser Freund ehrlich und unbefangen genug gewesen ist, gleich von Haus aus die Schwächen seines Produkts, das ,Novelle' zu nennen ihm beliebt hat, einzugestehen, so entwaffnet freilich dieser Anspruch an unsere Gutmütigkeit unsere Kritik, die wohlgerüstet ihm gegenüberstand. Er streckt die offne Brust der Partisane entgegen, und eben darum dürfen wir, ein großmütiger Feind, nicht zustoßen, sondern müssen seiner schonen."

"Nicht", sprach Cyprian, "nicht allein das, sondern wir können, um ihn aufzurichten in seinem Schmerz, sogar mit Fug ihm einiges, wiewohl spärliches Lob zuteil werden lassen. Ich für mein Teil finde manches ergötzlich und serapiontisch, wie zum Beispiel Capuzzis eingebildeten Beinbruch mit seinen Folgen, Capuzzis verhängnisvolle Serenade -"

"Die", unterbrach Vinzenz den Freund, "vorzüglich deshalb einen echt spanischen oder auch italienischen Beischmack hat, weil sie sich mit gewaltigen Prügeln endet.

Gehörige Prügel dürfen aber in keiner Novelle der Art fehlen, und ich nehme dieselben gar sehr in Schutz als ein besonderes kräftiges Reizmittel, das die geistreichsten Dichter stets in Anspruch nahmen. Im Boccaccio geht es selten ohne Prügel ab; wo fallen aber mehr Schläge, Stöße, Püffe als in dem Roman aller Romane, im ,Don Quixote', so daß Cervantes es selbst für nötig fand, sich bei dem Leser deshalb zu entschuldigen! Aber jetzt mögen gebildete Damen, für die geistiger Tee, den sie genießen können, mit leiblichem ohne allen Nachteil für ihre Ruhe bereitet wird in Masse, derlei nicht mehr, und eine ehrliche Haut von beliebtem Dichter, will er sich erhalten in Tees und Taschenbüchern, darf höchstens mit Mühe ein paar Nasenstüber oder ein Ohrfeiglein einschwärzen. Wo dergleichen vorkommt, das ist dann gleich eine sogenannte komische Geschichte. — Aber was Tee - was gebildete Damen! — Sieh in mir, o mein Ottmar, deinen gewappneten Beschützer und prügle erklecklich in allen Novellen, die du noch etwa zu schreiben entschlossen, und der Prügel halber rühme ich dich!"

"Und ich", fuhr Theodor fort, "und ich des anmutigen Trios halber, das Capuzzi, der Pyramiden-Doktor und die etwas greuliche kastratische Mißgeburt bilden, sowie auch deshalb, weil die verwunderliche Art, wie Salvator Rosa, der nie als Held des Stücks, sondern nur als Vermittler eingreift, sehr mit dem Charakter übereinstimmt, wie er geschildert wird und wie er auch aus seinen Werken spricht." "Ottmar", sagte Sylvester, "hat sich mehr an das Abenteuerliche gehalten, das in Salvators Charakter lag, und weniger die ernste finstre Seite herausgekehrt. Mir fällt bei dieser Gelegenheit das berühmte Sonett ein, in dem Salvator, seinen Namen (Salvator) allegorisierend, den tiefen Unmut ausspricht über seine Feinde und Verfolger, welche behaupteten, daß er in seinen Gedichten, denen man mit Recht Schroffheit und Mangel an innerem Zusammenhang vorwirft, Werke älterer Meister geplündert. Es heißt ungefähr:

 Wohl  darum  nur,  weil  Heiland  man  mich  nannte,
Hör ,Kreuzigt ihn!' das wilde Volk ich toben?
Doch recht! —der Brut, aus Haß und Neid gewoben,
Verzoll mit Schmerz ich Ruhm, den sie nie kannte.
Es fragen dem Pilatus treu Verwandte,
Ob mir der Lieder Lorbeer sei erhoben.
Und manches Petrus Treu seh ich zerstoben,
Judasse nahn sich mir, der Höll Gesandte.
Es schwört der Juden treulos finstre Rotte,
Daß aus dem Heiligtum geraubt ich hätte
Den Glanz, die Herrlichkeit dem mächt'gern Gotte.
Doch anders reiht sich Glied an Glied der Kette.
Die Schächer sie, nicht Heiland ich zum Spotte,
Was  Pindus mir, ist ihnen Schädelstätte

"Ich erinnere mich", sprach Lothar, "dieses Sonetts in der Ursprache sehr wohl und finde, daß unser Sylvester das Rauhe, das Harte des Originals nicht übel wiedergegeben hat. — Doch um noch einmal auf Ottmars sogenannte Novelle zurückzukommen, so halte ich meinesteils es für den größten Übelstand, daß Ottmar statt einer in allen Teilen zum Ganzen sich ründenden Erzählung nur vielmehr eine Reihe Bilder geliefert hat, die indessen manchmal ergötzlich genug sind."

"Muß ich", rief Ottmar, "muß ich dir denn nicht recht geben, mein Lothar? Aber gestehen werdet ihr mir alle, daß ein gar geschickter Segler dazu gehört, um die Klippe zu umschiffen, an der ich gescheitert."

"Gefährlicher", sagte Sylvester, "möchte diese Klippe wohl noch dramatischen Dichtern sein. Nichts ist wenigstens für mich verdrießlicher, als zum Beispiel statt eines Lustspiels, in dem alles, was geschieht, fest an den Faden gereiht sein, der sich durch das Ganze zieht, in dem alles als unbedingt zum Gebilde des Ganzen notwendig erscheinen soll, nur eine Reihe willkürlicher Begebenheiten oder gar

einzelner Situationen zu schauen. Und auch zu dieser leichtsinnigen Behandlung des Lustspiels hat der rüstigste Theaterschreiber der letztvergangenen Zeit das Signal gegeben. Enthalten zum Beispiel die ,Pagenstreiche' denn mehr als eine Reihe possenhafter Einfälle, die nach Willkür zusammengewürfelt scheinen? — In älterer Zeit, der man überhaupt rücksichts der dramatischen Kunst wohl den tiefern Ernst nicht wird absprechen können, mühte sich jeder Lustspieldichter um einen tüchtigen Plan, aus dem sich dann das Komische, Drollige oder auch nur Possenhafte von selbst ergab, weil dies unerläßlich schien. Bei Jünger, der nur oft gar zu flach erscheint, war dies gewiß der Fall, und auch dem nur zu prosaischen Bretzner fehlte es gar nicht an Talent, das Lustige aus dem dazu geschickt erfundenen Plane hervorströmen zu lassen. Auch haben seine Charaktere oft wahre, der regen Wirklichkeit entnommene Lebenskraft, wie zum Beispiel der ,Eheprokurator'. Nur möchten uns seine gescheut parlierenden Damen jetzt völlig ungenießbar sein. Darum schätze ich ihn dennoch sehr."

"Mit mir", nahm Theodor das Wort, "hat er es durch seine Opern ganz und gar verdorben, die als Muster gelten können, wie Opern nicht gedichtet werden müssen."

"Rührt", sprach Vinzenz, "rührt bloß davon her, weil der Wohlselige, wie Sylvester sehr richtig bemerkt hat, etwelche Poesie nicht sonderlich verspüren ließ und in dem romantischen Gebiet der Oper nicht Steg und Weg zu finden wußte. — Weil ihr aber nun so über das Lustspiel sprecht, so könnte ich mit Nutzen beibringen, daß ihr die Zeit verderbt mit Räsonieren über ein Nonens, und euch zurufen wie Romeo dem Mercutio: ,Still, o still, ihr guten Leut! — ihr sprecht von einem Nichts!' — Ich vermeine nämlich, daß wir allzumal gar kein eigentliches wahrhaftes deutsches Lustspiel repräsentieren sehen, aus dem einfachen Grunde, weil die verjährten nicht mehr verdaut werden können, der Schwäche unserer Magen halber, und neue nicht mehr geschrieben werden. Woher letzteres kommt, das werde ich ganz kürzlich

in einer Abhandlung von höchstens vierzig Bogen dartun, euch aber vorderhand mit einem Wortspiel abfertigen. Es fehlt, sage ich nämlich, uns am Lustspiel hauptsächlich deshalb, weil es uns an der Lust fehlt, die mit sich selbst spielt, und an dem Sinn dafür."

"Dixi", rief Sylvester lachend, "dixi und der Name Vinzenz darunter, und gestempelt und gesiegelt! — Ich denke aber eben daran, daß in die unterste Klasse dramatischer oder vielmehr zur Darstellung auf der Bühne bestimmter Erzeugnisse wohl die sogenannten Schubladenstückchen gehören möchten, in denen irgendein gewandter Pfiffikus einen ehrsamen Oheim - Theaterdirektor und so weiter durch mancherlei, zum Teil alberne Verkleidungen neckt und foppt. Und doch war vor gar nicht langer Zeit derlei nüchternes mageres Zeug beinahe das tägliche Brot jeder Bühne. Jetzt scheint es damit ein wenig nachzulassen."

"Aufhören", nahm Theodor das Wort, "aufhören wird es nie, solange es eitle Schauspieler gibt, denen ja in der Welt nichts gelegener sein kann, als an einem und demselben Abend, Gestalt und Farbe auf das verschiedenartigste wechselnd, sich als chamäleontische Wunder anstaunen zu lassen. Recht in das Innerste hinein habe ich jedesmal über die sich apotheosierende Selbstgenügsamkeit lachen müssen, mit der nach überstandener Seelenwanderung dann der letzten Puppe das Ich des Schauspielers als schöner Schmetterling entfliegt. Gewöhnlich ist es ein netter, geschniegelter Nachtfalter, schwarz gekleidet, in seidenen Strümpfen, den Dreieck unterm Arm, der es von dem Augenblick an nur mit dem in Erstaunen gesetzten Publikum zu tun hat und sich nicht mehr um den kümmert, der ihm Frondienste geleistet. Kann, wie in ,Wilhelm Meisters Lehrjahren' zu lesen, ein bestimmtes Fach einen Schauspieler dazu verbinden, alle diejenigen Rollen zu übernehmen, in denen es Prügel oder irgendeine andere Mißhandlung gibt, so könnte und müßte auch jede Bühne ein jenem Alten im ,Meister' ähnliches Subjekt besitzen, das jenes Frondienst ein für allemal zu verrichten

und die nötigen Theaterdirektoren und so weiter zu spielen hätte. Zu tun gäb's immer, denn wenigstens jeder gastierende Schauspieler hat gewiß solch ein Stück in der Tasche als Eingangspaß und Kreditbrief."

"Mir fällt", sprach Lothar, "dabei ein gar absonderlicher Mann ein, den ich in einer kleinen süddeutschen Stadt bei einer Schauspielertruppe fand und in dem mir ganz und gar jener vortreffliche Pedant aus dem ,Wilhelm Meister' auflebte. So unausstehlich er jetzt auf dem Theater war, wenn er seine kleinen Rollen in heilloser Monotonie herbetete, so sagte man doch, er sei sonst in jüngeren Jahren ein sehr guter Schauspieler gewesen und habe zum Beispiel jene schlauen spitzbübischen Gastwirte, wie sie in alter Zeit beinahe in jedem Lustspiel vorkamen und über deren gänzliches Verschwinden von der Bühne schon der Wirt in Tiecks ,Verkehrter Welt' klagt und sich mehr auf den Hofrat gelegt zu haben wünscht, ganz vortreiflich gespielt. Jetzt schien er mit dem Schicksal, das ihn freilich hart verfolgt hatte, gänzlich abgeschlossen zu haben und in gänzlicher Apathie auf nichts in der Welt, am wenigsten aber auf sich selbst, einigen Wert zu legen. Nichts durchdrang die Kruste, die der Anwurf der gemeinsten Erbärmlichkeit um sein besseres Ich gebildet, und er gefiel sich darin wohl. Und doch strahlte aus seinen tiefliegenden, geistreichen Augen oft der Funke eines höheren Geistes, und schnell zuckte dann der Ausdruck einer bittern Ironie über sein Gesicht hin, sodaß das übertrieben unterwürfige Wesen, das er gegen alle, vorzüglich aber gegen seinen Direktor, einen jungen, geckhaft eiteln Mann, annahm, nur schalkische Verhöhnung schien. Sonntags pflegte er in einem reinlichen wohlgebürsteten Anzuge, dessen abenteuerliche Farbe und noch abenteuerlicherer Zuschnitt den Schauspieler aus verjährter Zeit verkündete, am untersten Ende der Wirtstafel des ersten Gasthofes in der Stadt zu sitzen und, ohne ein einziges Wort zu sprechen, es sich wohlschmecken zu lassen, wiewohl er, vorzüglich was den Wein betraf, sehr mäßig war und beinahe

nur zur Hälfte die Flasche leerte, die man ihm hingestellt. Bei jedem Glase, das er sich einschenkte, bückte er sich demütig gegen den Wirt, der ihm sonntags einen Freitisch gab, da er die Kinder im Schreiben und Rechnen unterrichtete. Es begab sich, daß ich an einem Sonntage die Wirtstafel besetzt und nur noch einen Platz leer fand neben dem Alten. Flugs setzte ich mich hin, hoffend, daß es mir gelingen werde, den bessern Geist, der in dem Mann verschlossen sein mußte, heraufzutagen. Es war schwer, beinahe unmöglich, dem Alten beizukommen, glaubte man ihn zu fassen, so duckte er schnell unter und verkroch sich in lauter Demut und Unterwürfigkeit. Endlich, nachdem ich ihm mit großer Mühe ein paar Gläser kräftigen Weins eingenötigt, schien er etwas aufzutauen und sprach mit sichtlicher Rührung von der alten guten Theaterzeit, die nun verschwunden sei und nie wiederkehre. Die Tafel wurde aufgehoben, ein paar Freunde fanden sich zu mir, der Schauspieler wollte fort. Ich hielt ihn fest, unerachtet er auf das wehmütigste protestierte, ein armer abgelebter Schauspieler sei keine Gesellschaft für solche würdige Herren, es schicke sich ja gar nicht für ihn, zu bleiben, er gehöre ja gar nicht hieher und könne nur geduldet werden des bißchen Essens halber und so weiter. Nicht sowohl meiner Überredungskraft als der unwiderstehlichen Verlockung einer Tasse Kaffee und einer Pfeife des feinsten Knasters, den ich bei mir führte, durfte ich es wohl zuschreiben, daß er blieb. Er sprach mit Lebhaftigkeit und Geist von der alten Theaterzeit, er hatte noch Ekhof gesehen, mit Schrödern gespielt - genug, es offenbarte sich, daß seine ihn vernichtende Verstimmung wohl daher rührte, daß jene Zeit die abgeschlossene Welt war, in der er frei atmete, frei sich bewegte, und daß, aus ihr herausgeworfen, er durchaus keinen festen Standpunkt zu fassen vermochte. — Wie sehr überraschte uns aber der Mann, als er endlich, ganz heiter und treuherzig geworden, mit einer Kraft des Ausdrucks, die das Innerste durchdrang, die Rede des Geistes aus dem ,Hamlet' nach der Schröderschen Bearbeitung (die Schlegelsche Übersetzung kannte er gar nicht) hersagte. Bewundern mußten wir ihn aber auf das höchste, als er mehrere Stellen aus der Rolle des Oldenholm (den Namen Polonius wollte er nicht gelten lassen) auf eine Weise sprach, daß wir den kindisch gewordenen Höfling, dem es sonst gewiß nicht an Lebensweisheit fehlte und der noch sichtliche Spuren davon blicken läßt, ganz vor Augen hatten, welches manchmal bei der wirklichen Erscheinung auf der Bühne nicht der Fall ist. — Das alles war aber nur das Vorspiel einer Szene, wie ich sie niemals sah und die mir unvergeßlich bleiben wird! — Hier komme ich nun erst eigentlich darauf, was mich jetzt bei unserm Gespräch an meinen alten Schauspieler erinnerte, und verzeihen möget ihr mir's, meine würdigen Serapionsbrüder, wenn die Einleitung etwas zu lang ausfiel. — Mein Mann mußte nun eben auch jene erbärmliche Hülfsrollen übernehmen, von denen ihr spracht, und so sollte er auch einige Tage darauf den Schauspieldirektor in den ,Proberollen' spielen, die sich der Theaterdirektor selbst, der darin zu glänzen glaubte, nach seiner Art und Weise zugerichtet hatte. Sei es nun, daß jener Nachmittag seinen innern bessern Sinn aufgeregt hatte oder daß er vielleicht selbigen Tages, wie es nachher verlauten wollte, seiner Gewohnheit ganz entgegen seine Geisteskraft gestählt hatte durch Wein, genug, schon bei seinem ersten Auftreten erschien er ein ganz anderer, als der er sonst gewesen. Seine Augen funkelten, und die hohle schwankende Stimme des abgelebten Hypochonders war umgewandelt in einen hellen tönenden Baß, wie ihn joviale Leute älteren Schlags, zum Beispiel reiche Onkel, die, die poetische Gerechtigkeit handhabend, die Narrheit züchtigen und die Tugend belohnen, zu sprechen pflegen. Der Eingang ließ sonst nichts Besonders ahnen. Doch wie erstaunte das Publikum, als sich, nachdem die erste Verkleidungsszene vorüber, der seltsame Mensch mit sarkastischem Lächeln zu ihm wandte und ungefähr also sprach: ,Sollte ein hochverehrtes Publikum nicht ebensogut wie ich auf den ersten Blick unsern guten (er nannte den Namen des Direktors) erkannt haben? — Ist es möglich, die Kraft der Täuschung auf einen so und wieder anders zugeschnittenen Rock, auf eine mehr oder minder zerzauste Perücke zu basieren und dadurch ein dürftiges Talent, dem kein tüchtiger Geist Nahrung spendet, mühsam aufpäppeln zu wollen wie ein von der nährenden Mutter verlassenes Kind? — Der junge Mensch, der auf solch ungeschickte Weise sich mir als ein vielseitiger Künstler, als ein chamäleontisches Genie darstellen will, hätte nun gleich nicht so übermäßig mit den Händen fechten, nicht bei jeder Rede wie ein Taschenmesser zusammenfallen, das R nicht so schnarren sollen, und ich glaube, ein hochverehrtes Publikum sowohl als ich hätte unsern kleinen Direktor nicht stracks erkannt, wie es nun so geschehen ist, daß es zum Erbarmen! — Doch da das Stück noch eine halbe Stunde spielen muß, so will ich mich noch diese Zeit hindurch so stellen, als merkte ich nichts, unerachtet mir das Ding herzlich langweilig ist und zuwider!' —Genug! — nach jedem neuen Auftritt des Direktors ironierte der Alte sein Spiel auf die ergötzlichste Weise, und man kann denken, daß dies unter dem schallenden Gelächter des Publikums geschah. Sehr lustig war es auch, daß der mit dem beständigen Umkleiden beschäftigte Direktor bis zur letzten Szene nichts von dem Streich merkte, der ihm auf dem Theater gespielt wurde. Es mochte sein, daß der Alte mit dem Theaterschneider sich im bösen Komplott befand, denn soviel war gewiß, daß die Garderobe des unglückseligen Direktors in die größte Unordnung geraten, so daß die Zwischenszenen, die der Alte ausfüllen mußte, viel länger dauerten als gewöhnlich und er Zeit genug hatte, eine Fülle des bittersten Spotts über den armen Direktor ausströmen zu lassen, ja sogar ihm manches mit einer schalkischen Wahrheit nachzusprechen und nachzuspielen, die das Publikum außer sich selbst setzte. Das ganze Stück war auf den Kopf gestellt, so daß die lückenbüßerischen Zwischenszenen zur Hauptsache wurden. —Herrlich war es auch wohl, daß der Alte zuweilen dem Publikum schon vorhersagte, wie nun der Direktor erscheinen würde, Miene und Stellung nachahmend, und daß dieser das schallende Gelächter, das ihn empfing und das der treffenden Schilderung galt, die der Alte gegeben, zu seiner großen Zufriedenheit lediglich seiner gelungenen Maske zuschrieb. — Zuletzt mußte denn nun wohl das Beginnen des Alten dem Direktor klarwerden, und man kann denken, daß er auf ihn losfuhr wie ein gehetzter Eber, so daß der Alte sich kaum vor Mißhandlungen retten konnte und die Bühne nicht mehr betreten durfte. Dagegen hatte den Alten aber das Publikum so liebgewonnen und nahm seine Partie so lebhaft, daß der Direktor, noch dazu seit jenem Abend mit dem Fluch des Lächerlichen belastet, es geraten fand, sein kleines Theater zu schließen und weiterzuziehen. Mehrere ehrsame Bürger, an ihrer Spitze stand jener Gastwirt, traten aber zusammen und verschafften dem Alten ein artiges Auskommen, so daß er, der Theaterhudelei auf immer entsagend, ein ruhiges sorgenfreies Leben am Orte führen konnte. Doch wunderlich, ja unergründlich ist das Gemüt eines Schauspielers. Nicht ein Jahr war vergangen, als der Alte plötzlich vom Orte verschwand, niemand wußte wohin! — Nach einiger Zeit wollte man ihn bei irgendeiner erbärmlichen herumziehenden Schauspielertruppe gesehen haben, ganz in demselben nichtswürdigen Verhältnis, dem er kaum entgangen."

"Mit", nahm Ottmar das Wort, "mit geringer angefügter Nutzanwendung gehört dieses Anekdoton von dem Alten in den Moralkodex für Schauspieler und für die, die es werden wollen."

— Cyprian war indessen schweigend aufgestanden und hatte sich, nachdem er einigemal im Zimmer auf und ab geschritten, hinter die herabgelassenen Gardinen ins Fenster gestellt. In dem Augenblick, als Ottmar schwieg, stürmte es heulend und tobend hinein, die Lichter drohten zu verlöschen, Theodors ganzer Schreibtisch wurde lebendig, hundert Papierchen rauschten auf und trieben im Zimmer umher,

und die Saiten des offenstehenden Fortepianos ächzten laut auf.

"Hei - hei!" rief Theodor, als er seine literarischen Notizen, und wer weiß was sonst noch Geschriebenes, dem tobenden Herbststurm preisgegeben sah, "hei, hei, Cyprianus, was machst du!" — Und alle Freunde mühten sich, die Lichter zu retten und sich selbst vor dem hereintosenden Schneegestöber.

"Es ist wahr", sprach Cyprian, indem er das geöffnete Fenster wieder zuwarf, "es ist wahr, das Wetter leidet es nicht, daß man hinausschaue, wie es damit steht." —"Sage", nahm Sylvester das Wort, indem er den ganz zerstreuten Cyprian bei beiden Händen faßte und ihn nötigte, den verlassenen Platz wieder einzunehmen, "sage mir nur, Cyprian, wo du weiltest, in welche fremde Region du dich verirrt hattest, denn ferne, gar ferne von uns hatte dich dein unsteter Geist doch wieder fortgetragen."

"Nicht", erwiderte Cyprian, "nicht so fern von euch befand ich mich, als du wohl denken magst, und gewiß ist es, daß eben euer Gespräch mir das Tor öffnete zur Abfahrt. — Eben da ihr so viel von dem Lustspiel sprachet und Vinzenz den richtigen Erfahrungssatz aufstellte, daß uns die Lust abhanden gekommen, die mit sich selbst spielt, so fiel mir ein, daß sich dagegen in neuerer und neuster Zeit doch in der Tragödie manches wackre Talent erhoben. Mit diesem Gedanken faßte mich aber die Erinnerung an einen Dichter, der mit wahrhafter hochstrebender Genialität begann, aber plötzlich, wie von einem verderblichen Strudel ergriffen, unterging, so daß sein Name kaum mehr genannt wird." —"Da", sprach Ottmar, "stößest du gerade an gegen Lothars Prinzip, welcher zu behaupten pflegt, daß das wahrhafte Genie niemals untergehe."

"Und", fuhr Cyprian fort, "und Lothar hat recht, wenn er meint, daß der wildeste Sturm des Lebens nicht vermag, die Flamme zu verlöschen, die wahrhaft aus dem Innersten emporgelodert, daß die bittersten Widerwärtigkeiten, die

bedrängtesten Verhältnisse vergebens ankämpfen gegen die innere Göttermacht des Geistes, daß der Bogen sich nur spannt, um desto kräftiger loszuschnellen. Wie aber, wenn in dem ersten tiefsten Keim der Embryo des giftigen Wurms lag, der, entwickelt, mitgeboren mit der schönen Blüte, an ihrem Leben nagt, so daß sie ihren Tod in sich selber trägt und es keines Sturms bedarf, sie zu vernichten?"

"So fehlte", rief Lothar, "es deinem Genius an dem ersten Bedingnis, das dem Tragödiendichter, der frei und kräftig ins Leben treten will, unerläßlich ist. Ich meine nämlich, daß solch eines Dichters Gemüt unbedingt vollkommen gesund, frei von jedem Kränkeln sein müsse, wie es wohl psychische Schwächlichkeit oder, um mit dir zu reden, auch wohl irgendein mitgebornes Gift erzeugen mag. Wer konnte und kann sich solcher Gesundheit des Gemüts wohl mehr rühmen als unser Altvater Goethe? — Mit solcher ungeschwächten Kraft, mit solcher innern Reinheit wurden Helden erzeugt wie Götz von Berlichingen - Egmont! — Und will man unserm Schiller vielleicht jene Heroenkraft nicht in dem Grade einräumen, so ist es wieder der reine Sonnenglanz des innigsten Gemüts, der seine Helden umstrahlt, in dem wir uns, wohltätig erwärmt, ebenso kräftig und stark fühlen, als es der Schöpfer im Innersten sein mußte. Doch vergessen muß man ja nicht den Räuber Moor, den Ludwig Tieck mit vollem Recht das titanenartige Geschöpf einer jungen und kühnen Imagination nennt. — Wir kommen indessen ganz von deinem Tragödiendichter ab, Cyprianus, und ich wollte, du rücktest nun ohne weiteres damit heraus, wen du meinst, unerachtet ich es zu ahnen glaube."

"Beinahe", sprach Cyprian, "wäre ich, wie ich es heute schon einmal getan, aufs neue hineingefahren in euer Gespräch mit absonderlichen Worten, die ihr nicht zu deuten wußtet, da ihr die Bilder meines wachen Traums nicht geschaut. —Aber ich rufe nun dennoch: Nein! seit Shakespeares Zeiten ging solch ein Wesen nicht über die Bühne wie dieser übermenschliche, fürchterlich grauenhafte Greis! — Und damit

ihr nicht einen Augenblick länger in Zweifel bleibt, so füge ich gleich hinzu, daß kein Dichter der neueren Zeit sich einer solch hochtragischen gewaltigen Schöpfung erfreuen kann als der Dichter der ,Söhne des Tales'."

Die Freunde sahen sich verwundert an. Sie ließen in der Geschwindigkeit die vorzüglichsten Charaktere aus Zacharias Werners Dichtungen die Musterung passieren und waren dann darin einig, daß doch überall dem wahrhaft Großen, dem wahrhaft Starken, Tragischen irgend etwas Seltsames, Abenteuerliches, ja oft Gemeines beigemischt, was davon zeuge, daß der Dichter zu keiner ganz reinen Anschauung seines Helden gekommen und daß ihm wohl ebenjene vollkommene Gesundheit des inneren Gemüts gemangelt, die Lothar bei jedem Tragödiendichter als unerläßlich voraussetze.

Nur Theodor hatte in sich hineingelächelt, als sei er anderer Meinung, und begann nun: "Halt, halt! Ihr würdigen Serapionsbrüder - keine Übereilung! — Ich weiß es ja, ich allein von euch kann es wissen, daß Cyprian von einer Dichtung spricht, die der Dichter nicht vollendete, die mithin der Welt unbekannt geblieben, wiewohl Freunde, die in des Dichters Nähe lebten und denen er entworfene Hauptszenen mitteilte, Grund genug hatten, überzeugt zu sein, daß diese Dichtung sich zu dem Größesten und Stärkesten erheben werde, nicht allein was der Dichter geliefert, sondern was überhaupt in neuerer Zeit geschrieben worden."

"Allerdings", nahm Cyprian das Wort, "allerdings spreche ich von dem Zweiten Teil des ,Kreuzes an der Ostsee', in dem eben jenes furchtbar gigantische grauenhafte Wesen auftrat, nämlich der alte König der Preußen, Waidewuthis. Es möchte mir unmöglich sein, euch ein deutliches Bild von diesem Charakter zu geben, den der Dichter, des gewaltigsten Zaubers mächtig, aus der schauervollen Tiefe des unterirdischen Reichs heraufbeschworen zu haben schien. Mag es euch gnügen, wenn ich euch in dem innern Mechanismus die Spiralfeder erblicken lasse, die der Dichter hineingelegt,

um sein Werk in rege Tätigkeit zu setzen. — Geschichtlicher Tradition gemäß ging die erste Kultur der alten Preußen von ihrem König Waidewuthis aus. Er führte die Rechte des Eigentums ein, die Felder wurden umgrenzt, Ackerbau getrieben, und auch einen religiösen Kultus gab er dem Volk, indem er selbst drei Götzenbilder schnitzte, denen unter einer uralten Eiche, an die sie befestigt, Opfer dargebracht wurden. Aber eine grause Macht erfaßt den, der sich selbst allgewaltig, sich selbst Gott des Volkes glaubt, das er beherrscht. — Und jene einfältige starre Götzenbilder, die er mit eignen Händen schnitzte, damit des Volkes Kraft und Wille sich beuge der sinnlichen Gestaltung höherer Mächte, erwachen plötzlich zum Leben. Und was diese toten Gebilde zum Leben entflammt, es ist das Feuer, das der satanische Prometheus aus der Hölle selbst stahl. Abtrünnige Leibeigne ihres Herren, ihres Schöpfers, strecken die Götzen nun die bedrohlichen Waffen, womit er sie ausgerüstet, ihm selbst entgegen, und so beginnt der ungeheure Kampf des Übermenschlichen im menschlichen Prinzip. — Ich weiß nicht, ob ich euch ganz deutlich geworden bin, ob es mir ganz gelang, die kolossale Idee des Dichters euch darzustellen. Doch als Serapionsbrüder mute ich es euch zu, daß ihr ganz so wie ich selbst in den fürchterlichen Abgrund geblickt, den der Dichter erschlossen, und ebendas Entsetzen, das Grausen empfunden habt, das mich überfällt, sowie ich nur an diesen Waidewuthis denke."

"In der Tat", nahm Theodor das Wort, "unser Cyprianus ist ganz bleich geworden, und das beweist allerdings, wie die ganze große Skizze des wunderbaren Gemäldes, die der Dichter ihm entfaltet, von der er uns aber nur eine einzige Hauptgruppe blicken lassen, sein tiefstes Gemüt aufgeregt hat. Was aber den Waidewuthis betrifft, so würd es, denk ich, genügt haben zu sagen, daß der Dichter mit staunenswerter Kraft und Originalität den Dämon so groß, gewaltig, gigantisch erfaßt hatte, daß er des Kampfs vollkommen würdig erschien und der Sieg, die Glorie des Christentums, um

desto herrlicher, glänzender strahlen mußte. Wahr ist es, in manchen Zügen ist mir der alte König so erschienen, als sei er, um mit Dante zu reden, der ,imperador del doloroso regno' selbst, der auf Erden wandle. Die Katastrophe seines Unterganges, jenen Sieg des Christentums, mithin den wahrhaftigen Schlußakkord, nach dem alles hinstrebt im ganzen Werke, das mir wenigstens nach der Anlage des Zweiten Teils einer andern Welt anzugehören schien, habe ich mir in der dramatischen Gestaltung niemals recht denken können. Wiewohl in ganz andern Anklängen, fühlt ich erst die Möglichkeit eines Schlusses, der in grausenhafler Erhabenheit alles hinter sich läßt, was man vielleicht ahnen wollte, als ich Calderóns ,Großen Magus' gelesen. — Übrigens hat der Dichter über die Art, wie er sein Werk schließen wolle, sich nicht ausgelassen. Wenigstens ist mir darüber nichts zu Ohren gekommen."

"Mich", sprach Vinzenz, "will es überhaupt bedünken, als wenn es dem Dichter mit seinem Werk so gegangen sei wie dem alten König Waidewuthis mit seinen Götzenbildern. Es ist ihm über den Kopf gewachsen, und daß er der eignen Kraft nicht mächtig werden konnte, beweist eben die Verkränkelung des inneren Gemüts, die nicht zuläßt, daß etwas Reines, Tüchtiges zutage gefördert werde. Überhaupt kann ich, sollte Cyprian auch wirklich recht haben, daß der Alte die glücklichsten Anlagen zu einem vortrefflichen gewaltigen Satan gehabt, mir doch nicht gut vorstellen, wie er wiederum mit dem Menschlichen so verknüpft werden konnte, um wahrhaftes dramatisches Leben verspüren zu lassen, ohne das keine Anregung des Zuschauers oder Lesers denkbar ist. Der Satan mußte zugleich ein großer gewaltiger königlicher Heros sein."

"Und", erwiderte Cyprian, "das war er auch in der Tat. Um dir dies zu beweisen, müßt ich ganze Szenen, wie sie der Dichter uns mitteilte, noch auswendig wissen. Lebhaft erinnere ich mich noch eines Moments, der mir vortreiflich schien. König Waidewuthis weiß, daß, keiner seiner Söhne

die Krone erben wird, er erzieht daher einen Knaben - ich glaube, er erscheint erst zwölf Jahre alt - zum künftigen Thronfolger. In der Nacht liegen beide, Waidewuthis und der Knabe, am Feuer, und Waidewuthis bemüht sich, des Knaben Gemüt für die Idee der Göttermacht eines Volksherrschers zu entzünden. — Diese Rede des Waidewuthis schien mir ganz meisterhaft, ganz vollendet. — Der Knabe, einen jungen zahmen Wolf, den er auferzogen, seinen treuen Spielkameraden, im Arm, horcht der Rede des Alten aufmerksam zu, und als dieser zuletzt frägt, ob er um solcher Macht willen wohl seinen Wolf opfern könne, da sieht der Knabe ihn starr an, ergreift dann den Wolf und wirft ihn ohne weiteres in die Flammen."

"Ich weiß", rief Theodor, als Vinzenz gar seltsam lächelte und Lothar, wie von innerer Ungeduld getrieben, losbrechen wollte, "ich weiß, was ihr sagen wollt, ich höre das harte absprechende Urteil, womit ihr den Dichter von euch wegweiset, und ich will euch gestehen, daß ich noch vor wenigen Tagen in dies Urteil eingestimmt hätte, weniger aus Überzeugung als aus Verdruß, daß der Dichter auf Bahnen geriet, die ihn mir auf immer entrücken mußten, so daß ein Wiederfinden kaum denkbar und auch beinahe nicht wünschenswert scheint. Mit Recht muß der Welt des Dichters Beginnen, als sein Ruhm sich erhoben, verworren, einem wahrhaftigen Geist fremd, unwürdig erscheinen, mit Recht mag sich der Verdacht regen, daß ein wetterwendisches Gemüt, der Lüge, sündhafter Heuchelei ergeben, geneigt sei, die Schleier, die die Selbsttäuschung gewoben, andern überzuwerfen, daß aber die Tat diese Schleier mit roher Gewalt zerreiße, so daß man im Innern den bösen Geist krasser Selbstsucht an der gleißnerisch glänzenden Glorie arbeiten sehe zur eignen Beatifikation. —Doch! —Nun! —Entwaffnet, ganz entwaffnet hat mich des Dichters Vorrede zu dem geistlichen Schauspiel ,Die Mutter der Makkabäer', die, wohl nur den wenigen Freunden, die sich dem Dichter in seiner schönsten Blütezeit fester angeschlossen hatten, ganz verständlich,

das rührendste Selbstbekenntnis verschuldeter Schwäche, die wehmütigste Klage über unwiederbringlich verlornes Gut enthält. Willkürlos mag dies dem Dichter entschlüpft sein, und er selbst mochte die tiefere Bedeutung nicht ahnen, die den Freunden, die er verließ, in seinen Worten aufgehen mußte. Diese merkwürdige Vorrede lesend, war es mir, als säh ich durch ein trübes farbloses Wolkenmeer glänzende Strahlen dämmern eines hohen edlen, über alle aberwitzige Faseleien unmündiger Verkehrtheit erhabenen Geistes, der sich selbst, wenn auch nicht mehr zu erkennen, doch noch zu ahnen vermag. Der Dichter erschien mir wie der vom fixen Wahn Verstörte, der im hellen Augenblick sich des Wahns bewußt wird, aber, den trostlosen Gram dieses Bewußtseins beschwichtigend, sich selbst mit erkünstelten Sophismen zu beweisen trachtet, in jenem Wahn rühre und rege sich sein eigentliches höhers Wesen, und dieses Bewußtsein sei nur der kränkelnde Zweifel des im Irdischen befangenen Menschen. — Eben vom Zweiten Teil des ,Kreuzes an der Ostsee' spricht der Dichter in jener Vorrede und gesteht - schneide kein solch tolles Gesicht, Lothar - bleibe ruhig auf dem Stuhle sitzen, Ottmar - trommle nicht den russischen Grenadiermarsch auf der Stuhllehne, Vinzenz! — Ich dächte, der Dichter der ,Söhne des Tales' verdiene wohl, daß von ihm unter uns recht ordentlich gesprochen würde, und ich muß euch nur sagen, daß mir das Herz nun eben recht voll ist und daß ich noch den brausenden Gischt wacker überlaufen lassen muß."

"Ha!" rief Vinzenz sehr laut und pathetisch, indem er aufsprang, "ha, wie der Gischt -emporzischt! — Das kommt vor im ,Kreuz an der Ostsee', und die heidnischen Priester singen es ab in sehr greulicher, abscheulicher Weise. Und du magst nun schelten, schmähen, toben, mich verfluchen und verwünschen, o mein teurer Serapionsbrüder Theodor! — ich muß! — ich muß dir in deinen tiefsinnigen Vortrag ein kleines Anekdoton hineinschmeißen, das wenigstens einen minutenlangen Sonnenschein auf alle diese Leichenbittergesichter

werfen wird. — Unser Dichter hatte einige Freunde geladen, um ihnen das ,Kreuz an der Ostsee' im Manuskript vorzulesen, wovon sie bereits einige Bruchstücke kannten, die ihre Erwartung auf das höchste gespannt hatten. Wie gewöhnlich in der Mitte des Kreises an einem kleinen Tischchen, auf dem zwei helle Kerzen, in hohe Leuchter gesteckt, brannten, saß der Dichter, hatte das Manuskript aus dem Busen gezogen, die ungeheure Tabaksdose, das blaugewürfelte, geschickt an ostpreußisches Gewebe, wie es zu Unterröcken und andern nützlichen Dingen üblich, erinnernde Schnupftuch vor sich hingestellt und hingelegt. — Tiefe Stille ringsumher! — Kein Atemzug! — Der Dichter schneidet eins seiner absonderlichsten, jeder Schilderung spottenden Gesichter und beginnt! — Ihr erinnert euch doch, daß in der ersten Szene beim Aufgehen des Vorhangs die Preußen am Ufer der Ostsee zum Bernsteinfang versammelt sind und die Gottheit, die diesen Fang beschützt, anrufen? — Also - und beginnt:

,Bankputtis! —Bankputtis! —Bankputtis!' — Kleine Pause! — Da erhebt sich aus der Ecke die sanfte Stimme eines Zuhörers: ,Mein teuerster geliebtester Freund! — Mein allervortreifllichster Dichter! hast du dein ganzes liebes Poem in dieser verfluchten Sprache abgefaßt, so versteht keiner von uns den Teufel was davon und bitte, du wollest nur lieber gleich mit der Übersetzung anfangen!"

Die Freunde lachten, nur Cyprian und Theodor blieben ernst und still, noch ehe dieser aber das Wort wiedergewinnen konnte, sprach Ottmar: "Nein, es ist unmöglich, daß ich nicht hiebei an das wunderliche, ja beinahe possierliche Zusammentreffen zweier, wenigstens rücksichts ihres Kunstgefühls, ihrer Kunstansichten ganz heterogener Naturen denken sollte. Unumstößlich gewiß mag es sein, daß der Dichter die Idee zum ,Kreuz an der Ostsee' früher, lange Zeit hindurch in sich herumtrug, soviel ich erfahren, gab aber den nächsten Anlaß zum wirklichen Aufschreiben des Stücks eine Aufforderung Ifflands an den Dichter, ein

Trauerspiel für die Berliner Bühne anzufertigen. Die ,Söhne des Tals' machten gerade damals großes Aufsehen, und man mochte dem Theatermann wegen des neu zum Tageslicht aufgekeimten Talents hart zugesetzt, oder er selbst mochte gar zu verspüren gemeint haben, der junge Mensch könne auf die gewöhnlichen beliebten Handgriffe einexerziert werden und eine tüchtige Theaterfaust bekommen. — Genug, er hatte Vertrauen gefaßt, und nun denke man ihn sich mit dem erhaltenen Manuskript des ,Kreuzes an der Ostsee' in der Hand! — Iffland, dem die Trauerspiele Schillers, die sich damals trotz alles Widerstrebens hauptsächlich durch den großen Fleck Bahn gebrochen hatten, eigentlich in tiefster Seele ein Greuel waren; Iffland, der, durfte er es auch nicht wagen, mit seiner innersten Meinung offen hervorzutreten, ohne befürchten zu müssen, von jener scharfen Geißel, die er schon gefühlt, noch härter getroffen zu werden, doch irgendwo drucken ließ: Trauerspiele mit großen geschichtlichen Akten und einer großen Personenzahl wären das Verderbnis der Theater - des zu bedeutenden, schwer zu erschwingenden Kostenaufwandes wegen, setzte er zwar hinzu, aber er dachte doch: ,Dixi et salvavi' —; Iffiand, der gar zu gern seinen Geheimen Räten, seinen Sekretarien und so weiter den nach seiner Art zugeschnittenen tragischen Kothurn angezogen hätte - Iffland liest das ,Kreuz an der Ostsee' in dem Sinn, daß es ein für die Berliner Bühne ausdrücklich geschriebenes Trauerspiel sei, das er in Szenen setzen und in dem er selbst nichts weniger spielen soll als den Geist des von den heidnischen Preußen erschlagenen Bischofs Adalbert, der als Zitherspielmann sehr häufig über die Bühne zieht, mit vielen, zum Teil erbaulichen, zum Teil mystischen Reden gar nicht karg ist und über dessen Haupt, sooft der Name Christus ausgesprochen wird, eine helle Flamme auflodert und wieder verschwindet! — Das ,Kreuz an der Ostsee', ein Stück, dessen Romantik sich nur zu oft ins Abenteuerliche, in geschmacklose Bizarrerie verirrt, dessen szenische Einrichtung wirklich, wie es bei den gigantischen Schöpfungen Shakespeares oft nur den Schein hat, allen unbesiegbaren Bedingnissen der Bühnendarstellungen spottet. — Geradezu verwerfen, unartig absprechen, alles für tolles verwirrtes Zeug erklären, wie man es sonst wohl den dus minorum gentium geboten, das durfte man nicht. —Ehren — loben - ja bis an den Himmel erheben und dann mit tiefster Betrübnis erklären, daß die schwachen Theaterbretter den Riesenbau nicht zu tragen vermöchten, darauf kam es an. — Der Brief, den Iffland dem Dichter schrieb und dessen Struktur nach jener bekannten Widerspruchsform der Italiener: ,ben parlato, ma', eingerichtet, soll ein klassisches Meisterwerk der Theaterdiplomatik gewesen sein. Nicht aus dem Inneren des Stücks heraus hatte der Direktor die Unmöglichkeit der Bühnendarstellung demonstriert, sondern höflicherweise nur den Maschinisten angeklagt, dessen Zauberei solch enge Schranken gesetzt wären, daß er nicht einmal Christusflämmchen in der Luft aufleuchten lassen könne und so weiter. Doch kein Wort mehr! — Theodor soll nun die Irrwege seines Freundes entschuldigen, wie er mag und kann!"

"Entschuldigen?" erwiderte Theodor, "meinen Freund entschuldigen? das würde sehr ungeschickt, vielleicht gar albern und abgeschmackt herauskommen. Laßt mich statt dessen ein psychisches Problem aufstellen, das euch darauf hinbringen soll, wie besondere Umstände auf die Bildung des psychischen Organismus wirken können oder recht eigentlich, um auf Cyprians Gleichnis zurückzukommen, wie mit dem Keim der schönsten Blüte der Wurm mitgeboren werden kann, der sie zum Tode vergiftet. — Man sagt, daß der Hysterismus der Mütter sich zwar nicht auf die Söhne vererbe, in ihnen aber eine vorzüglich lebendige, ja ganz exzentrische Phantasie erzeuge, und es ist einer unter uns, glaube ich, an dem sich die Richtigkeit dieses Satzes bewährt hat. Wie mag es nun mit der Wirkung des hellen Wahnsinns der Mutter auf die Söhne sein, die ihn auch, wenigstens der Regel nach, nicht erben? — Ich meine nicht

jenen kindischen albernen Wahnsinn der Weiber, der bisweilen als Folge des gänzlich geschwächten Nervensystems eintritt, ich habe vielmehr jenen abnormen Seelenzustand im Sinn, in dem das psychische Prinzip, durch das Glühfeuer überreizter Phantasie zum Sublimat verflüchtigt, ein Gift worden, das die Lebensgeister angreift, so daß sie zum Tode erkranken und der Mensch in dem Delirium dieser Krankheit den Traum eines andern Seins für das wache Leben selbst nimmt. Ein Weib, sonst hochbegabt mit Geist und Phantasie, mag in diesem Zustande oft mehr eine göttliche Seherin als eine Wahnsinnige scheinen und in dem Kitzel des Krampfs psychisch geiler Verzückung Dinge aussprechen, die gar viele geneigt sein werden, für die unmittelbaren Eingebungen höherer Mächte zu halten. Denkt euch, daß der fixe Wahn einer auf diese Weise geisteskranken Mutter darin bestünde, daß sie sich für die Jungfrau Maria, den Knaben, den sie gebar, aber für Christus, den Sohn Gottes, hält. Und dies verkündet sie täglich, stündlich dem Knaben, den man nicht von ihr trennt, sowie sein Fassungsvermögen mehr und mehr erwacht. Der Knabe ist überreich ausgestattet mit Geist und Gemüt, vorzüglich aber mit einer glühenden Phantasie. Verwandte, Lehrer, für die er Achtung und Vertrauen hegt, alle sagen ihm, daß seine arme Mutter wahnsinnig sei, und er sieht selbst den Aberwitz jener Einbildung der Mutter ein, die ihm nicht einmal neu sein kann, da sie sich in den mehrsten Irrenhäusern wiederholt. Aber die Worte der Mutter dringen tief in sein Herz, er glaubt Verkündigungen aus einer andern Welt zu hören und fühlt lebhaft, wie im Inneren sich der Glaube entzündet, der den richtenden Verstand zu Boden tritt. Vorzüglich erfaßt ihn das mit unwiderstehlicher Gewalt, was die mütterliche Seherin über das irdische Treiben der Welt, über die Verachtung, den Hohn, den die Gottgeweihten dulden müßten, sagt, und er findet alles bestätigt im Leben und dünkt sich im jugendlich unreifen Unmut schon ein göttlicher Dulder, wenn die Bursche ihn, den etwas seltsam und abenteuerlich gekleideten Fuchs, im Kollegio auslachen oder gar auspfeifen - Was weiter! — muß nicht in der Brust eines solchen Jünglings der Gedanke aufkeimen, daß jener sogenannte Wahnsinn der Mutter, die ihm hoch erhaben dünkt über die Erkenntnis, über das Urteil der gemeinen irdischen Welt, nichts anders sei als der in metaphorischen Worten prophetisch verkündete Aufschluß seines höhern, im Innern verschlossenen Seins und seiner Bestimmung? — Ein Auserwählter der höhern Macht -Heiliger -Prophet. — Gibt es für einen in glühender Einbildungskraft entbrannten Jüngling einen stärkeren Anlaß zu mystischer Schwärmerei? — Laßt mich ferner annehmen, daß dieser Jüngling, physisch und psychisch reizbar bis zum verderblichsten Grade, hingerissen wird von dem unwiderstehlichsten, rasendsten Trieb zur Sünde, zu aller bösen Lust der Welt! — Mit abgewandtem Gesicht will ich hier vorübereilen bei dem schauerlichen Abgrunde der menschlichen Natur, aus dem der Keim jenes sündhaften Triebes emporwachsen und in die Brust des unglücklichen Jünglings hineinranken mochte, ohne daß er andere Schuld trug als die seines zu heißen Bluts, das für das fortwuchernde Giftkraut ein nur zu üppiger Dünger war. — Ich darf nicht weiter gehen, ihr fühlt das Entsetzen des furchtbaren Widerspruchs, der das Innere des Jünglings zerspaltet. Himmel und Hölle stehen kämpfend gegeneinander auf, und dieser Todeskampf ist es, der, im Innern verschlossen, auf der Oberfläche Erscheinungen erzeugt, die im grellen Abstich gegen alles, was sonst durch die menschliche Natur bedingt, keiner Deutung fähig sind. — Wie, wenn nun des zum Manne gereiften Jünglings glühende Einbildungskraft, die in früher Kindheit aus dem Wahnsinn der Mutter den Keim jenes exzentrischen Gedankens des Heiligtums einsog, wie, wenn diese, da die Zeit gekommen, in der die Sünde, all ihres Prunks beraubt, in ekelhafter Nacktheit sich selbst des Höllentrugs anklagt, von der Angst trostloser Zerknirschung getrieben, in die Mystik eines Religionskultus hereinflüchtete, der ihr entgegenkommt mit Siegeshymnen und duflendem Rauchopfer? Wie, wenn hier aus der verborgensten Tiefe die Stimme eines dunkeln Geistes vernommen würde, die also spricht: ,Nur irdische Verblendung war es, die dich an einen Zwiespalt in deinem Innern glauben ließ. Die Schleier sind gefallen, und du erkennst, daß die Sünde das Stigma ist deiner göttlichen Natur, deines überirdischen Berufs, womit die ewige Macht den Auserwählten gezeichnet. Nur dann, wenn du dich unterfingst, Widerstand zu leisten dem sündigen Trieb, zu widerstreben der ewigen Macht, mußte sie den Entarteten -Verblendeten verwerfen - das geläuterte Feuer der Hölle selbst strahlt in der Glorie des Heiligen!' — Und so gibt diese grauenvolle Hypermystik dem Verlornen den Trost, der das morsche Gebäude in furchtbarer Zerrüttung vollends zertrümmert, so wie der Wahnsinnige dann unheilbar erscheint, wenn ihm der Wahnsinn Wohlsein und Gedeihen gewährt."

"Oh", rief Sylvester, "oh, ich bitte dich, Theodor! nicht weiter, nicht weiter! — Mit abgewandtem Gesicht eiltest du vorhin bei einem Abgrund vorüber, in den du nicht blicken wolltest, aber mir ist es überhaupt, als führtest du uns auf schmälern schlüpfrigem Wege, auf dessen beiden Seiten grauenvolle bedrohliche Abgründe uns entgegengähnten. Deine letzten Worte erinnerten mich an die furchtbare Mystik des Pater Molinos an die abscheuliche Lehre vom Quietismus. Ich erbebte im Innersten, als ich den Hauptsatz dieser Lehre las: ,II ne faut avoir nul égard aux tentations, ni leur opposer aucune résistance. Si la nature se meut, il faut la laisser ägir; ce n'est que la nature!' * Dies führt ja —" 

* Toute opération active est absolument interdite par Molinos. C'est meme offenser Dieu, que de ne pas tellement s'abandonner a lui, que l'on soit comme un corps inanimé. De la vient, suivant cet hérésiarque, que le voeu de faire quelque bonne oeuvre, est un obstacle a la perfection, parceque l'activité naturelle est ennemie de la grace; c'est un obstacle aux opérations de Dieu et a la vraie perfection, parceque Dieu veut ägir en nous sans nous. Il ne faut connoître, ni lumiere, ni amour, ni résignation. Pour etre parfait, il ne faut pas meme connoître Dieu: il ne faut penser, ni au paradis, ni a l'enfer, ni a la mort, ni a l'éternité. On ne doit point désirer de sçavoir si on marche dans la volonté de Dieu, si on est assez résigné ou non. En un mot, il ne faut point que l'âme connoisse, ni son état, ni son néant; il faut qu'elle soit comme un corps inanimé. Toute réflexion est nuisible, meme celle qu'on fait sur ses propres actions et sur ses

"Uns", fiel Lothar dem Freunde ins Wort, "viel zu weit und in die Region der bösesten Träume und überhaupt jenes überschwenglichen Wahnsinns, von dem unter uns Serapionsbrüdern gar nicht die Rede sein sollte, da wir sonst unsern leichten und leuchtenden Sinn aufs Spiel setzen und am Ende nicht vermögen, gleich blinkenden Goldfischlein im hellen Wasser lustig zu spielen und zu plätschern, sondern versinken in farblosen Morast! — Darum still, still von allem Sublimtollen, das religiöser Wahn erzeugen konnte."

Ottmar und Vinzenz stimmten dem Freunde bei, indem sie noch hinzufügten, daß Theodor ganz gegen die serapiontische Regel gehandelt, da er so viel von einem den andern zum Teil fremden Gegenstande gesprochen, so sich augenblicklicher Anregung gänzlich hingebend und andere Mitteilungen hemmend.

Nur Cyprian nahm sich Theodors an, indem er behauptete, daß der Gegenstand, worüber Theodor, vorzüglich zuletzt, gesprochen, wohl ein solches, freilich, wie er zugeben müsse, unheimliches Interesse habe, daß selbst diejenigen, denen die Person, von der alles ausgegangen, unbekannt geblieben, sich doch nicht wenig angeregt fühlen dürften.

Ottmar meinte, daß ihn, dächte er sich das alles, was Theodor gesprochen, in einem Buche gedruckt, ein kleiner Schauer anwandle. Cyprian wandte aber dagegen ein, daß hier das Sapienti sat alles gutmachen dürfte.

Theodor hatte sich unterdessen in das Nebenzimmer entfernt und kam jetzt mit einem verhüllten Bilde zurück, 

défauts. Ainsi on [ne] doit point s'embarrasser du scandale que l'on peut causer, pourvu que l'on n'ait pas intention de scandaliser. Quand une fois on a donné son libre arbitre a Dieu, on ne doit avoir aucun désir de sa propre perfection, ni des vertus, ni de sa sanctification, ni dç son salut; il faut meme se défaire de l'espérance, parcequ'il faut abandonner a Dieu tout le soin de ce que nous regarde, meme celui de faire en nous et sans nous sa divine volonté. Ainsi c'est une imperfection que de demander; c'est avoir une volonté et vouloir que celle de Dieu s'y conforme. Par la meme raison, il ne faut lui rendre grace d'aucune chose; c'est le remercier d'avoir fait notre volonté; et nous n'en devons point avoir.

Histoire du proces de la Cadière

(Causes célebres, par Richer, Tom. Il)

das er auf einen Tisch gegen die Wand lehnte und zwei Lichter seitwärts davorstellte. Aller Blicke waren dahin gerichtet, und als nun Theodor das Tuch von dem Bilde schnell hinwegzog, entfloh den Lippen aller ein lautes: "Ah!"

Es war der Dichter der "Söhne des Tales", Brustbild in Lebensgröße, auf das sprechendste getroffen, ja wie aus dem Spiegel gestohlen.

"Ist es möglich", rief Ottmar ganz begeistert, "ist es möglich! — Ja, unter diesen buschichten Augenbraunen glimmt aus den dunklen Augen das unheimliche Feuer jener unseligen Mystik hervor, die den Dichter ins Verderben reißt! — Aber diese Gemütlichkeit, die aus allen übrigen Zügen spricht, ja dieses schalkische Lächeln des wahren Humors, das um die Lippen spielt und sich vergebens zu verbergen strebt im langgezogenen Kinn, das die Hand behaglich streicht? — Wahrhaftig, ich fühle mich seltsam hingezogen zu dem Mystiker, der, je mehr ich ihn anschaue, desto menschlicher wird -"

"Geht es uns denn anders - geht es uns denn anders?" so riefen Lothar und Vinzenz. "Ja", fuhr Vinzenz dann fort, das Bild starr anblickend, "ja, immer heller werden diese trüben Augen. — Du hast recht, Ottmar, er wird menschlich — et homo factus est. — Seht, er blinkt mit den Augen, er lächelt - gleich wird er etwas sprechen, das uns erfreut - ein göttlicher Spaß — ein fulminantes Witzwort schwebt auf den Lippen - nur zu - nur zu, werter Zacharias - geniere dich nicht, wir lieben dich, verschlossener Ironiker! — Ha! Freunde! — Serapionsbrüder! — Die Gläser zur Hand, wir wollen ihn aufnehmen zum Ehrenmitglied unsers Serapionsklubs, auf die Brüderschaft anstoßen, und für keinen Frevel wird es der Humorist achten, wenn ich vor seinem Bildnis eine Libation vornehme, was weniges Punsch mit zierlicher Andacht auf meinen blankgewichsten Pariser Stiefel vergießend."

Die Freunde ergriffen die gefüllten Gläser, um zu tun, wie Vinzenz geheißen.

"Halt", rief Theodor dazwischen, "halt! vergönnt mir zuvor noch einige Worte. Fürs erste bitte ich euch, das psychische Problem, das ich vorhin in vielleicht zu grellen Farben aufstellte, keinesweges geradehin auf meinen Dichter anzuwenden. Denkt vielmehr daran, daß es mir darum zu tun war, euch recht lebhaft, recht eindringend zu zeigen, wie gefährlich es ist, über Erscheinungen in einem Menschen abzusprechen, deren tiefe psychische Motive man nicht kennt, ja wie herz- und gemütlos es scheint, den mit aberwitzigem Hohn, mit kindischer Verspottung zu verfolgen, der einer niederdrückenden Gewalt erlag, welcher man selbst vielleicht noch viel weniger widerstanden hätte. — Wer hebt den ersten Stein auf wider den, der wehrlos geworden, weil seine Kraft mit dem Herzblut fortströmte, das Wunden entquoll, die eigner Selbstverrat ihm geschlagen. — Nun! mein Zweck ist erreicht. Selbst euch, Lothar, Ottmar, Vinzenz, euch strengen unerbittlichen Richtern, ist es ganz anders zu Sinn geworden, als ihr meinen Dichter von Angesicht zu Angesicht erblicktet. — Sein Gesicht spricht wahr. In jener schönen Zeit, als er mir noch befreundet näherstand, mußte ich, was seinen Umgang betrifft, ihn für den gemütlichsten, liebenswürdigsten Menschen anerkennen, den es nur geben mag, und all die seltsamen phantastischen Schnörkel seiner äußern Erscheinung, seines ganzen Wesens, die er selbst mit feiner Ironie mehr recht ins Licht zu stellen als zu verbergen suchte, trugen nur dazu bei, daß er in der verschiedensten Umgebung, unter den verschiedensten Bedingnissen auf höchst anziehende Weise ergötzlich blieb. Dabei beseelte ihn ein tiefer, aus dem Innersten strömender Humor, in dem man den würdigen Landsmann Hamanns, Hippels, Scheffners wiederfand. — Nein, es ist nicht möglich, daß alle diese Blüten abgestorben sein sollten, angeweht von dem Gifthauch einer heillosen Betörung! —Nein! könnte sich jenes Bild beleben, säße der Dichter plötzlich hier unter uns, Geist und Leben ginge funkensprühend auf in seinem Gespräch wie sonst. — Mag ich die Dämmerung

geschaut haben, die den aufglühenden Tag verkündigt! — Mögen die Strahlen wahrer Erkenntnis stärker und stärker hervorbrechen, mag wiedergewonnene Kraft, frischer Lebensmut ein Werk erzeugen, das uns den Dichter in der reinen Glorie des wahrhaft begeisterten Sängers erblicken läßt, und sei dies auch erst am Spätabend seiner Tage. Und darauf, ihr Serapionsbrüder, laßt uns anstoßen in fröhlicher Hoffnung."

Die Freunde ließen die Gläser hell erklingen, indem sie einen Halbkreis um des Dichters Bild schlossen.

"Und", sprach Vinzenz, "und dann ist es ganz gleich, ob der Dichter Geheime-Sekretär oder Abbé oder Hofrat oder Kardinal oder gar der Papst selbst ist oder auch nur Bischof in partibus infidelium, zum Beispiel von Paphos."

Es ging dem Vinzenz wie gewöhnlich, er hatte, ohne es zu wollen, ohne eigentlich daran zu denken, der ernsthaften Sache ein Hasenschwänzchen angehängt. Die Freunde fühlten sich aber zu seltsam angeregt, um darauf sonderlich zu achten, sondern setzten sich stillschweigend wieder an den Tisch, während Theodor das Bild des Dichters in das Nebenzimmer zurücktrug.

"Ich hatte vor", sprach nun Sylvester, "euch heute eine Erzählung vorzulesen, deren Entstehung ich einem besonderen Zufall oder vielmehr einer besonderen Erinnerung verdanke. Es ist indessen so spät geworden, daß, ehe ich geendet, die Serapionsstunde längst vorüber sein müßte."

"Eben-", nahm Vinzenz das Wort, "ebenso geht es mir mit dem längst versprochenen Märchen, das ich hier wie ein liebes Schoßkind an meinen Busen gedrückt trage in der Seitentasche meines Fracks, dem gewöhnlichen Schmollwinkel aller zarten Geistesprodukte. Der Bengel hat sich an der nährenden Muttermilch meiner Phantasie dick und fett gesogen und ist dabei so vorlaut geworden, daß er bis zum Anbruch des Tages fortquäken würde, ließe ich ihn einmal zu Worte kommen. Darum soll er warten bis zum nächsten Serapionsklub. —Sprechen, ich meine konversieren, scheint heute gefährlich, denn ehe wir's uns versehen, sitzt wieder ein Heidenkönig

oder der Pater Molinos oder der Teufel oder sonst ein mauvais sujet unter uns und schwatzt allerlei verwirrtes und verwirrendes Zeug, und wer weiß, ob es dann Hamanns Landsmann wieder gelingen würde, den Filou wegzulächeln. Ist daher jemand von uns etwa eines Manuskripts mächtig, das Ergötzliches enthält, und vor allen Dingen von der Art, daß es mit einer Achtelselle guten Buchbinderzwirns zusammengeheftet werden könnte, so rücke er getrost damit hervor und lese."

"Erscheint", sprach Cyprian, "das, was einer von uns jetzt noch vortragen wollte, eigentlich nur als Lückenbüßer oder als andere Melodien einleitendes Zwischenspiel, so darf ich Mut fassen, euch eine Kleinigkeit mitzuteilen, die ich vor mehreren Jahren, als ich verhängnisvolle, bedrohliche Tage überstanden, niederschrieb. Das Blatt, das ich rein vergessen, fiel mir erst vor wenigen Tagen wieder in die Hände, und jene Zeit ging mir wieder auf in der hellsten Erinnerung. Ich glaube, daß der nächste Anlaß der chimärischen Dichtung bei weitem anziehender ist als die Dichtung selbst, und ich werde euch, wenn ich geendet, mehr darüber sagen." Cyprian las:


Erscheinungen

Gedachte man der letzten Belagerung von Dresden, so wurde Anselmus noch blässer, als er schon sonst war. Er faltete die Hände auf dem Schoß, er starrte vor sich hin, ganz verloren in trübe Gedanken, er grollte und murmelte sich selbst an: "Herr des Himmels! fuhr ich zur rechten Zeit in die neuen Klappstiefel hinein mit beiden Beinen, rannte ich, brennendes Stroh und berstende Granaten nicht achtend, schnell hinaus über die Brücke nach der Neustadt, so bog sich gewiß dieser, jener große Mann aus dem Kutschenschlage und rief, mir freundlich zuwinkend: ,Steigen Sie nur getrost ein, mein Guter!' Aber so wurd ich eingesperrt

in den verfluchten Hamsterbau von Wällen, Parapets, Sternschanzen, verdeckten Gängen und mußte Not und Elend ertragen wie einer. — Kam es denn nicht so weit, daß der müßige Magen, stieß er, zum Zeitvertreib in Roux' Dictionnaire blätternd, auf das Wort: Essen, ganz verwundert ausrief: ,Essen? was ist denn das?' — Leute, die sonst wohlbeleibt gewesen, knöpften ihr eignes Fell über als breiten Brustlatz und natürlichen Spenzer. — O Gott! wär nicht noch der Archivarius Lindhorst gewesen! —Popowicz wollte mich zwar totschlagen, aber der Delphin spritzte wunderbaren Lebensbalsam aus den silberblauen Nüstern. — Und Agafla!" — Bei diesem Namen pflegte Anselmus vom Stuhl aufzufahren, ein ganz klein wenig - zwei-, dreimal zu springen und sich dann wieder zu setzen. Es blieb ganz vergebens, den Anselmus zu fragen, was er eigentlich mit diesen verwunderlichen Redensarten und Grimassen meine, er sagte bloß: "Kann ich's denn erzählen, wie alles sich begab mit Popowicz und Agafla, ohne für närrisch gehalten zu werden?" Alle lächelten zweideutig, als wollten sie sagen: "Ei, Lieber: das geschieht ja schon ohnedem." — An einem trüben nebligen Oktoberabend trat Anselmus, den man fern glaubte, ganz unvermutet bei seinem Freunde zur Stubentür hinein. Er schien im tiefsten Gemüt aufgeregt, er war freundlicher, weicher als sonst, beinahe wehmütig, sein zuzeiten vielleicht gar zu wild herumfahrender Humor beugte sich gezähmt und gezügelt dem mächtigen Geist, der sein Innerstes erfaßt. — Es war ganz finster worden, der Freund wollte Lichter herbeischaffen, da sprach Anselmus, indem er den Freund bei beiden Armen ergriff: "Willst du mir einmal ganz zu Willen sein, so steck keine Lichter an, laß es bewenden bei dem matten Schein deiner Astrallampe, der dort aus jenem Kabinett zu uns herüberschimmert. Du kannst machen, was du willst - Tee trinken, Tabak rauchen, aber zerschmeiße keine Tasse und wirf mir keinen brennenden Fidibus auf die neue Weste. Beides könnte mich nicht allein kränken, sondern auch unnützerweise hineinlärmen in den Zaubergarten, wo ich nun heute einmal hineingeraten bin und mich sattsam erlustiere. — Ich setze mich hier ins Sofa!" — Er tat das. Nach einer ziemlich langen Pause fing er an: "Morgen früh um acht Uhr sind es gerade zwei Jahre her, als der Graf von der Lobau mit zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen aus Dresden auszog, um sich nach den Meißner Bergen hin durchzuschlagen -" — "Nun, das muß ich gestehen", rief der Freund laut lachend, "mit wahrer Andacht hab ich gewartet auf irgendeine himmlische Erscheinung, die deinem Zaubergarten entschweben würde, und nun! — Was geht mich der Gaf von der Lobau und sein Ausfall an? — und daß du es behalten hast, daß es gerade zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen waren! Seit wann kleben denn kriegerische Ereignisse fest in deinem Kopfe?" — "Ist dir denn", sprach Anselmus, "ist dir denn die so kurz vergangene verhängnisvolle Zeit schon so fremd geworden, daß du es nicht mehr weißt, wie das geharnischte Ungetüm uns alle erreichte und erfaßte? — Das ,Noli turbare' rettete uns nicht mehr vor eigner Gewaltanstrengung, und wir wollten nicht gerettet sein, denn in jedes Brust schnitt der Dämon tiefe Wunden, und, aufgereizt von wildem Schmerz, ergriff jedes Faust die ungewohnte Waffe, nicht nur zum Schutz, nein, zum Trutz, damit die heillose Schmach gebüßt und gerächt werde im Tode. — Lebendig gestaltet in Fleisch und Blut, tritt mich eben heute die Macht an, welche in jenen dunklen Tagen waltete und mich forttrieb von Kunst und Wissenschaft in das wilde blutige Getümmel. — War es mir denn möglich, am Schreibtisch sitzen zu bleiben? — Ich trieb mich auf den Gassen umher, ich lief den ausziehenden Truppen nach, soweit ich durfte, nur um selbst zu schauen und aus dem, was ich geschaut, Hoffnung zu schöpfen, erbärmliche prahlhafte Anschlagszettel und Nachrichten nicht achtend. Als nun vollends jene Schlacht aller Schlachten geschlagen war, als ringsumher alles hoch aufjauchzte im entzückenden Gefühl wiedergewonnener Freiheit, und wir noch gefesselt in Sklavenketten lagen, da wollte mir die Brust zerspringen. Es war mir, als müsse ich durch irgendeine entsetzliche Tat mir und allen, die mir gleich an die Stange gekettet, Luft und Freiheit verschaffen. — Es mag dir jetzt und so, wie du mich überhaupt zu kennen glaubst, abenteuerlich, spaßhaft vorkommen, aber ich kann es dir sagen, daß ich mich mit dem wahnsinnigen Gedanken trug: irgendein Fort, das der Feind, wie ich wußte, mit starken Pulvervorräten versehen, anzuzünden und in die Luft zu sprengen." — Der Freund mußte unwillkürlich ein wenig lächeln über den wilden Heroismus des friedfertigen Anselmus, der konnte das aber nicht bemerken, da es finster war, und fuhr, nachdem er einige Augenblicke geschwiegen, in folgender Art fort: "Ihr habt es ja alle oft gesagt, daß ein eigner Stern, der über mir waltet, mir in wichtigen Momenten fabelhaftes Zeug dazwischenschiebt, woran niemand glaubt und das mir selbst oft wie aus meinem eignen innern Wesen hervorgegangen erscheint, unerachtet es sich dann auch wieder außer mir als mystisches Symbol des Wunderbaren, das uns im Leben überall entgegentritt, gestaltet. — So ging es mir heute vor zwei Jahren in Dresden. — Der ganze Tag verstrich in dumpfer ahnungsvoller Stille, vor den Toren blieb alles ruhig, kein Schuß fiel. Spät abends, es mochte beinahe zehn Uhr sein, schlich ich nach einem Kaffeehause auf dem Altmarkt, wo in einem entlegenen Hinterstübchen, das keiner der verhaßten Fremden betreten durfte, gleichgesinnte Freunde sich einander in Trost und Hoffnung ermutigten. Dort war es, wo, allen Lügen zum Trotz, die wahren Berichte der Schlachten an der Katzbach, bei Kulm etc. mitgeteilt wurden, wo unser R. schon zwei Tage nachher den Triumph bei Leipzig verkündete, den er, Gott weiß, auf welche geheimnisvolle Art, erfahren. Mein Weg führte mich bei dem Brühlschen Palast, in welchem der Marschall wohnte, vorüber, und es fiel mir die ganz besonders helle Beleuchtung der Säle sowie das rege Getümmel im Flur des Hauses auf. Eben sagte ich dies den Freunden mit der Bemerkung, daß gewiß etwas bei dem Feinde im Werke sein müsse, als R. ganz erhitzt und außer Atem schnell eintrat. ,Hört das Neueste', fing er sogleich an: ,soeben hielt man bei dem Marschall großen Kriegsrat. Der General Mouton (Graf von der Lobau) will sich mit zwölftausend Mann und vierundzwanzig Kanonen nach Meißen hin durchschlagen. Morgen früh geschieht der Ausfall.' Vieles wurde nun hin und her geredet, und man pflichtete endlich R.s Meinung bei, daß dieser Anschlag, der bei der regen Wachsamkeit unserer Freunde draußen sehr leicht dem Feinde verderblich werden könnte, vielleicht früher den Marschall zur Kapitulation zwingen und unser Elend enden würde. ,Wie kann R. in demselben Augenblick des Beschlusses erfahren haben, was beschlossen worden', dachte ich, als ich um Mitternacht zurückkehren wollte in mein Haus, aber bald vernahm ich, wie es durch die Grabesstille der Nacht dumpf zu rasseln begann. Geschütz und Pulverwagen, reichlich mit Fourage bepackt, zogen langsam bei mir vorüber nach der Elbbrücke zu. ,R. hat doch recht', so mußt ich mir selbst sagen. Ich folgte dem Zuge und kam bis auf die Mitte der Brücke an den damals gesprengten Bogen, der durch hölzerne Gerüste ersetzt war. Von beiden Seiten des Gerüsts, hüben und drüben, befand sich auf der Brücke eine starke Verschanzung von hohen Palisaden und Erdwällen. Hier vor der Verschanzung drückte ich mich dicht an das Geländer der Brücke, um nicht bemerkt zu werden. Da war es mir, als finge eine der hohen Palisaden an, sich hin und her zu bewegen und sich herabzubeugen zu mir, dumpfe unverständliche Worte murmelnd. Die dicke Finsternis der neblichten Nacht ließ mich nichts deutlich erkennen, aber als nun das Geschütz vorüber und es totenstill auf der Brücke worden, als ich tiefe schwere Atemzüge, ein leises, ahnungsvolles Gewimmer dicht neben mir vernahm, als sich der dunkle Holzblock höher und höher aufrichtete, da überlief mich eiskaltes Grauen und, wie vom schweren Traum geängstet, vermochte ich, in Bleiangeln festgefußt, mich nicht zu regen. Der Nachtwind erhob sich und trieb den Nebel über die Berge, der Mond warf bleiche Strahlen durch die zerrissenen Wolken. Da gewahrte ich unfern von mir die Gestalt eines hohen Greises mit silberweißem Haupthaar und langem Bart. Er hatte den knapp über die Hüften reichenden Mantel in vielen dicken Falten um Brust und Schultern geworfen, einen weißen langen Stab hielt er, den nackten Arm weit vorgestreckt, über den Strom hinaus. Er war es, der so wimmerte und murmelte. In dem Augenblick sah ich von der Stadt her Gewehre blinken und hörte Tritte. Ein französisches Bataillon marschierte in tiefem Schweigen über die Brücke. Da kauerte der Alte nieder und fing an mit kläglicher Stimme zu jammern, indem er den Vorüberziehenden eine Mütze hinhielt, wie um Almosen bettelnd. Ein Offizier rief lachend: ,Voila St. Pierre, qui veut pêcher!', der ihm folgte, blieb stehen und sprach sehr ernst, indem er dem Alten Geld in die Mütze warf: ,Eh bien, moi pecheur, je lui aiderai a pêcher.' — Mehrere Offiziere und Soldaten, aus den Gliedern heraustretend, warfen nun still und nur manchmal leise aufseufzend, wie in banger Todeserwartung, dem Alten Geld hin, der dann jedesmal mit dem Kopf seltsam hin und her nickte und dabei ein dumpfes Geheul ausstieß. Endlich sprengte ein Offizier (ich erkannte den General Mouton) so dicht heran an den Alten, daß mir bangte, das schäumende Roß werde ihn zertreten, und fragte, indem er mit schneller Wendung nach dem Adjutanten hin sich den schwankenden Hut auf dem Kopfe festschlug, stark und wild: ,Qui est cet homme?' — Die Reiter, die ihm folgten, blieben alle still, aber ein alter bärtiger Sappeur, der außer Glied und Reihe mit der Axt auf der Schulter so nebenherschlenderte, sprach ruhig und ernst: ,C'est un pauvre maniaque bien connu ici. On l'appelle St. Pierre pecheur.' Damit wogte der Zug, nicht wie sonst wohl in faselndem Scherz und frechem Jubel, nein, in trüber Unlust die Brücke entlang vorüber. Sowie der letzte Ton verhallte, sowie der letzte Schein der Waffen in fernem Dunkel verblinkte, hob sich der Alte langsam in die Höhe und stand, das Haupt aufgerichtet, den Stab emporgestreckt, in grauenvoller Majestät da, als wolle er, ein wundertätiger Heiliger, den stürmenden Wellen gebieten. Mächtiger und mächtiger rauschten, wie aus tiefstem Grunde bewegt, die Wogen des Stroms. Es war mir, als vernahm ich mitten im Rauschen eine dumpfe Stimme. ,Michael Popowicz - Michael Popowicz - siehst du noch nicht den Feuermann?' — So tönte es von unten herauf in russischer Sprache. — Der Alte murmelte in sich hinein, er schien zu beten. Doch plötzlich schrie er laut auf: ,Agafla!', und in demselben Augenblick erglänzte sein Antlitz wie in blutrotem Feuer, das aus der Elbe herauf ihn anstrahlte. Auf den Meißner Bergen loderten mächtige flackernde Flammen hoch in die Lüfle, ihr Widerschein strahlte in der Elbe, in dem Antlitz des Greises. Nun fing es an ganz nahe bei mir am Gerüst der Brücke zu plätschern und zu plätschern, immer stärker und stärker, und ich gewahrte, wie eine dunkle Gestalt mühsam heraufkletterte und sich mit wunderbarer Gewandtheit über das Geländer hinüberschwang. — ,Agafla!' schrie der Alte noch einmal. — ,Mädchen, um des Himmels willen! — Dorothee, wie -' so fing ich an, aber in dem Augenblick fühlte ich mich umfaßt und mit Gewalt fortgezogen. ,0 um Jesus! — Sei doch nur stille, lieber Anselmus, du bist ja sonst des Todes!' lispelte die Kleine, die nun vor mir stand, zitternd und bebend vor Frost. Die langen schwarzen Haare hingen triefend herab, die ganz durchnäßten Kleider schlossen eng an den schlanken Leib. Sie sank nieder vor Mattigkeit und klagte leise: ,Ach, es ist drunten so kalt -sprich nur nichts mehr, lieber Anselmus, sonst müssen wir ja sterben!' — Der Feuerschein glühte in ihrem Gesicht, ja, es war Dorothee, das hübsche Bauermädchen, die sich, da ihr Dorf geplündert, ihr Vater erschlagen, zu meinem Hauswirt geflüchtet, der sie in seine Dienste genommen. ,Das Unglück hat sie ganz stupid gemacht, sonst wäre sie ein gutes Ding', pflegte mein Hauswirt zu sagen, und er hatte recht, denn außer dem, daß sie beinahe gar nicht und nur konfuses Zeug sprach, entstellte auch ein nichtssagendes unheimliches Lächeln das sonst wunderschöne Antlitz. Sie brachte mir jeden Morgen den Kaffee aufs Zimmer, und da bemerkte ich denn freilich, daß ihr Wuchs, ihre Farbe, ihre Haut durchaus sich nicht zur Bäuerin reimen wollten. ,Ei', pflegte mein Wirt dann weiter zu sagen, ,ei, Herr Anselmus, sie ist ja auch eines Pächters Tochter und noch dazu aus Sachsen.' — Als nun die Kleine triefend, bebend, halbentseelt vor mir mehr lag als kniete, da riß ich schnell meinen Mantel herab und hüllte sie ein, indem ich leise lispelte: ,Erwärme dich doch nur, ach, erwärme dich doch nur, liebe Dorothee! Du mußt ja sonst umkommen. — Aber was machst du auch im kalten Strom!' — ,Still doch nur', erwiderte die Kleine, indem sie den Kragen des Mantels, der ihr übers Gesicht gefallen, wegschlug und mit den Fingerchen die triefenden Haare zurückkämmte, ,still doch nur! — Komm auf jene steinerne Bank! — Vater spricht jetzt mit dem heiligen Andreas und hört uns nicht.' — Wir schlichen leise hin. Ganz erfaßt von den wunderbarsten Gefühlen, ganz übermannt von Graus und Entzücken, schloß ich die Kleine in meine Arme, sie setzte sich ohne Umstände auf meinen Schoß, sie schlang ihren Arm um meinen Hals, ich fühlte, wie das Wasser eiskalt aus ihren Haaren über meinen Nacken hinabrann, aber wie Tropfen, in flammendes Feuer hineingespritzt, die Glut nur vermehren, siedete stärker in mir Liebe und Verlangen. ,Anselmus', lispelte die Kleine, ,Anselmus, du bist doch wohl ein guter Mensch, du singst, daß es mir recht zu Herzen geht, und bist auch sonst manierlich. Du wirst mich nicht verraten. Wer sollte dir denn auch wohl Kaffee kochen? — Und höre! wenn ihr bald alle hungern werdet, wenn kein Mensch dich speisen wird, dann komm ich zu dir nachts ganz allein, daß es niemand weiß, und backe dir im Ofen recht schöne Piroggen - ich habe Mehl, feines Mehl versteckt in meinem Kämmerlein - dann wollen wir Hochzeitskuchen essen, so weiß und schön!' — Die Kleine lachte, aber dann fing sie an zu schluchzen: ,Ach, wie in Moskau! — O mein Alexei, mein Alexei, du schöner Delphin -schwimme — schwimme auf den Fluten, harrt denn deiner nicht die treue Braut?' — Sie neigte das Köpfchen, und leiser und leiser schluchzend und auf und nieder atmend wie in sehnsuchtsvollen Seufzern, schien sie einzuschlummern. Ich blickte nach dem Alten, der stand mit weit ausgespreizten Armen und sprach in tiefem hohlen Ton: ,Er winkt euch! — Er winkt euch, seht, wie mächtig er seines Flammenbarts feurige Locken schüttelt, wie er ungeduldig die Feuersäulen, auf denen er das Land durchwandelt, in den Boden stampft — hört ihr nicht seine stöhnenden Tritte, fühlt ihr nicht den belebenden Atem, der wie ein funkensprühender Heerrauch euch voraufzieht? — heran! — heran - ihr tüchtigen Brüder!' — Des Alten Worte waren anzuhören wie das dumpfe Brausen der heranziehenden Windsbraut, und indem er sprach, flackerte immer lebendiger und höher das Feuer auf den Meißner Bergen. ,Hilf, heiliger Andreas, hilf!' stöhnte die Kleine im Schlaf, dann fuhr sie auf, wie plötzlich schreckhaft berührt, und indem sie mich fester mit dem linken Arm umschlang, raunte sie mir ins Ohr: ,Anselmus, ich will dich doch lieber ermorden!' Ich sah in ihrer Rechten ein Messer blinken. — Entsetzt stieß ich sie zurück, indem ich laut aufschrie: ,Rasende, was beginnst du?' — Da kreischte sie auf: ,Ach, ich kann es ja doch nicht tun - aber jetzt bist du verloren.' — In demselben Augenblick schrie der Alte: ,Agafla! mit wem sprichst du?', und ehe ich mich besinnen konnte, stand er dicht vor mir und führte mit hochgeschwungenem Stabe einen entsetzlichen Schlag, der mein Haupt zerschmettert haben würde, hätte mich Agafla nicht von hinten erfaßt und schnell fortgerissen. Der Stab zersplitterte auf dem Steinpflaster in tausend Stücke, der Alte sank in die Knie! — ,Allons! — Allons!' erscholl es von allen Seiten; ich mußte mich aufraffen und schnell auf die Seite springen, um nicht von aufs neue heranziehenden Kanonen und Pulverwagen gerädert zu werden. Andern Morgens trieben die Russen den übermütigen Heerführer mit Schmach herab von den Bergen und hinein in die Schanzen. — ,Es ist eigen', sagte man, ,daß die Freunde draußen von dem Vorhaben des Feindes wußten, denn das Signalfeuer auf den Meißner Bergen zog die Truppen zusammen, um mit voller Kraft da widerstehen und siegen zu können, wo der Feind den unerwarteten Hauptstreich auszuführen gedachte.' — Dorothee brachte mir mehrere Tage hintereinander nicht den Kaffee. Ganz erblaßt vor Schrecken, erzählte mir der Hauswirt, daß er Dorotheen und den wahnsinnigen Bettler von der Elbbrücke mit starker Wache aus dem Hause des Marschalls nach der Neustadt führen gesehen!" — "0 Herr des Himmels! — sie wurden erkannt und hingerichtet!" rief hier der Freund aus; aber Anselmus lächelte seltsam und sprach: "Agafla wurde gerettet, aus ihren Händen empfing ich, als die Kapitulation geschlossen, ein schönes weißes Hochzeitsbrot, das sie selbst gebacken!"

Mehr war aus dem störrischen Anselmus von dieser wunderlichen Begebenheit nicht herauszubringen.



"Du hast", sprach Lothar, als Cyprian geendet, "du hast uns auf den Anlaß deiner Dichtung verwiesen, der anziehender sein soll als diese, eben diesen Anlaß halte ich daher für einen integrierenden Teil der Dichtung selbst, ohne den sie nicht bestehen kann. Füge also dein Warum und Weswegen nur gleich als tüchtige Note hinzu."

"Findet ihr", nahm Cyprian das Wort, "findet ihr es denn nicht ebenso seltsam als merkwürdig, daß alles, was ich euch vorlas, bis auf den kleinen phantastischen Zusatz buchstäblich wahr ist und daß selbst dieser auch seinen Keim in der Wirklichkeit findet?" "Wie, was sagst du?" riefen die Freunde durcheinander. "Fürs erste", sprach Cyprian weiter, "wißt ihr alle, daß mich wirklich das Schicksal traf, das ich den fabelhaften Anselmus als das seinige erzählen ließ. Eine Verspätung

von zehn Minuten entschied mein Schicksal, ich wurde eingesperrt in das bald von allen Seiten hart belagerte Dresden. Wahr ist's, daß nach der Leipziger Schlacht, als mit jedem Tage unser Schicksal beängstigender, drückender wurde, Freunde oder vielmehr Bekannte, die ein gleiches Los, gleicher Sinn einander nähergebracht hatte, sich wie die Jünger zu Emmaus am späten Abend in dem Hinterstübchen eines Kaffeehauses versammelten. Der Wirt hieß Eichelkraut, war ein fester gerader Mann, verhehlte ganz und gar nicht seinen entschiedenen Franzosenhaß und wußte die fremden Gäste, die ihn besuchten, in Respekt, ja, was noch mehr sagen will, sich ganz vom Leibe zu halten. In jenes Stübchen durfte nun vollends gar kein Franzmann eindringen, und gelang es zufällig einem, hineinzuschlüpfen, so bekam er, er mochte bitten, fluchen, wie er wollte, durchaus nichts an Speise und Trank. Und dabei herrschte eine tiefe Totenstille, und alle bliesen mit angestrengter Kraft dicke Tabakswolken aus den Pfeifen, so daß bald ein erstickender Dampf das kleine Zimmer erfüllte und der Franzose im eigentlichsten Sinn des Worts weggeräuchert wurde wie eine Wespe, wirklich auch wie diese brummend und summend durch die Türe abfahrend. — Dann wurde der Qualm durch die Fenster gelassen, und man kam wieder in Ruhe und Behaglichkeit. Ein sehr gemütlicher, liebenswürdiger Dichter, der sonst mit seinen Kapitelchen die Lesewelt fütterte wie mit würzhaften Bonbons, war die Seele dieses heimlichen und heimischen Klubs, und mit Vergnügen erinnere ich mich noch der Augenblicke, wenn wir, auf den obersten Boden des Hauses gestiegen, durch das kleine Dachfenster hinausschauten in die Nacht und ringsumher die Wachtfeuer der Belagerer aufleuchten sahen; wenn wir dann uns selbst noch allerlei Wunderliches vorfabelten, das in dem rätselhaften Schimmer des Mondes und jener Feuer uns aufgehen wollte, und dann den unten harrenden Freunden all die Wunderdinge erzählten, die wir geschaut. — Wahr ist's, daß in einer Nacht einer von uns (ein Advokat), der, mag der Himmel wissen, aus welchen Quellen, immer die schnellsten und gewissesten Nachrichten hatte, zu uns hineintrat und uns von dem eben im Kriegsrat beschlossenen Ausfall des Grafen von der Lobau gerade so erzählte, wie ich es euch vorlas. Wahr ist es, daß ich dann, als ich, mitternachts nach Hause zurückkehrend, auf der Straße mit Fourage bepacktem Geschütz begegnete, als die französischen Bataillone im dumpfen Schweigen sich sammelten (es wurde kein Generalmarsch geschlagen), als sie über die Brücke zu marschieren begannen, nicht länger an der Richtigkeit jener Nachricht zweifeln konnte. Wahr ist es endlich, daß auf der Brücke ein greiser Bettler lag, den ich mich nicht erinnern konnte vorher in Dresden gesehen zu haben, und die vorüberziehenden Franzosen anbettelte. — Wahr ist es endlich und zugleich das Allerwunderbarste, daß, als ich, mit aufgeregtem Gemüt in meiner Wohnung angekommen, auf den obersten Boden kletterte und hinausschaute, ich auf den Meißner Bergen ein Feuer gewahrte, das ebensowenig ein brennendes Gebäude als ein Wachtfeuer sein konnte. Hoch auf loderte pyramidalisch eine Flamme, die nicht abnahm, nicht zunahm, und ein Bekannter, der in demselben Hause wohnte und mit mir heraufgestiegen war, versicherte, die Flamme müsse ein Signalfeuer sein. Der Erfolg lehrte, daß die Russen durchaus von dem Ausfall, der am andern Morgen stattfinden sollte, schon in der Nacht unterrichtet sein mußten, denn gerade auf den Meißner Bergen hatten sie zum Teil sehr entfernt liegende Bataillone herangezogen, ihre Kraft auf diese Weise konzentriert, und es war vorzüglich russische Landwehr, die nach kurzem Kampf die französischen Bataillone von den Meißner Bergen hinabjagte, als wenn der Sturm über ein Stoppelfeld braust. Als der Überrest der Korps die Schanzen erreicht, zogen sich die Russen ruhig in ihre Stellung zurück. Also in demselben Augenblick, als der Kriegsrat bei Gouvion St.- Cyr gehalten wurde, erfuhren oder, noch wahrscheinlicher, hörten den Beschluß selbst an Leute, die keinesweges dazu berufen. Merkwürdig genug wußte der Advokat jedes Detail der gepflegten Beratung, sowie vorzüglich, daß Gouvion anfangs gegen den Ausfall gewesen und nur nachgegeben, um nicht einer Mutlosigkeit beschuldigt zu werden, da, wo es einen kühnen Entschluß galt. Der Graf von der Lobau hatte sich übrigens durchschlagen und zur Armee des Kaisers stoßen wollen. — Wie erfuhren aber die belagernden Truppen so schnell - in dem Zeitraum einer Stunde - den Anschlag? — Außerdem daß, da die eng verschanzte Brücke unbemerkt zu passieren unmöglich, der Strom durchschwommen, daß die Schanzen und Wälle durchschlichen werden mußten, war ganz Dresden in beträchtlicher Ausdehnung dicht verpalisadiert und mit Wachen umstellt. Wie war es irgendeinem Menschen möglich, in ganz kurzer Zeit alle diese Hindernisse zu überwinden und ins Freie zu kommen? — Man möchte an telegraphische Zeichen denken, die von irgendeinem hohen Hause oder von einem Turm in Dresden mittelst angezündeter Lichter gegeben wurden. Aber wie schwürig ist auch dies und gefährlich obenein, da diese Zeichen so leicht bemerkt werden konnten. —Genug! — es bleibt unbegreiflich, wie sich das begeben konnte, was sich wirklich begab, und das ist genug, um eine lebhafte Einbildungskraft zu allerlei geheimnisvollen und genugsam abenteuerlichen Hypothesen zu entzünden."

"Ich beuge", sprach Lothar lächelnd, "ich beuge in tiefer Ehrfurcht meine Knie vor dem heiligen Serapion und vor dem vortreiflichsten seiner Jünger und bin überzeugt, daß eine serapiontische Erzählung der gewaltigen Kriegsbegebenheiten, die derselbe geschaut hat nach seiner Weise, ungemein anziehend, dabei aber sehr lehrreich für phantastische Militärs sein müßte. — Ich wette, die Sache mit dem Ausfall, könnte man ihr auf den Grund kommen, begab sich ganz einfach und natürlich. Doch deines Wirts Hausmädchen, die hübsche Dorothee, mußte in den Strom als verfänglicher Nix?"

"Spotte nicht", erwiderte Cyprian sehr feierlich, "spotte

nicht, Lothar, noch steht mir das holde Mädchen - das lieblich furchtbare Geheimnis, ja anders kann ich nicht sagen, was sie war, vor Augen! — Ich war es, der den Hochzeitskuchen empfing! — Strahlend im Schmuck blitzfunkelnder Diamanten -im reichen Zobelpelz -"

"Hört, hört", rief Vinzenz, "da haben wir's! — Sächsisches Hausmädchen - russische Prinzessin - Moskau - Dresden! — hat Cyprian nicht immer von einer gewissen Zeit, die er unmittelbar nach dem ersten französischen Feldzuge verlebt, in gar geheimnisvollen Worten und Andeutungen gesprochen? — Nun kommt's heraus - rede - laß ausströmen dein volles Herz, mein cyprianischer Serapion und serapiontischer Cyprian! —rede, sprich - du mußt reden, du mußt durchaus reden!"

"Und wenn", erwiderte Cyprian plötzlich verdüstert und in sich gekehrt, "und wenn ich nun schwiege? und wenn ich nun schweigen müßte? —und ich werde schweigen!"

Die letzten Worte sprach Cyprian mit seltsam erhobenem Ton, indem er nach seiner gewohnten Art, wenn er tief bewegt war, sich zurücklehnte in den Stuhl und die Decke anstarrte.

Die Freunde sahen sich schweigend an mit bedenklichen Mienen.

"Es ist", begann Lothar endlich, "es ist nun heute einmal mit unserm Serapionsklub ein verzwicktes Wesen und alles Bestreben, zu irgendeiner gemütlichen Freudigkeit zu gelangen, umsonst. — Musik wollen wir machen - erschrecklich singen irgendwas Tolles!"

"Recht", rief Theodor, indem er das Pianoforte öffnete, "laßt uns singen, und wenn es auch kein Kanon ist, der, wie Junker Tobias vorschlägt, einem Leinweber drei Seelen aus dem Leibe haspeln kann, so soll es doch toll genug sein, um dem Signor Capuzzi und seinen Kumpanen Ehre zu machen. — Laßt uns aus dem Stegreif ein italienisches Terzetto buffo aufführen. Ich nehme die Partie der Liebhaberin und fange an, Ottmar singt den Liebhaber, und dann

mag Lothar als komischer Alter dreinfahren und in kurzen Noten toben und schmalen."

"Aber die Worte, die Worte", sprach Ottmar. — "Singt, was ihr wollt", erwiderte Theodor: "Oh dio! addio mia vita

"Nein, nein", rief Vinzenz, "soll ich nicht mitsingen, unerachtet ich ein göttliches Talent in mir verspüre, dem bloß das Organ der Catalani fehlt, um sich mit drastischer Wirkung kundzutun, so laßt mich wenigstens euer Versifex, euer Hofpoet sein und empfangt hier das Opernbuch aus meinen Händen!"

Vinzenz hatte auf Theodors Schreibtisch den "Indice de' teatrali spettacoli" von 1791 gefunden, den er Theodorn überreichte.

Dieser Indice, so wie alle übrigen, die jahraus, jahrein in Italien erscheinen, enthielt nichts als die Namenverzeichnisse der gegebenen Opern, der Komponisten, Dekorateurs, Sänger und Sängerinnen. Man schlug das Theater von Mailand auf und kam darin überein, daß die Geliebte die Namen der Sänger mit untermischten Oh-dio's und Ah-cielo's, der Liebhaber die Namen der Sängerinnen auf dieselbe Weise absingen, der komische Alte aber sehr erzürnt mit den Titeln der gegebenen Opern und Scheltworten dazwischen losbrechen sollte.

Theodor spielte ein Ritornell nach Zuschnitt, Form und Wesen, wie sie sich zu Hunderten in der Opera buffa der Italiener befinden, und begann dann in ungemein süßer zärtlicher Melodie: "Lorenzo Coleoni, Gaspare Rossari - oh dio - Giuseppo Marelli - Francesco Sedini" etc. Darauf Ottmar: "Giuditta Paracca, Teresa Ravini - Giovanna Velati - oh dio" etc. Darauf aber Lothar, in lauter Achtelnoten hintereinanderweg gestoßen: ,Le Gare generöse' del Maestro Paesiello - che vedo -,La Donna di spirito' de! Maestro Mariello - briconaccio - ,Pirro Re di Epiro' maledetti - de! Maestro Zingarelli" etc.

Der Gesang, den Lothar und Ottmar mit gehöriger Gestikulation

begleiteten, während Vinzenz der Rolle Theodors die allerpossierlichsten Gesten hinzufügte, die man nur sehen konnte, erhitzte die Freunde immer mehr. In einer Art von komischer Wut der Begeisterung faßte eines des andern Sinn und Gedanken; alle Gänge, Imitationen und so weiter, wie sie in derlei Kompositionen vorzukommen pflegen, wurden auf das genaueste ausgeführt, so daß jemand, den der Zufall herbeigeführt, wohl nicht leicht hätte ahnen können, er höre Musik aus dem Stegreife, mußte ihm auch das tolle Durcheinander der Namen gar befremdlich vorkommen.

Immer stärker und ausgelassener tobte alle italienische Rabbia, bis, wie man denken kann, das Ganze sich mit einem unmäßigen Gelächter schloß, in das auch Cyprian einstimmte.

Die Freunde schieden diesmal mehr gewaltsam aufgeregt zu toiler Lust als im Innern wahrhaft gemütlich froh, wie es sonst wohl geschehen.


Achter Abschnitt

Die Serapionsbrüder hatten sich wiederum versammelt.

"Sehr irren", sprach Lothar, "sehr irren müßt ich und überhaupt gar nicht der geübte, geniale Physiognomiker sein, der ich wirklich bin, wenn ich nicht aus jedem von unsern Gesichtern, das meinige, das ich soeben magisch schimmernd im Spiegel erblickt, nicht ausgenommen, mit Leichtigkeit herausbuchstabieren sollte, daß wir alle vieles im Sinn tragen und jeder nur auf das Kommandowort harret, um sogleich loszufeuern. Ich fürchte, daß vielleicht auch heute dieser, jener in diesem, jenem verschlossene exzentrische Sprühteufel aufsteigen, knisternd und knallend umherfahren und dann erst zu spät sich durchs Fenster davonmachen könnte, wenn er uns alle bereits erklecklich angesengt; ich fürchte sogar einen Nachtrag zum neulichen Gespräch, den der heilige Serapion von uns abwenden möge! Damit wir aber keinesfalls sogleich in wilde stürmende Wogen hineingeraten, sondern unsere serapiontische Sitzung fein ruhigen Geistes beginnen mögen, schlage ich vor, daß Sylvester uns sogleich die Erzählung vorlese, zu deren Mitteilung neulich die Zeit nicht mehr hinreichen wollte."

Die Freunde waren mit Lothars Vorschlag einverstanden.

"Mein Gespinst", sprach Sylvester, indem er einige Blätter hervorzog, "mein Gespinst besteht diesmal aus mancherlei Faden von gar verschiedener Farbe, und es wird darauf

ankommen, ob ihr dennoch dem Ganzen Ton und Haltung zugestehen wollt. Einem ursprünglich, wie ich zugestehen will, etwas magern Stoff glaubte ich dadurch mehr Fleisch und Blut zuzuwenden, daß ich aus einer großen verhängnisvollen Zeit Gebilde herbeiholte, deren Rahmen das nun eigentlich nur ist, was als sich in dem Augenblick begebend dargestellt wird." Sylvester las:

Der Zusammenhang der Dinge



Im Weltsystem bedingter Fall über eine Baumwurzel. Mignon und der Zigeuner aus Lorca nebst dem General Palafox. Erschlossenes Paradies bei dem Grafen Walther Puck

"Nein", sprach Ludwig zu seinem Freunde Euchar, "nein, es gibt gar keinen solchen ungeschlachten tölpischen Begleiter der holden Glücksgöttin, der radschlagend die Tische umwirft, die Tintenflaschen zerbricht, dem Präsidenten, in den Wagen hineinpolternd, Kopf und Arm verletzt, wie Herr Tieck, der mit Vornamen so wie ich Ludwig geheißen, ihn in dem Prolog zum Zweiten Teil des ,Fortunat' aufzustellen beliebt hat. Nein, es gibt keinen Zufall. Ich bleibe dabei, das ganze Weltsystem mit allem, was sich darin begibt, der ganze Makrokosmus gleicht einem großen, künstlich zusammengefügten Uhrwerk, das augenblicklich stocken müßte, sobald es irgendeinem fremden willkürlosen Prinzip vergönnt wäre, auch nur das kleinste Rädchen feindlich zu berühren." — "Ich weiß nicht", erwiderte Euchar lächelnd, "ich weiß nicht, Freund Ludwig, wie du auf einmal zu dieser fatalen, längst veralteten mechanistischen Idee kommst und Goethes schönen Gedanken vom roten Faden, der sich durch unser Leben zieht und an dem wir, ihn in lichten Augenblicken gewahrend, den über uns, in uns waltenden höheren Geist erkennen, so entstellen darfst." — "Das

Gleichnis", sprach Ludwig weiter, "das Gleichnis ist mir anstößig, weil es von der englischen Marine entnommen. Durch das kleinste Tau ihrer Schiffe, ich weiß es ja eben aus Goethes ,Wahlverwandtschaften', zieht sich ein roter Faden, der es als Staatseigentum bezeichnet. Nein, nein, mein lieber Freund! Alles, was sich begibt, ist von Ursprung an als notwendig bedingt, eben weil es sich begibt, und das ist der Zusammenhang der Dinge, auf dem das Prinzip alles Seins, des ganzen Lebens beruht! — Da man nämlich -" In dem Moment -

Doch es ist nötig, dem geneigten Leser zuvörderst zu sagen, daß beide, Ludwig und Euchar, also miteinander redend, durch einen Laubgang des schönen Parks vor W. lustwandelten. Es war Sonntag. Die Dämmerung begann einzubrechen, der Abendwind strich säuselnd durch die Büsche, die, sich von der Glut des Tages erholend, aufatmeten in leisen Seufzern; durch den ganzen Wald ertönten lustig die frohen Stimmen geputzter Bürgersleute, die sich hinausgemacht und, bald ins blumichte Gras hingelagert, ein mäßiges Abendbrot verzehrten, bald in dieses, in jenes der zahlreichen Wirtshäuser eingekehrt, sich nach den Kräften des Gewinns der Woche etwas mehr zugute taten.

In dem Moment also, da Ludwig weiterreden wollte über die tiefsinnigen Lehren vom Zusammenhang der Dinge, stolperte er über eine dicke Baumwurzel, die er, brillbewaffnet, wie er war, doch übersehen, und fiel der Länge nach zur Erde nieder. "Das lag im Zusammenhang der Dinge; schlugst du nicht schmählich hin, so ging die Welt unter im nächsten Augenblick." So sprach Euchar ernsthaft und gelassen, hob Stock und Hut des Freundes auf, beides war ihm beim Fall entflogen, und reichte ihm die Hand zum Aufstehen. Ludwig fühlte aber das rechte Knie so verletzt, daß er zu hinken genötigt, und dabei blutete die Nase heftig genug. Dies bewog ihn, dem Rate des Freundes zu folgen und einzukehren in das nächste Wirtshaus, unerachtet er sonst dergleichen, vorzüglich an Sonntagen, sorgfältig vermied,

da ihm der Jubel der sonntäglichen Bürgerwelt eine seltsame innere Ängstlichkeit einflößte, als befinde er sich an einem Orte, der nicht recht geheuer, wenigstens für Leute seinesgleichen.

Auf dem mit Bäumen besetzten Rasen vor dem Hause hatten die Gäste einen dichten bunten Kreis geschlossen, aus dessen Mitte die Töne einer Chitarre und eines Tambourins erklangen. Das Schnupftuch vor dem Gesicht, vom Freunde geführt, hinkte Ludwig hinein in das Haus und bat so kläglich um Wasser und um ein geringes etwas von Weinessig, daß die erschrockene Wirtin ihn in den letzten Zügen glaubte. Während er mit dem Verlangten bedient wurde, schlich Euchar, auf den Chitarren- und Tambourintöne einen mächtigen unwiderstehlichen Zauber übten, man wird erfahren, warum, hinaus und suchte in den geschlossenen Kreis zu kommen. Euchar gehörte zu den wenigen hochbeglückten Lieblingen der Natur, denen ihr äußeres Ansehen, ihr ganzes Wesen überall freundliches Zuvorkommen verschafft, und so geschah es denn auch, daß einige Handwerksbursche, sonst eben nicht am Sonntage zu graziöser Höflichkeit aufgelegt, als er fragte, was sich in dem Kreise begebe, sogleich Platz machten, damit er nur auch das kleine närrische Ding schauen könne, das so hübsch und so künstlich spiele und tanze. Nun tat sich vor Euchar ein Schauspiel auf, das, seltsam und anmutig zugleich, seinen ganzen Sinn gefangennahm.

In der Mitte des Kreises tanzte ein Mädchen mit verbundenen Augen zwischen neun Eiern, die zu drei und drei hintereinander auf dem Boden lagen, den Fandango, indem sie das Tambourin dazu schlug. Zur Seite stand ein kleiner verwachsener Mensch mit einem häßlichen Zigeunergesicht und spielte die Chitarre. Die Tänzerin schien höchstens fünfzehn Jahre alt, sie ging fremdartig gekleidet, im roten, goldstaffierten Mieder und kurzen weißen, mit bunten Bändern besetzten Rock. Ihr Wuchs, jede ihrer Bewegungen war die Zierlichkeit, die Anmut selbst. Sie wußte dem Tambourin, das sie bald hoch über dem Kopfe, bald mit in malerischer

Stellung ausgestreckten Armen seitwärts, bald vor sich hin, bald hinter dem Rücken hielt, wunderbar mannigfaltige Töne zu entlocken. Zuweilen glaubte man den dumpfen Ton einer in weiter Ferne angeschlagenen Pauke, dann das klagende Girren der Turteltauben, dann wieder das Brausen des nahenden Sturmes zu vernehmen; dazu erklangen die wohlgestimmten hellen Glöckchen gar lieblich. Der kleine Chitarrist gab dem Mädchen in der Virtuosität des Spiels nichts nach, denn auch er wußte sein Instrument auf ganz eigene Weise zu behandeln, indem er die eigentümliche Melodie des Tanzes bald klar und kräftig hervortreten, bald, indem er nach spanischer Weise mit der ganzen Hand über die Saiten fuhr, verrauschen ließ, bald volle helle Akkorde anschlug. Immer stärker und mächtiger sauste und brauste das Tambourin, rauschten die Saiten der Chitarre, immer kühner wurden die Wendungen, die Sprünge des Mädchens; haardicht bei den Eiern setzte sie zuweilen fest und bestimmt den Fuß auf, so daß die Zuschauer oft sich eines lauten Schreies nicht erwehren konnten, meinend, nun sei eines von den zerbrechlichen Dingern zerstoßen. Des Mädchens schwarze Locken hatten sich losgenestelt und flogen im wilden Tanz um ihr Haupt, so daß sie beinahe einer Mänade glich. "Endige!" rief ihr der Kleine auf spanisch zu. Da berührte sie tanzend jedes der Eier, so daß sie in einen Haufen zusammenrollten; dann aber, mit einem starken Schlag auf das Tambourin, mit einem mächtigen Akkord der Chitarre, blieb sie plötzlich stehen wie festgezaubert. Der Tanz war geendet.

Der Kleine trat hinzu und löste ihr das Tuch von den Augen, sie nestelte ihr Haar auf, nahm das Tambourin und ging mit niedergeschlagenen Augen im Kreise umher, um einzusammeln. Niemand hatte sich weggeschlichen, jeder legte mit vergnügter Miene ein Stück Geld auf das Tambourin. Bei Euchar ging sie vorüber, und als er sich hinzudrängte, um ihr auch etwas zu geben, lehnte sie es ab. "Warum willst du von mir nichts annehmen, Kleine?" fragte

Euchar. Das Mädchen schaute auf, und durch die Nacht schwarzer seidener Wimper blitzte der glühende Blick der schönsten Augen. "Der Alte", sprach sie ernst, beinahe feierlich, mit tiefer Stimme und fremdem Akzent, "der Alte hat mir gesagt, daß Sie, mein Herr, erst dann kamen, als die beste Hälfte meines Tanzes vorüber, und da darf ich nichts nehmen." Damit machte sie dem Euchar eine zierliche Verbeugung und wandte sich zu dem Kleinen, dem sie die Chitarre abnahm und ihn an einen entfernten Tisch führte. Als Euchar hinblickte, gewahrte er Ludwig, der nicht weit davon zwischen zwei ehrsamen Bürgersleuten saß, ein großes Glas Bier vor sich stehen hatte und ihm ängstlich zuwinkte. Euchar ging hinan und rief lachend: "Nun, Ludwig, seit wann ergibst du dich denn dem schnöden Biertrinken?" Aber Ludwig winkte ihm zu und sprach mit bedeutendem Ton: "Wie kannst du nur so etwas reden? Das schöne Bier gehört zu den edelsten Getränken, und ich liebe es über alle Maßen, wenn es so vortreiflich gebraut wird als eben hier."

Die Bürger standen auf, Ludwig begrüßte sie mit ungemeiner Höflichkeit und zog ein süßsaures Gesicht, als sie ihm beim Weggehen, nochmals den gehabten Unfall bedaurend, treuherzig die Hände schüttelten. "Immer", begann nun Ludwig, "immer bringst du mich mit deinem unbedachtsamen Wesen in unnütze Gefahr! Ließ ich mir nicht ein Glas Bier geben, würgte ich nicht das schnöde Getränk hinunter, konnten das nicht die handfesten Meister übelnehmen, grob werden, mich als einen Ungeweihten hinauswerfen? Und nun bringst du mich, nachdem ich so geschickt meine Rolle gespielt, doch in Verdacht!" — "Ei", erwiderte Euchar lachend, "wärst du hinausgeworfen oder gar was weniges abgeprügelt worden, hätte das nicht im Zusammenhang der Dinge gelegen? Doch höre, welch hübsches Schauspiel mir dein im Makrokosmus bedingter Sturz über die Baumwurzel verschafft hat."

Euchar erzählte von dem anmutigen Eiertanz des kleinen

spanischen Mädchens. — "Mignon!" rief Ludwig begeistert, "himmlische, göttliche Mignon!"

Gar nicht weit von den Freunden saß der Chitarrist und zählte emsig das eingenommene Geld, während das Mädchen vor dem Tische stand und eine Apfelsine in ein Glas Wasser ausdrückte. Der Alte strich endlich das Geld zusammen und nickte der Kleinen zu mit vor Freude funkelnden Blicken, die aber reichte dem Alten das bereitete Getränk hin, indem sie ihm die runzlichten Wangen streichelte. Ein widriges meckerndes Gelächter schlug der Alte auf und schlürfte den Trank ein mit durstigen Zügen. Die Kleine setzte sich hin und klimperte auf der Chitarre. — "0 Mignon!" rief Ludwig von neuem, "göttliche, himmlische Mignon! — Ja, ich rette sie, ein zweiter Wilhelm Meister, aus den Händen des heimtückischen Bösewichts, dem sie dienstbar!" —"Woher", sprach Euchar ruhig und gelassen, "woher weißt du, daß jener kleine Buckelmann ein heimtückischer Bösewicht ist?" —"Kalter Mensch", erwiderte Ludwig, "kalter Mensch, den nichts ergreift, der nichts auffaßt, der keinen Sinn hat für das Geniale, Phantastische. Siehst du, gewahrst du denn nicht, wie aller Hohn, aller Neid, alle Bosheit, der schmutzigste Geiz aus den kleinen grünen Katzenaugen der zigeunerischen Mißgeburt herausblitzt, sich aus den Runzeln des unheimlichen Antlitzes herausfältelt? —Ja, ich rette es - ich rette es aus den satanischen Fäusten des braunen Unholds, das liebe Kind! — Könnt ich nur reden mit der kleinen Huldin!" — "Nichts ist leichter ins Werk zu stellen als das", sprach Euchar und winkte das Mädchen herbei.

Sofort legte die Kleine das Instrument auf den Tisch, näherte und verbeugte sich dann mit züchtig niedergesenktem Blick. "Mignon!" rief Ludwig wie außer sich selbst, "Mignon, holde süße Mignon!" — "Sie nennen mich Emanuela", sprach das Mädchen. "Und der abscheuliche Kerl dort", sprach Ludwig weiter, "wo hat er dich Ärmste geraubt, wo hat er dich in seine verfluchten Schlingen verlockt?" —

"Ich verstehe", erwiderte die Kleine, indem sie die Augen aufschlug und Ludwig mit ernstem Blick durchstrahlte, "ich verstehe Euch nicht, mein Herr, ich weiß nicht, was Ihr meint, warum Ihr mich so fragt." —"Du bist Spanierin, mein Kind", begann Euchar. "Jawohl", erwiderte das Mädchen mit zitternder Stimme, "jawohl bin ich das, Ihr seht, Ihr hört mir's wohl an, und da mag ich es nicht leugnen." — "So", sprach Euchar weiter, "so spielst du auch Chitarre und vermagst ein Lied zu singen?" Das Mädchen hielt die Hand vor die Augen und lispelte kaum hörbar: "Ach, ich möcht euch, meine lieben Herren, wohl eins vorspielen und vorsingen, aber meine Lieder sind glühend heiß, und hier ist es so kalt — so kalt!" — "Kennst du", sprach nun Euchar auf spanisch mit erhöhter Stimme, "kennst du das Lied: ,Laure l'immortal'?" Das Mädchen schlug die Hände zusammen, hob den Blick gen Himmel, Tränen perlten in ihren Augen, stürzte fort, riß die Chitarre vom Tisch, flog mehr, als sie ging, zu den Freunden zurück, stellte sich vor Euchar und begann:
 "Laure  l'immortal  al  gran  Palafox,
Gloria de Espana, de Francia terror!" etc.


In der Tat, unbeschreiblich zu nennen war der Ausdruck, mit dem die Kleine das Lied vortrug. Aus dem tiefsten Todesschmerz flammte glühende Begeisterung auf, jeder Ton schien ein Blitz, vor dem jede Eisdecke Zerspringen mußte, die sich über die erkaltete Brust gelegt. Ludwig wollte vor lauter Entzücken, wie man zu sagen pflegt, aus der Haut fahren. Er unterbrach den Gesang des Mädchens durch überlaute Bravas, Bravissimas und hundert ähnliche Ausrufungen des Beifalls. "Habe", sprach Euchar zu ihm, "habe die Gnade, mein Gönner, und halt jetzt ein wenig das Maul!" — "Ich weiß es schon", erwiderte Ludwig mürrisch, "daß Musik dich unempfindlichen Menschen ganz und gar nicht zu rühren vermag", tat aber übrigens, wie ihm Euchar geheißen.

Das Mädchen lehnte sich, als das Lied geendet, ermattet

an einen nahe stehenden Baum, und indem sie die Akkorde fortsäuseln ließ, bis sie im Pianissimo verhauchten, fielen große Tränen auf das Instrument!

"Du bist", sprach Euchar mit dem Tone, der nur aus tief bewegter Brust zu kommen pflegt, "du bist bedürftig, mein armes holdes Kind, habe ich nicht deinen Tanz von Anfang an gesehen, so hast du das jetzt durch deinen Gesang überreichlich ersetzt und darfst dich nun nicht mehr weigern, etwas von mir anzunehmen."

Euchar hatte ein kleines Beutelchen hervorgezogen, aus dem schöne Dukaten herausblinkten, das steckte er nun der Kleinen zu, als sie sich ihm genähert. Das Mädchen heftete den Blick auf Euchars Hand, faßte sie mit beiden Händen, bedeckte sie, mit dem lauten Ausruf: "Oh Dios!" vor Euchar niederstürzend, mit tausend heißen Küssen. "Ja", rief Ludwig begeistert, "ja, nur Gold, nichts als Gold dürfen die süßen Händchen empfangen", fragte aber dann, ob Euchar ihm nicht einen Taler wechseln könne, da er gerade kein kleines Geld bei sich führe.

Indessen war der Bucklichte hinangehinkt, hob die Chitarre auf, die Emanuela zu Boden fallen lassen, und verbeugte sich nun schmunzelnd ein Mal über das andere vor Euchar, der gewiß das Töchterlein reichlich beschenkt habe, da sie so gerührt danke.

"Bösewicht, Spitzbube", grollte ihn Ludwig an. Erschrocken fuhr der Kleine zurück und sprach weinerlich: "Ach Herr, warum seid Ihr denn so böse? Verdammt doch nicht den armen ehrlichen Biagio Cubas! Kehrt Euch ja nicht an meine Farbe, an mein, ich weiß es wohl, häßliches Gesicht! Ich bin in Lorca geboren und ebensolch ein alter Christ, als Ihr es selbst nur irgend sein könnt."Das Mädchen sprang schnell auf, rief dem Alten auf spanisch zu: "0 fort - nur schnell fort, Väterchen!", und beide entfernten sich, indem Cubas noch allerlei wunderliche Bücklinge verführte, Emanuela aber dem Euchar den seelenvollsten Blick zuwarf, dessen die schönsten Augen mächtig.

Als der Wald schon das seltsame Paar verbarg, begann Euchar: "Siehst du wohl, Ludwig, daß du dich mit deinem schlimmen Urteil, das du über den kleinen Kobold fälltest, übereilt hast? Es ist wahr, der Mensch hat etwas Zigeunerartiges, er ist, wie er selbst sagt, aus Lorca. Nun mußt du aber wissen, daß Lorca eine altmaurische Stadt ist und daß die Lorcaner, sonst ganz hübsche Leute, die Spuren ihrer Abkunft nicht verleugnen können. Nichts nehmen sie jedoch übler auf, als wenn man ihnen das zu verstehen gibt, weshalb sie unaufhörlich versichern, daß sie alte Christen wären. So ging es dem Kleinen, in dessen Gesicht sich freilich der maurische Stamm in der Karikatur abspiegelt." — "Nein", rief Ludwig, "ich bleibe dabei, der Kerl ist ein verruchter Spitzbube, und ich werde alles daransetzen, meine holde süße Mignon aus seinen Klauen zu retten." — "Hältst du", sprach Euchar, "den Kleinen durchaus für einen Spitzbuben, so traue ich meinesteils wieder nicht recht der holden süßen Mignon -" — "Was sagst du?" fuhr Ludwig auf, "was sagst du, Euchar? Dem lieben Himmelskinde nicht trauen, aus deren Augen die unschuldsvollste Holdseligkeit hervorleuchtet? Aber daran erkennt man den eiskalten Prosaiker, der für dergleichen keinen Sinn hat und der mißtrauisch ist gegen alles, was nicht hineinpaßt in seinen gewöhnlichen alltäglichen Kram!" — "Nun", erwiderte Euchar gelassen, "ereifere dich nur nicht so sehr, mein enthusiastischer Herzensfreund. Du wirst freilich sagen, daß das Mißtrauen gegen die süße Mignon keinen recht haltbaren Grund hat. Es entstand nur deshalb, weil ich eben jetzt gewahrte, daß die Kleine in ebendem Augenblick, als sie meine Hand faßte, mir den kleinen Ring mit dem seltenen Stein, den ich, wie du weißt, beständig trug, vom Finger gezogen. Ungern vermisse ich das teure Andenken aus einer verhängnisvollen Zeit." — "Was, um des Himmels willen", sprach Ludwig kleinlaut, "es ist wohl gar nicht möglich! Nein", fuhr er dann heftig fort, "nein, es ist nicht möglich! Nicht täuschen kann ein solches Antlitz, ein solches Auge, ein solcher Blick!

Du hast den Ring fallen lassen -verloren." —"Nun", sprach Euchar, "wir wollen sehen, uns aber, da es stark zu dunkeln beginnt, nach der Stadt zurückbegeben!"

Unterwegs hörte Ludwig nicht auf von Emanuela zu sprechen, die er mit den süßesten Namen nannte, und versicherte, wie er deutlich an einem gewissen unbeschreiblichen Blick, den sie scheidend ihm zugeworfen, bemerkt, daß er einen tiefen Eindruck auf sie gemacht habe, welches ihm wohl in dergleichen Fällen, wenn nämlich die Romantik ins Leben trete, arriviere. Euchar unterbrach den Freund nicht mit einem Wort. Der exaltierte sich selbst aber immer mehr und mehr, bis er gerade unter dem Tore, als eben der Tambour der Wache den abendlichen Trommelschlag begann, dem Freunde um den Hals fiel und, Tränen in den Augen, mit kreischender Stimme, um den dröhnenden Wirbel des militärischen Virtuosen zu überbieten, ins Ohr schrie, er sei ganz und gar in Liebe zur süßen Mignon und er wolle sein Leben daransetzen, sie wieder aufzufinden und der alten Mißgeburt zu entreißen.

Vor dem Hause, in welchem Ludwig wohnte, stand ein Diener in reicher Livree, der näherte sich ihm mit einer Karte. Kaum hatte Ludwig gelesen und den Diener abgefertigt, als er den Freund ebenso heftig umhalste, als es schon unter dem Tore geschehen, dann aber rief: "Nenne mich, o mein Euchar, aller Sterblichen glücklichsten, beneidenswertesten! Erschließe deine Brust - fasse meine Seligkeit, habe Sinn für Himmelswonne, Guter! Mische deine Freudenzähren mit den meinigen!" —"Aber", fragte Euchar, "was kann dir denn so Hochherrliches auf einer Karte verkündet werden?" — "Erschrick nicht", fuhr Ludwig murmelnd fort, "erschrick nicht, wenn ich dir das zauberisch strahlende Paradies von tausend Wonnen auftue, das sich mir auftun wird mittelst dieser Karte!" — "So möcht ich doch nur wissen", sprach Euchar weiter, "welch ein hohes Glück dir beschieden!" — "Wisse es", rief Ludwig, "erfahr es, vernimm es! Staune - zweifle - rufe - schreie - brülle.

Ich bin auf morgen eingeladen zum Souper und Ball bei dem Grafen Walther Puck! Viktorine - Viktorine, holde süße Viktorine!" — "Und die holde süße Mignon?" So fragte Euchar, doch Ludwig ächzte gar weinerlich: "Viktorine, du mein Leben!"und stürzte hinein in das Haus.

Die Freunde Ludwig und Euchar. Böser Traum von dem Verlust eines schönen Paars Beine im Pikett. Leiden eines enthusiastischen Tänzers. Trost, Hoffnung und Monsieur Cochenille

Es möchte nötig sein, dem geneigten Leser zuerst etwas mehr über die beiden Freunde zu sagen, damit derselbe von Haus aus wenigstens einigermaßen wisse, wie er mit ihnen daran ist, was er von jedem zu halten.

Beide hatten einen Stand, der eigentlich chimärisch zu nennen, da er keinem Sterblichen auf dieser Welt beschieden, sie waren Freiherren. Zusammen erzogen, in enger Freundschaft aufgewachsen, konnten sie sich auch dann nicht trennen, als mit dem Zunehmen der Jahre die ausgesprochenste Verschiedenheit der innern Gemütsart immer mehr und mehr hervortrat, die sich selbst im äußeren Wesen offenbarte. Euchar gehörte als Knabe zu den sogenannten artigen Kindern, die also genannt werden, weil sie in der Gesellschaft stundenlang auf einem Fleck stillsitzen, nichts fragen, begehren und so weiter und dann sich herrlich ausbilden zu hölzernen Dummköpfen. Mit Euchar hatte es eine andere Bewandtnis. Wurde er, wenn er, ein artiges Kind, mit niedergeschlagenen Augen, gebeugtem Haupt dasaß, angesprochen, so fuhr er erschrocken auf, stotterte, weinte manchmal gar, er schien aus tiefen Träumen zu erwachen. War er allein, so schien er ein ganz anderes Wesen. Man hatte ihn belauscht, als er heftig sprach, wie mit mehreren Personen, die zugegen, ja als er ganze Geschichten, die er gehört oder gelesen, wie ein Schauspiel aufführte, da mußten Tische, Schränke, Stühle, alles, was sich eben im Zimmer

vorfand, Städte, Wälder, Dörfer, Personen vorstellen. Eine besondere Begeisterung ergriff aber den Knaben, wenn es ihm vergönnt wurde, allein im Freien umherzustreifen. Dann sprang, jauchzte er durch den Wald, umarmte die Bäume, warf sich ins Gras, küßte die Blumen und so weiter. In irgendein Spiel mit Knaben seines Alters ließ er sich ungern ein und galt deshalb für furchtsam und träge, weil er irgendein gefährliches Unternehmen, einen gewaltigen Sprung, eine kühne Kletterei niemals mitmachen wollte. Aber auch hier war es besonders, daß, wenn es am Ende jedem an Mut gefehlt hatte, das Unternehmen wirklich zu wagen, Euchar still zurückblieb und einsam mit Geschicklichkeit das vollbrachte, was die andern nur gewollt. Galt es zum Beispiel einen hohen schlanken Baum zu erklettern und hatte keiner hinauf gemocht, so saß Euchar gewiß im nächsten Augenblick, sowie er sich allein befand, oben auf der Spitze. Äußerlich kalt, teilnahmlos erscheinend, ergriff der Knabe alles mit ganzem Gemüt, mit einer Beharrlichkeit, wie sie nur starken Seelen eigen, und brach in manchen Momenten das im Inneren Empfundene hervor, so geschah es mit unwiderstehlich hinreißender Gewalt, so daß jeder Kundige über die Tiefe des Gefühis, das der Knabe in der verschlossenen Brust trug, erstaunen mußte. Mehrere grundgescheite Hofmeister konnten aus ihrem Zöglinge gar nicht klug werden, und nur ein einziger (der letzte) versicherte, der Knabe sei eine poetische Natur, worüber Euchars Papa gar sehr erschrak, indem er befürchten zu müssen glaubte, daß der Knabe am Ende das Naturell der Mutter haben werde, die bei den glänzendsten Couren Kopfschmerz und Ekel empfunden. Des Papas Intimus, ein hübscher glatter Kammerherr, versicherte jedoch, besagter Hofmeister täte ein Esel sein, in dem jungen Baron Euchar flösse echt adeliges Blut, mithin sei seine Natur freiherrlich und nicht poetisch. Das beruhigte den Alten merklich. Man kann denken, wie sich aus solchen Grundanlagen des Knaben der Jüngling entwickeln mußte. Auf Euchars Antlitz hatte die Natur die bedeutungsvolle Chiffer gedrückt, mit der sie ihre Lieblinge bezeichnet. Aber Lieblinge der Natur sind die, welche die unendliche Liebe der guten Mutter, ihr tiefstes Wesen ganz zu fassen vermögen, und diese Lieblinge werden nur von Lieblingen verstanden. So kam es denn auch, daß Euchar von der Menge nicht verstanden, für gleichgültig, kalt, keiner rechtschaffenen Ekstase über ein neues Trauerspiel fähig und daher auch für prosaisch verschrien wurde. Vorzüglich konnten es ganze Zirkel der elegantesten scharfsinnigsten Damen, denen sonst dergleichen Kenntnis wohl zuzutrauen, durchaus nicht begreifen, wie es möglich sei, daß diese Apollo-Stirne, diese scharf gebogenen gebietenden Brauen, diese düstres Feuer sprühenden Augen, diese sanft aufgeworfenen Lippen nur einem leblosen Bilde angehören sollten. Und doch schien es so, denn Euchar verstand durchaus nicht die Kunst, über nichts, nichts in nichtssagenden Worten mit schönen Weibern so zu reden und so sich darzustellen, als sei er Rinaldo in Fesseln.

Ganz anders verhielt es sich mit Ludwig. Der gehörte zu den wilden, ausgelassenen Knaben, von denen man zu prophezeien pflegt, daß ihnen dereinst die Welt zu enge sein würde. Er war es, der immer den Gespielen die tollesten Streiche angab, man hätte denken sollen, daß der kühne Junge doch einmal Schaden leiden würde, er war es aber auch immer, der mit unverbrannter Nase davonkam, da er bei der Ausführung sich geschickt hintenanzustellen oder ganz davonzumachen wußte. Er ergriff alles schnell mit großer Begeisterung, ließ es aber ebenso schnell wieder; so kam es, daß er vieles lernte, aber nicht viel. Zum Jüngling herangewachsen, machte er ganz artige Verse, spielte passabel manches Instrument, malte ganz hübsch, sprach ziemlich fertig mehrere Sprachen, war daher ein wahrer Ausbund von Bildung. Über alles konnte er in die erstaunlichste Ekstase geraten und diese in den mächtigsten Worten verkünden. Aber es war mit ihm wie mit der Pauke, die, angeschlagen, desto stärker tönt, je größer der innere hohle Raum. Der

Eindruck, den alles Schöne, Herrliche auf ihn machte, glich dem äußern Kitzel, der die Haut berührt, ohne die innern Fibern zu erfassen. Ludwig gehörte zu den Leuten, die man sehr oft sagen hört: "Ich wollte!" und die vor diesem wollenden Prinzip nie zum Handeln kommen. Da aber in dieser Welt diejenigen Menschen, welche sehr laut und breit verkündigen, was sie tun wollen, viel mehr gelten als die, welche in aller Stille hingehen und es wirklich tun, so geschah es auch, daß man Ludwig jeder großen Handlung fähig hielt und ihn deshalb höchlich bewunderte, ohne weiter darnach zu fragen, ob er denn wirklich das getan, was er so laut verkündet. Freilich gab es auch wohl Leute, die Ludwig durchschauten und, ihn festhaltend bei seinen Worten, sich darnach emsig erkundigten, ob er dies oder jenes ausgeführt. Dies verdroß ihn aber um so mehr, als er in einsamen Stunden bisweilen selbst sich gestehen mußte, daß das ewige Wollen und Wollen ohne Tat miserabel sei. Da geriet er über ein verschollenes Buch, worin die mechanistische Lehre vom Zusammenhang der Dinge vorgetragen wurde. Begierig griff er diese Lehre auf, die sein Treiben oder vielmehr sein Wollen bei sich selbst und bei andern entschuldigte. Denn war nicht ausgeführt, was er versprochen, so trug nicht er die Schuld, sondern es hatte nur allein im Zusammenhang der Dinge gelegen, daß es nicht geschehen konnte.

Der geneigte Leser wird sich wenigstens von der großen Bequemlichkeit jener weisen Lehren überzeugen.

Da Ludwig übrigens ein ganz hübscher Jüngling mit roten blühenden Wangen war, so würde er, vermöge seiner Eigenschaften, der Abgott jedes eleganten Zirkels gewesen sein, hätte nicht sein kurzes Gesicht ihn manches seltsame Quidproquo begehen lassen, das ihm oft verdrießliche Folgen zuzog. Er tröstete sich jedoch mit dem unbeschreiblichen Eindruck, den er auf jedes weibliche Herz zu machen glaubte, und überdem galt die Gewohnheit, daß er, eben seines kurzen Gesichts halber, um nicht in der Person zu irren, mit der er sprach, welches ihm manchmal zu großem Ärger geschehen,

selbst den Damen näher trat als schicklich für die unbefangne Dreistigkeit des genialen Menschen.

Tages darauf, als Ludwig auf dem Ball bei dem Grafen Walther Puck gewesen, in aller Frühe erhielt Euchar ein Billett von ihm, worin es hieß:

"Teurer! Geliebtester! Ich bin elend, geschlagen, verloren, herabgestürzt von dem blumichten Gipfel der schönsten Hoffnungen in den bodenlosen nächtlichen Abgrund der Verzweiflung. Das, was mein namenloses Glück bereiten sollte, ist mein Unglück! — Komme! eile, tröste mich, wenn du es vermagst!"

Euchar fand den Freund mit verbundenem Haupt auf dem Sofa ausgestreckt, blaß, übernächtig. "Kommst du", rief Ludwig ihm mit matter Stimme entgegen, indem er den Arm nach ihm ausstreckte, "kommst du, mein edler Freund? Ja, du hast doch gewiß einigen Sinn für meinen Schmerz, für meine Leiden! Laß dir wenigstens erzählen, was mir begegnet, und sprich das Urteil, wenn du glaubst, daß ich verloren bin total!" — "Gewiß", begann Euchar lächelnd, "gewiß ist es auf dem Ball nicht so gegangen, wie du gedachtest?" Ludwig seufzte tief auf. "Hat", sprach Euchar weiter, "hat die holde Viktorine scheel gesehen, dich nicht beachtet?" — "Ich habe sie", erwiderte Ludwig mit tiefem Grabeston, "ich habe sie schwer, ich habe sie unversöhnlich beleidigt!" — "Mein Gott", rief Euchar, "wie hat sich das nur begeben können?" Ludwig holte nochmals einen tiefen Seufzer, ächzte was weniges und begann leise, aber mit gehörigem Pathos:

 ..Wie  sich  der  Sonne  Scheinbild in dem Dunstkreis
Malt, eh sie kommt; so schreiten auch den großen
Geschicken ihre Geister schon voran,
Und in dem Heute wandelt schon das Morgen!

Ja", fuhr er dann wehmütig fort, "ja, Euchar, wie das geheimnisvolle Schnurren des Räderwerks den Schlag der Uhr verkündet, so gehen warnende Ereignisse dem einbrechenden

Malheur vorher. Schon in der Nacht vor dem Ball hatte ich einen schrecklichen, fürchterlichen Traum! Mir war es, als sei ich schon bei dem Grafen und könne, eben im Begriff zu tanzen, plötzlich keinen Fuß von der Stelle rühren. Im Spiegel werde ich zu meinem Schrecken gewahr, daß ich statt des zierlichen Fußgestells, das mir die Natur verliehen, des alten Konsistorialpräsidenten dick umwickelte podagristische Beine unter dem Leibe trage. Und während daß ich an den Boden festgebannt stehe, ländert der Konsistorialpräsident, Viktorinen im Arm, leicht wie ein Vogel daher, lächelt mich hämisch an und behauptet zuletzt auf freche Weise, daß er mir meine Füße abgewonnen habe im Pikett. Ich erwachte, du kannst es denken, in Angstschweiß gebadet! Noch ganz tiefsinnig über das böse Nachtgesicht, bringe ich die Tasse, in der glühende Schokolade dampft, an den Mund und verbrenne mir dermaßen die Lippen, daß du trotz aller Pomade, die ich verbraucht, die Spuren davon noch sehen kannst. Nun, ich weiß es ja, daß du nicht viel Anteil nimmst an fremden Leiden, ich übergehe daher alle die fatalen Ereignisse, womit mich das Schicksal den Tag über neckte, und sage dir nur, daß, als es endlich abends zum Anziehen kam, eine Masche des seidenen Strumpfs platzte, mir zwei Westenknöpfe sprangen, daß ich, im Begriff, in den Wagen zu steigen, meinen Wellington in die Gosse warf und endlich im Wagen selbst, als ich die Patentschnallen fester auf die Schuhe drücken wollte, zu meinem nicht geringen Entsetzen an der Fasson fühlte, daß der Esel von Kammerdiener mir ungleiche Schnallen aufgedrückt. Ich mußte umkehren und verspätete mich wohl um eine gute halbe Stunde. Viktorine kam mir entgegen im vollsten Liebreiz - ich bat sie um den nächsten Tanz. Wir länderten - ich war im Himmel. Aber da fühlte ich plötzlich die Tücke des feindlichen Schicksals -" — "Zusammenhanges der Dinge", fiel ihm Euchar ins Wort. "Nenne es", fuhr Ludwig fort, "nenne es, wie du willst, heute ist mir alles gleich. Genug, es war ein tückisches Verhängnis, das mich vorgestern über die fatale Baumwurzel hinstürzte. Tanzend fühlte ich meinen Schmerz im Knie sich erneuern und immer stärker und heftiger werden. Aber in demselben Augenblick spricht Viktonne so laut, daß es die andern Tänzer hören: ,Das geht ja zum Einschlafen!' Man winkt, man klatscht den Musikanten zu, und rascher und rascher wirbelt sich der Tanz! Mit Gewalt kämpfe ich die Höllenqual nieder, hüpfe zierlich und mache ein freundliches Gesicht. Und doch raunt mir Viktonne ein Mal über das andere zu: ,Warum so schwerfällig heute, lieber Baron? Sie sind gar nicht mehr derselbe Tänzer wie sonst!' Glühende Dolchstiche in mein Herz hinein." —"Armer Freund", sprach Euchar lächelnd, "ich fasse deine Leiden im ganzen Umfange."

"Und doch", fuhr Ludwig fort, "war dies alles nur Vorspiel des unseligsten Ereignisses! Du weißt, wie lange ich mich mit den Touren einer Seize herumgetragen, du weißt, wie ich vieles Glas und Porzellan, das ich, hier in meinem Zimmer mich in jenen Touren, in den kühnsten Wendungen und Sprüngen versuchend, von den Tischen warf, nicht geachtet habe, bloß um die geträumte Vollkommenheit zu erringen. Eine dieser Touren ist das Herrlichste, das jemals der menschliche Geist in dieser Art ersonnen. Vier Paare stehen in malerischer Stellung, der Tänzer, auf der rechten Fußspitze balancierend, umfaßt seine Tänzerin mit dem rechten Arm, während er den linken, graziös gekrümmt, über das Haupt erhebt, die andern machen Ronde. Vestris und Gardel haben an so etwas nicht gedacht. Auf diese Seize hatte ich den höchsten Moment der Seligkeit gebaut! Zum Namenstag des Grafen Walther Puck hatte ich sie bestimmt — Viktorinen im Arm bei jener überirdischen Tour, wollte ich flistern: ,Göttliche - himmlische Komteß, ich liebe Sie unaussprechlich, ich bete Sie an! sein Sie mein, Engel des Lichts!' Daher, lieber Euchar, geriet ich in solch Entzücken, als ich nun wirklich zum Ball eingeladen wurde, woran ich beinahe zweifeln mußte, da Graf Puck kurz zuvor auf mich sehr erzürnt schien, als ich ihm die Lehre vom Zusammenhang

der Dinge, vom Räderwerk des Makrokosmus, vortrug, die er seltsamerweise dahin verstand, als vergleiche ich ihn mit einem Perpendikel. Er nannte das eine maliziöse Anspielung, die er nur meiner Jugend verzeihe, und drehte mir den Rücken. Nun also! Der unglückliche Ländler war geendet, ich tanzte keinen Schritt mehr, entfernte mich in die Nebenzimmer, und wer mir auf dem Fuße folgte, war der gute Cochenille, der mir sogleich Champagner kredenzte. Der Wein goß neue Lebenskraft mir in die Adern, ich fühlte keinen Schmerz mehr. Die Seize sollte beginnen, ich flog in den Saal zurück, stürzte hin zu Viktorinen, küßte ihr feurig die Hand, stellte mich in die Ronde. Jene Tour kommt, ich übertreffe mich selbst - ich schwebe - balanciere, der Gott des Tanzes selbst - ich umschlinge meine Tänzerin, ich lispele: ,Göttliche, himmlische Komteß', wie ich's mir vorgenommen. Das Geständnis der Liebe ist meinen Lippen entflohen, ich schaue der Tänzerin tief in die Augen - Herr des Himmels! es ist nicht Viktorine, mit der ich getanzt, es ist eine ganz andere, mir völlig unbekannte Dame, nur gewachsen, gekleidet wie Viktorine! Du kannst denken, daß mir war, als träfe mich der Blitz! Alles um mich her schwamm chaotisch zusammen, ich hörte keine Musik mehr, sprang wild durch die Reihen, bald hier, bald dort hört ich Schmerzensrufe, bis ich mich mit starken Armen festgehalten fühlte und eine dröhnende Stimme mir ins Ohr donnerte: ,Himmel tausendsapperment, ich glaube, Sie haben neun Teufel in den Beinen, Baron!' Es war der verhängnisvolle Konsistorialpräsident, den ich schon im Traum gesehen, der mich in einer ganz entfernten Ecke des Saals festhielt und also fortfuhr: ,Kaum bin ich vom Spieltisch aufgestanden und in den Saal getreten, als Sie wie das böse Wetter aus der Mitte herausfahren und wie besessen auf meinen Füßen herumspringen, daß ich vor Schmerz brüllen möchte, wie ein Stier, wär ich nicht ein Mann von feiner Conduite. Sehen Sie nur, welche Verwirrung Sie angerichtet haben.' In der Tat hatte die Musik aufgehört, die ganze Seize war auseinander, und ich bemerkte, wie mehrere Tänzer umherhinkten, Damen sich zu den Sesseln führen ließen und mit Odeurs bedient wurden. — Ich hatte die Tour der Verzweiflung über die Füße der Tanzenden genommen, bis der baumstarke Präsident dem tollen Lauf ein Ziel setzte. — Viktorine nahte sich mir mit zornfunkelnden Augen. ,In der Tat', sprach sie, ,eine Artigkeit ohnegleichen, Herr Baron! Sie fordern mich zum Tanz auf, tanzen dann mit einer andern Dame und verwirren den ganzen Ball.' Du kannst dir meine Beteurungen denken. ,Diese Mystifikationen', erwiderte Viktorine ganz außer sich, ,sind Ihnen eigen, Herr Baron, ich kenne Sie, aber ich bitte, mich nicht weiter zum Gegenstande Ihrer tiefen schneidenden Ironie zu wählen.' — So ließ sie mich stehen. Nun kam meine Tänzerin, die Artigkeit, ja ich möchte sagen, die Zutulichkeit selbst! — Das arme Kind hat Feuer gefaßt, ich kann es ihr nicht verdenken, aber bin ich denn schuld? — O Viktorine, Viktorine! O Unglücksseize! — Furientanz, der mich in den Orkus hinabreißt!"

Ludwig schloß die Augen und seufzte und ächzte, der Freund war aber gutmütig genug, nicht auszubrechen in lautes Gelächter. Er wußte überdem wohl, daß Unfälle der Art, wie sie den armen Ludwig bei dem Ball des Grafen Walther Puck betroffen, selbst auf Menschen von geringerer Geckenhafligkeit die Wirkung spanischer Fliegen äußern in psychischem Sinn.

Nachdem Ludwig ein paar Tassen Schokolade eingeschlürft, ohne sich, wie tages zuvor, die Lippen zu verbrennen, schien er mehr Fassung zu gewinnen, sein ungeheures Schicksal mit größerem Mute zu tragen. "Höre", begann er zu Euchar, der sich indessen in ein Buch vertieft, "höre, Freund, du warst ja auch zum Ball eingeladen?" — "Allerdings", entgegnete Euchar gleichgültig, kaum von den Blättern aufblickend. — "Und kamst nicht und hast mir nicht einmal von der Einladung etwas gesagt", sprach Ludwig weiter. — "Eine Angelegenheit", erwiderte Euchar, "hielt mich

fest, die mir wichtiger war als jeder Ball in der Welt, und hätt ihn der Kaiser von Japan gegeben." — "Gräfin Viktorifle", fuhr Ludwig fort, "erkundigte sich sehr angelegentlich, weshalb du wohl ausbliebest. Sie war so unruhig, blickte so oft nach der Türe. In der Tat, ich hätte eifersüchtig werden, ich hätte glauben können, dir wär's zum erstenmal gelungen, ein weibliches Herz zu rühren, wenn sich nicht alles aufgeklärt hätte. — Kaum mag ich's dir wiedererzählen, auf welche schonungslose Art sich die holde Viktorine über dich äußerte. — Nichts Geringeres behauptete sie, als daß du ein kalter, herzloser Sonderling seist, dessen Gegenwart sie oft mitten in der Lust ängstige; weshalb sie denn gefürchtet hätte, du würdest auch an dem Abend ihr Freudenstörer sein. Nun sei sie aber recht froh, daß du nicht gekommen. — Aufrichtig gesprochen, seh ich doch gar nicht ein, warum du, lieber Euchar, dem der Himmel doch so viel körperliche und geistige Vorzüge verliehen, solch entschiedenes Unglück bei den Damen hast, warum ich dir überall den Rang ablaufe! — Kalter Mensch! Kalter Mensch, ich glaube, du hast keinen Sinn für das hohe Glück der Liebe, und darum wirst du nicht geliebt. Ich dagegen! — Glaube mir, selbst Viktorines aufglühender Zorn, erzeugte er sich nicht aus den Liebesflammen, die in ihrem Innern lodern für mich, den Glücklichen, den Seligen?"

Die Türe öffnete sich, und es trat ein seltsames Männlein in das Zimmer, im roten Rock mit großen Stahiknöpfen, schwarzseidenen Unterkleidern, stark gepuderter hoher Frisur mit kleinem runden Haarbeutel! "Bester Cochenille", rief ihm Ludwig entgegen, "bester Monsieur Cochenille, wie habe ich das seltne Vergnügen -"

Euchar versicherte, daß wichtige Angelegenheiten ihn fortriefen, und ließ den Freund mit dem Kammerdiener des Grafen Walther Puck allein.

Cochenille versicherte süß lächelnd mit niedergeschlagenen Augen, wie hochgräfliche Gnaden überzeugt wären, daß der verehrteste Herr Baron während der Seize von einer

seltsamen Krankheit befallen, deren Namen im Lateinischen beinahe so klinge wie Raptus, und wie er, Monsieur Cochenille, gekommen, Nachfrage zu halten nach des verehrtesten Herrn Barons gnädigern Wohlbefinden. "Was Raptus, o Cochenille, was Raptus", rief Ludwig, erzählte nun ausführlich, wie sich alles begeben, und schloß damit, daß er den gewandten Kammerdiener des Grafen Walther Puck bat, die Sache möglichst ins Geleise zu bringen.

Ludwig erfuhr, daß seine Tänzerin eine Kusine der Gräfin Viktorine gewesen, die vom Lande hineingekommen zum Namenfest des Grafen, daß sie und Gräfin Viktorine ein Herz und eine Seele wären und sich, wie bei jungen Damen der Einklang der Gemüter wohl in Seide und Flor ans Licht zu treten pflege, öfters ganz gleich kleideten. Cochenille meinte ferner, daß es mit dem Zorn der Gräfin Viktorine doch nicht rechter Ernst sein müsse. Er habe ihr nämlich bei dem Schluß des Balls, gerade als sie mit der Kusine zusammengestanden, Gefrornes serviert und dabei bemerkt, wie beide herzlich gekichert und gelacht, sowie gehört, wie sie beide mehrmals ganz deutlich den Namen des hochverehrtesten Herrn Barons genannt hätten. Freilich sei, wie er vernommen, die gräfliche Kusine ungemein verliebter Komplexion und werde nun verlangen, daß der Herr Baron das fortsetze, was er begonnen, nämlich daß er der Kusine fortan erklecklich den Hof mache und zuletzt Glacéhandschuhe anziehe und sie zum Brautaltare führe, indessen wolle er das Seinige tun, daß sie davon abgebracht werde. Morgenden Tages wollte er hochgräfliche Gnaden, wenn er dieselbe zu frisieren die Ehre habe, gerade beim Lockenbau auf der linken Seite die ganze Sache vortragen und bitten, der Kusine unter eindringenden oheimlichen Ermahnungen vorzustellen, daß des Herrn Barons Liebeserklärung nichts anders gewesen sei, als was dergleichen Erklärungen gewöhnlich wären, nämlich ein angenehmer Tanzschnörkel, der geraden Tour beigefügt als liebenswürdiger Exzeß. Das werde helfen. Cochenille gab endlich dem Baron den

Rat, Viktorinen sobald als nur möglich zu sehen, und dazu finde sich noch am heutigen Tage Gelegenheit. Die Konsistorialpräsidentin Veehs gäbe nämlich abends ästhetischen Tee, den sie, wie er von dem Kammerdiener des russischen Gesandten erfahren, durch die russische Gesandtschaft direkt von der chinesischen Grenze kommen lasse und der einen ungemein süßen Geruch verbreite. Dort werde er Viktorine finden und alles retablieren können.

Ludwig sah ein, daß nur unwürdige Zweifel den Glauben an sein Liebesglück verstört haben konnten, und beschloß, beim ästhetischen Tee der Konsistorialpräsidentin so bezaubernd liebenswürdig zu sein, daß es Viktorinen nicht einfallen werde, auch nur was weniges zu schmollen.



Der ästhetische Tee. Stickhusten eines tragischen Dichters. Die Geschichte nimmt einen ernsten Schwung und spricht von blutigen Schlachten, Selbstmord und dergleichen

Der geneigte Leser muß es sich schon gefallen lassen, den beiden Freunden, Ludwig und Euchar, zu folgen in den ästhetischen Tee, der nun bei der Frau Konsistorialpräsidentin Veehs wirklich angegangen. Ungefähr ein Dutzend hinlänglich geputzter Damen sitzen in einem Halbkreis. Eine lächelt gedankenlos, die andere ist vertieft in den Anblick ihrer Schuhspitzen, mit denen sie geschickt die neuesten Pas irgendeiner Françoise ganz in der Stille zu probieren weiß, die dritte scheint süß zu schlafen, noch süßer zu träumen, die vierte läßt den Feuerblick ihrer Augen umherstreifen, damit er nicht einen, sondern womöglich alle jungen Männer treffe, die im Saal versammelt, die fünfte lispelt: "Göttlich - herrlich - sublim" — diese Ausrufungen gelten aber dem jungen Dichter, der eben mit allem nur möglichen Pathos eine neue Schicksalstragödie vorliest, die langweilig und abgeschmackt genug ist, um sich ganz zu solcher Vorlesung zu eignen. Hübsch war es, daß man oft ein Brummen vernahm, fernem Donner zu vergleichen. Dies

war aber die Stimme des Konsistorialpräsidenten, der in einem entfernten Zimmer mit dem Grafen Walther Puck Pikett spielte und sich auf jene Weise grollend, murrend vernehmen ließ. Der Dichter las mit dem süßesten Ton, dessen er mächtig:
"Nur noch einmal, nur noch einmal
Laß dich hören, holde Stimme,
Ja, o Stimme, süße Stimme,
Stimme aus dem tiefen Grunde,
Stimme aus den Himmelslüften.
Horch, o horch -"


Da schlug aber der Donner los, der längst bedrohlich gemurmelt. "Himmel tausendsapperment!" dröhnte des Konsistorialpräsidenten Stimme durch das Zimmer, so daß alles erschrocken von den Sitzen aufsprang. Wieder war es hübsch, daß der Dichter sich gar nicht stören ließ, sondern fortfuhr:
"Ja, es ist sein Liebesatem,
Ist sein Ton, den Honiglippen
Ist der süße Laut entflohen -"


Ein höheres Schicksal als das, was in des Dichters Tragödie waltete, litt es aber nicht, daß der Dichter seine Vorlesung ende. Gerade als er bei einem gräßlichen Fluch, den der Held des Stücks ausspricht, seine Stimme erheben wollte zur höchsten tragischen Kraft, kam ihm der Himmel weiß was in den Hals, so daß er in einen fürchterlichen, nicht zu beschwichtigenden Husten ausbrach und halbtot weggetragen wurde.

Der Präsidentin, der man längst Überdruß und Langeweile angemerkt, schien die plötzliche Unterbrechung nicht ungelegen. Sobald die Ruhe der Gesellschaft wiederhergestellt, erinnerte sie, wie es nun an der Zeit sei, daß irgend etwas nicht vorgelesen, sondern recht lebendig erzählt werde, und meinte, daß Euchar recht eigentlich der Gesellschaft dazu verpflichtet, da er sonst bei seiner hartnäckigen Schweigsamkeit wenig zur Unterhaltung beitrage.

Euchar erklärte bescheiden, daß er ein sehr schlechter Erzähler sei und daß das, was er vielleicht zum besten geben könne, sehr ernsten, vielleicht gar graulichen Inhalts sein, so aber der Gesellschaft wenig Lust erregen werde. Da riefen aber vier blutjunge Fräuleins mit einer Stimme: "0 graulich! nur recht graulich, o was ich mich gar zu gern graue!"

Euchar nahm den Rednerstuhl ein und begann: "Wir haben eine Zeit gesehen, die wie ein wütender Orkan über die Erde dahinbrauste. Die menschliche Natur, in ihrer tiefsten Tiefe erschüttert, gebar das Ungeheure, wie das sturmbewegte Meer die entsetzlichen Wunder des Abgrunds emporschleudert auf den tosenden Wellen. Alles, was Löwenmut, unbezwingbare Tapferkeit, Haß, Rache, Wut, Verzweiflung im mörderischen Todeskampf vollbringen können, geschah im spanischen Freiheitskriege. Es sei mir erlaubt, von den Abenteuern meines Freundes - ich will ihn Edgar nennen - zu erzählen, der dort unter Wellingtons Fahnen mitfocht. Edgar hatte im tiefen schneidenden Gram über die Schmach seines deutschen Vaterlandes seine Vaterstadt verlassen und war nach Hamburg gezogen, wo er in einem kleinen Stübchen, das er in einer entlegenen Gegend gemietet, einsam lebte. Von dem Nachbar, mit dem er Wand an Wand wohnte, wußte er eben nichts weiter, als daß es ein alter kranker Mann sei, der niemals ausgehe. Er hörte ihn öfters stöhnen und in sanfte rührende Klagen ausbrechen, ohne die Worte zu verstehen. Später ging der Nachbar fleißig in der Stube auf und ab, und ein Zeichen wiedergekehrter Genesung schien es, als er eines Tages eine Chitarre stimmte und dann leise Lieder begann, die Edgar für spanische Romanzen erkannte.

Auf näheres Befragen vertraute ihm die Wirtin, daß der Alte ein krankheitshalber von dem Romanaschen Korps zurückgebliebener spanischer Offizier sei, der freilich nun insgeheim bewacht werde und sich nicht viel hinauswagen dürfe.

Mitten in der Nacht hörte Edgar den Spanier die Chitarre stärker anschlagen als sonst. Er begann in mächtiger, seltsam wechselnder Melodie die ,Profecia del Pirineo' des Don Juan Bautista de Arriaza. Es kamen die Strophen:

,Y oye que ei gran rugido
Es ya trueno en los campos de Castilla,
En las Asturias bèlico alarido,
Voz de venganza en la imperial Sevilla,
Junto a Valencia es rayo,
Y terremoto horrisono en  Moncayo.
Mira en haces guerreras,
La Espana toda hirviendo basta sus fines,
Batir tambores, tremolar banderas,
Estallar bronçes, resonar clarines,
Y aufl las antiguas lanzas,
Salir de! polvo à renovar venganzas.'"

"Möge", unterbrach die Präsidentin den Redner, "möge es doch unserm Freunde, bevor er weitererzählt, gefallen, uns die mächtigen Verse deutsch zu wiederholen, da ich mit mehreren meiner lieben Gäste die ästhetische Unart teile, kein Spanisch zu verstehen." — "Der mächtige Klang", erwiderte Euchar, "den jene Verse haben, geht in der Übersetzung verloren, doch würden sie gut genug also verdeutscht *:

Horch, wie des Leuen Töne
Zum Donner in Kastiliens Regionen,
Zum Heulen werden für Asturias Söhne,
Rachschrei für die, die in Sevilla wohnen.
Valencia ist erschüttert,
Indes Moncayos Boden dröhnt und zittert.
Sieh bis an seine Grenzen
Das ganze Land in Kriegesglut sich röten,
Die Trommeln wirbeln, und die Fahnen glänzen, 
* Durch S. H. Friedländer.
Die Erze krachen, schmettern die Trompeten,
Selbst die im Staube lagen,
Die Lanzen braucht man in den Rachetagen.

Edgars Innerstes entzündete die Glut der Begeistrung, die aus dem Gesange des Alten strömte. Eine neue Welt ging ihm auf, er wußte nun, wie er sich aufraffen von seiner Siechheit, wie er, ermannt zu kühner Tat, den Kampf, der seine Brust zerfleischte, auskämpfen konnte im regen Leben. ,Ja, nach Spanien - nach Spanien!' so rief er überlaut, aber in demselben Augenblick verstummte Gesang und Spiel des Alten. Edgar konnte der Begierde nicht widerstehen, den zu kennen, der ihm neues Leben eingehaucht. Die Türe wich dem Druck seiner Hand. Doch in dem Moment, als er hineintrat in des Alten Zimmer, sprang dieser mit dem Schrei: ,Traidor!' (Verräter) vom Bette auf und stürzte mit gezogenem Dolch los auf Edgar.

Diesem gelang es indessen, durch eine geschickte Wendung dem gutgezielten Stoß auszuweichen, dann aber den Alten fest zu packen und niederzudrücken auf das Bett.

Während er nun den kraftlosen Alten festhielt, beschwor er ihn in den rührendsten Ausdrücken, sein stürmisches Einbrechen ihm zu verzeihen. Kein Verräter sei er, vielmehr habe das Lied des Alten allen Gram, allen trostlosen Schmerz, der seine Brust zerrisse, entflammt zu glühender Begeisterung, zu unerschütterlichem Kampfesmut. Er wolle hin nach Spanien und freudig fechten für die Freiheit des Landes. Der Alte blickte ihn starr an, sprach leise: ,Wär es möglich?', drückte Edgarn, der nicht nachließ, auf das eindringendste zu beteuern, daß ihn nichts abhalten werde, seinen Entschluß auszuführen, heftig an die Brust, indem er den Dolch, den er noch in der Faust hielt, weit von sich schleuderte.

Edgar erfuhr nun, daß der Alte Baldassare de Luna geheißen und aus einem der edelsten Geschlechter Spaniens entsprossen war. Hülflos, ohne Freunde, ohne die geringste Unterstützung bei der drückendsten Bedürftigkeit, hatte er

die trostlose Aussicht, fern von seinem Vaterlande ein elendes Leben zu verschmachten. Nicht gelingen wollt es Edgarn, den bedaurenswürdigen Alten zu beschwichtigen, als er aber zuletzt auf das heiligste versprach, beider Flucht nach England möglich zu machen, da schien neues belebendes Feuer durch alle Glieder des Spaniers zu strömen. Er war nicht mehr der sieche Alte, nein, ein begeisterter Jüngling, der Hohn sprach der Ohnmacht seiner Unterdrücker.

Edgar hielt, was er versprochen. Es gelang ihm, die Wachsamkeit der arglistigen Hüter zu täuschen und mit Baldassare de Luna zu entfliehen nach England. Das Schicksal vergönnte aber nicht dem wackern, vom Unglück verfolgten Mann, daß er sein Vaterland wiedersehe. Aufs neue erkrankt, starb er in London in Edgars Armen. Ein prophetischer Geist ließ ihn die Glorie des geretteten Vaterlandes schauen. In den letzten Seufzern des Gebets, das sich den zum Tode erstarrten Lippen mühsam entrang, vernahm Edgar den Namen: Vittoria!, und die Verklärung des Himmels leuchtete auf de Lunas lächelndem Antlitz.

Gerade in dem Zeitraum, als Suchets siegreiche Heere allen Widerstand niederzuschmettern, das schmachvolle fremde Joch auf ewige Zeit zu befestigen drohten, langte Edgar mit der Brigade des englischen Obristen Sterret vor Tarragona an. Es ist bekannt, daß der Obrist die Lage des Platzes zu bedenklich fand, um die Truppen auszuschiffen. Das vermochte der nach kühnen Waffentaten dürstende Jüngling nicht zu ertragen. Er verließ die Engländer und begab sich zu dem spanischen General Contreras, der mit achttausend der besten spanischen Truppen in der Festung lag. Man weiß, daß, des heftigsten Widerstandes unerachtet, Suchets Truppen Tarragona mit Sturm nahmen, daß Contreras selbst, durch einen Bajonettstich verwundet, den Feinden in die Hände fiel.

Alles furchtbare Entsetzen der Hölle bieten die greuelvollen Szenen dar, die vor Edgars Augen sich auftaten. War es schändliche Verräterei, war es unbegreifliche Nachlässigkeit

der Befehlshaber - genug, den zur Verteidigung des Hauptwalls aufgestellten Truppen fehlte es bald an Munition. Lange widerstanden sie mit dem Bajonett dem durch das erbrochne Tor einstürmenden Feinde, als sie aber endlich seinem wütenden Feuer weichen mußten, da ging es fort in wilder Verwirrung nach dem Tore gegenüber, in das, da es zu klein für die durchdringenden Massen, eingekeilt, sie Stich halten mußten dem fürchterlichen Gemetzel. Doch gelang es etwa viertausend Spaniern, das Regiment Almeira war dabei und mit ihm Edgar, hinauszukommen. Mit der Wut der Verzweiflung durchbrachen sie die dort aufgestellten feindlichen Bataillone und setzten ihre Flucht fort auf dem Wege nach Barcelona. Schon glaubten sie sich gerettet, als ein fürchterliches Feuer aus Feldstücken, die der Feind hinter einem tiefen Graben, der den Weg durchschnitt, aufgestellt hatte, unentrinnbaren Tod in ihre Reihen brachte. Edgar stürzte getroffen nieder.

Ein wütender Kopfschmerz war das Gefühl, in dem er zur Besinnung erwachte. Es war tiefe Nacht, alle Schauer des Todes durchbebten ihn, als er das dumpfe Ächzen, den herzzerschneidenden Jammer vernahm. Es gelang ihm, sich aufzuraffen und fortzuschleichen. Als endlich die Morgendämmerung anbrach, befand er sich in der Nähe einer tiefen Schlucht. Eben im Begriff hinabzusteigen, kam ein Trupp feindlicher Reiter langsam hinauf. Nun der Gefangenschaft zu entgehen schien unmöglich, doch wie ward ihm, als plötzlich aus dem dicksten Gebüsch Schüsse fielen, die einige der Reiter niederstreckten, und nun ein Trupp Guerillas auf die übriggebliebenen losstürzte. Laut rief er seinen Befreiern auf spanisch zu, die ihn freudig aufnahmen. Nur ein Streifschuß hatte ihn getroffen, von dem er bald genas, so daß er vermochte sich Don Joachim Blakes Truppen anzuschließen und nach vielen Gefechten mit ihm einzuziehen in Valencia.

Wer weiß es nicht, daß die vom Guadalaviar durchströmte Ebene, in der das schöne Valencia mit seinen stolzen

Türmen gelegen, das Paradies der Erde zu nennen ist. Alle Götterlust eines ewig heitern Himmels strahlt hinein in das Gemüt der Bewohner, denen das Leben ein ununterbrochener Festtag wird. Und dies Valencia war nun der Waffenplatz des mörderischen Krieges! Statt der süßen Liebesklänge, die sonst in der stillen Nacht hinaufgirrten zu den Gitterfenstern, hörte man nur das dumpfe Gerassel des Geschützes, der Pulverkarren, die wilden Rufe der Wachen, das unheimliche Murmeln der durch die Straßen ziehenden Truppen. Alle Freude war verstummt, die Ahnung des Entsetzlichen, was sich begeben werde, lag auf den bleichen, von Gram und Wut verstörten Gesichtern, der fürchterlichste Ingrimm brach aus in tausend gräßlichen Verwünschungen des Feindes. Die Alameda (ein reizender Spaziergang in Valencia), sonst der Tummelplatz der schönen Welt, diente jetzt zur Musterung eines Teils der Truppen. Hier war es, wo Edgar, als er eines Tages einsam an einen Baum gelehnt stand und nachsann über das dunkle feindliche Verhängnis, das über Spanien zu walten schien, einen hochbejahrten Mann von hohem stolzen Wuchs bemerkte, der langsam auf und ab schritt und, bei ihm vorübergehend, jedesmal einen Augenblick stehenblieb und ihn scharf ins Auge faßte. Edgar trat endlich auf ihn zu und fragte mit bescheidenem Ton, wodurch er des Mannes besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. ,So habe', sprach der Mann, indem ein düstres Feuer unter den buschichten schwarzen Brauen hervorblitzte, ,so habe ich mich doch nicht getäuscht, Ihr seid kein Spanier, und doch muß ich, lügt nicht Euer Rock, Euch für einen unserer Mitkämpfer halten. Das kommt mir aber etwas wunderlich vor.' Edgar, zwar ein wenig verletzt durch des Alten barsche Anrede, erzählte doch gelassen genug, was ihn nach Spanien gebracht.

Kaum hatte er indessen den Namen Baldassare de Luna genannt, als der Alte in voller Begeistrung laut rief: ,Was sagt Ihr? —Baldassare de Luna -Baldassare de Luna? mein würdiger Vetter! ach, mein innigster einziger Freund, der

mir hienieden noch übriggeblieben!' Edgar wiederholte, wie sich alles begeben, und unterließ nicht zu erwähnen, mit welchen Himmelshoffnungen Baldassare de Luna gestorben.

Der Alte faltete die Hände, schlug die Augen voller Tränen auf zum Himmel, seine Lippen bebten, er schien mit dem dahingeschiedenen Freunde zu reden. ,Verzeiht', wandte er sich dann zu Edgar, ,verzeiht, wenn mich ein düstres Mißtrauen zu einem Betragen gegen Euch zwang, das mir sonst nicht eigen. Man wollte vor einiger Zeit ahnen, daß die verruchte Arglist des Feindes so weit gehe, fremde Offiziere sich in unsere Heere schleichen zu lassen, um verderblichen Verrat zu bereiten. Die Vorfälle in Tarragona haben diese Ahnung nur zu sehr bestätigt, und schon hat die Junta beschlossen, alle fremde Offiziere zu entfernen. Don Joachim Blake hat indessen erklärt, daß vorzüglich fremde Ingenieure ihm unentbehrlich wären, dagegen aber feierlich versprochen, jeden Fremden, auf den der leiseste Verdacht des Verrats kommen werde, augenblicklich niederschießen zu lassen. Seid Ihr wirklich ein Freund meines Baldassare, so meint Ihr es gewiß tapfer und ehrlich - ich habe Euch indessen alles gesagt, und Ihr möget Euch darnach achten.' Damit ließ ihn der Alte stehen.

Alles Waffenglück schien von den Spaniern gewichen, der Todesmut der Verzweiflung vermochte nichts auszurichten gegen den immer näher andringenden Feind. Enger und enger wurde Valencia von allen Seiten umzingelt, so daß Blake, auf das Äußerste gebracht, beschloß, sich mit zwölftausend Mann der auserlesensten Truppen durchzuschlagen. Es ist bekannt, daß nur wenige durchkamen, daß die übrigen zum Teil getötet, zum Teil zurückgedrängt wurden in die Stadt. Hier war es, wo Edgar an der Spitze des tapfern Jägerregiments Ovihuela noch dem Feinde einige Momente Trotz zu bieten vermochte, so daß die wilde Verwirrung der Flucht weniger verderblich wurde. Aber wie bei Tarragona streckte ihn in dem Moment des wütendsten Kampfes eine Gewehrkugel nieder. —Den Zustand von diesem Augenblick

an bis zum klaren Bewußtsein beschrieb mir Edgar als unerklärlich seltsam. Oft war es ihm, als sei er in wilder Schlacht, er hörte den Donner des Geschützes, das wilde Geschrei der Kämpfenden, die Spanier rückten siegreich vor, aber als er, von freudiger Kampfeslust entflammt, sein Bataillon ins Feuer führen wollte, war er plötzlich gelähmt und versank in bewußtlose Betäubung; dann fühlte er wieder deutlich, daß er auf weichem Lager liege, daß man ihm kühles Getränk einflöße, er hörte sanfte Stimmen sprechen und konnte sich doch nicht aufraffen aus den Träumen. Einmal, als er wieder in dem dicksten Getümmel der Schlacht zu sein wähnte, war es ihm, als packe man ihn fest bei der Schulter, während ein feindlicher Jäger sein Gewehr auf ihn abschoß, so daß die Kugel seine Brust traf und sich auf unglaubliche Weise langsam einwühlte in das Fleisch unter den unsäglichsten Schmerzen, bis alles Gefühl unterging im tiefen Todesschlaf.

Aus diesem Todesschlaf erwachte Edgar plötzlich zu vollem Bewußtsein, doch in solcher seltsamer Umgebung, daß er durchaus nicht ahnen konnte, wo er sich befinde. Zu dem weichen und üppigen Lager mit seidenen Decken paßte nämlich gar schlecht das niedrige, kleine, gefängnisartige Gewölbe von rohen Steinen, in dem es stand. Eine düstere Lampe verbreitete nur ein sparsames Licht ringsumher, weder Türe noch Fenster war bemerkbar. Edgar richtete sich mühsam in die Höhe, da gewahrte er einen Franziskaner, der in einer Ecke des Gewölbes auf einem Lehnstuhl saß und zu schlafen schien. ,Wo bin ich?' rief Edgar mit aller Kraftanstrengung, deren er nur fähig.

Der Mönch fuhr auf aus dem Schlafe, schürte den Docht der Lampe, nahm sie, leuchtete Edgarn ins Gesicht, fühlte seinen Puls und murmelte etwas, das Edgar nicht verstand. Edgar war im Begriff, den Mönch zu befragen um alles, was sich mit ihm begeben, als geräuschlos sich die Wand zu öffnen schien und ein Mann hereintrat, den Edgar augenblicklich für den Alten von der Alameda her erkannte. Der

Mönch rief ihm zu, daß die Krisis vorüber sei und nun alles gut gehen werde. ,Gelobt sei Gott!' erwiderte der Alte und näherte sich Edgars Lager.

Edgar wollte sprechen, der Alte bat ihn aber zu schweigen, weil die mindeste Anstrengung zur Zeit ihm noch gefährlich sei. Zu denken sei es, daß es ihm unerklärlich sein müsse, sich in solchen Umgebungen wiederzufinden, wenig Worte würden aber hinreichen, ihn nicht nur ganz zu beruhigen, sondern ihm auch die Notwendigkeit zu zeigen, daß man ihn in diesen traurigen Kerker lagern müssen.

Edgar erfuhr nun alles. Als er, von einer Kugel in die Brust getroffen, niedersank, hatten ihn die unerschrockenen Kampfesbrüder, des fürchterlichsten Feuers ungeachtet, aufgerafft und in die Stadt hineingetragen. Es begab sich, daß hier im dicksten Getümmel Don Rafaele Marchez (so war der Alte geheißen) den verwundeten Edgar gewahrte und ihn, statt nach dem Spital, sogleich in sein Haus tragen ließ, um dem Freunde seines Baldassare alle nur mögliche Hülfe und Pflege angedeihen zu lassen. Die Wunde war zwar gefährlich genug, was aber Edgars Zustand besonders bedenklich machte, war das hitzige Nervenfieber, dessen Spuren sich schon früher gezeigt und das nun in voller Wut ausbrach. Man weiß, daß Valencia drei Tage und drei Nächte hindurch mit dem gräßlichsten Erfolg beschossen wurde, daß alles Schrecken, alles Entsetzen der furchtbarsten Belagerung sich in der von Menschen überfüllten Stadt verbreitete, daß derselbe Pöbel, der, von der Junta zur Wut aufgereizt, unter den fürchterlichsten Drohungen verlangte, Blake solle sich aufs äußerste verteidigen, nun bewaffnet den General zur augenblicklichen Übergabe zwingen wollte; daß Blake mit der Fassung eines Helden den zusammengerotteten Haufen durch wallonische Garden auseinandertreiben ließ, dann aber mit Suchet ehrenvoll genug kapitulierte. Don Rafaele Marchez wollte nicht, daß der todkranke Edgar dem Feinde in die Hände fallen sollte. Sowie die Kapitulation geschlossen und der Feind einrückte in Valencias

Mauern, schaffte er Edgarn hinab in das entlegene, jedem Fremden unentdeckbare Gewölbe. ,Freund meines verklärten Baldassare' (so schloß Don Rafaele Marchez seine Erzählung), ,seid auch der meinige, Euer Blut ist geflossen für mein Vaterland, jeder Tropfen fiel siedend heiß in meine Brust und vertilgte jede Spur des Mißtrauens, das in dieser verhängnisvollen Zeit sich nur zu leicht erzeugen muß. Dieselbe Glut, die den Spanier entflammt zum wütendsten Haß, lodert auch auf in seiner Freundschaft und macht ihn jeder Tat, jedes Opfers fähig für den Verbundenen. In meinem Hause wirtschaften die Feinde, doch Ihr seid in Sicherheit, denn ich schwöre Euch, geschieht Entsetzliches, so lasse ich mich eher unter den Trümmern von Valencia begraben, als daß ich Euch verriete. Glaubt mir das!'

Zur Tageszeit herrschte rings um Edgars verborgenes Gemach die tiefste Grabesstille, nachts dagegen war es Edgar oft, als höre er aus der Ferne den Widerhall leiser Tritte, das dumpfe Murmeln mehrerer Stimmen durcheinander, das Öffnen und Schließen von Türen, das Geklirre von Waffen. Ein unterirdisches Treiben schien zum Leben erwacht in den Stunden des Schlafes. Edgar befragte darum den Franziskaner, der ihn sehr selten nur auf Augenblicke verließ und ihn mit der unermüdlichsten Sorgfalt pflegte. Der meinte aber, sei er nur erst mehr genesen, so würde er wohl durch Don Rafaele Marchez erfahren, was in seiner Nachbarschaft sich begebe. Das geschah denn auch wirklich. Als nämlich Edgar so weit hergestellt, daß er sein Lager verlassen konnte, kam eines Nachts Don Rafaele mit einer angezündeten Fackel und lud Edgar ein, sich anzukleiden und ihm nebst dem Pater Eusebio, so hieß der Franziskaner, der sein Arzt und Krankenwärter, zu folgen.

Don Rafaele führte ihn durch einen schmalen, ziemlich langen Gang, bis sie an eine verschlossene Tür kamen, die auf Don Rafaeles Klopfen geöffnet wurde.

Wie erstaunte Edgar, als er in ein geräumiges, hell erleuchtetes Gewölbe trat, in dem sich eine zahlreiche Gesellschaft

von Leuten befand, die größtenteils ein schmutziges, wildes, trotziges Ansehen hatten. Mitten stand ein Mann, der, wie der gemeinste Bauer gekleidet, mit verwildertem Haar, alle Spuren eines heimatlosen Nomadenlebens an sich tragend, doch in seinem ganzen Wesen etwas Kühnes, Ehrfurchtgebietendes hatte. Die Züge seines Gesichtes waren dabei edel, und aus seinen Augen blitzte jenes kriegerische Feuer, das den Helden verrät. Zu diesem Mann führte Don Rafaele seinen Freund hin und kündigte ihn als den jungen tapferen Deutschen an, den er dem Feinde entrissen und der bereit sei, den großen Kampf für die Freiheit von Spanien mitzukämpfen. Dann sprach Don Rafaele, sich zu Edgar wendend: ,Ihr seht hier im Herzen von Valencia, von Feinden umlagert, den Herd, auf dem ewig das Feuer geschürt wird, dessen unlöschbare Flammen, immer mit verdoppelter Kraft auflodernd, den verruchten Feind vertilgen sollen in der Zeit, wenn er, durch sein trügerisches Waffenglück kühn und sicher geworden, schwelgen wird in trotzigem Übermut. Ihr befindet Euch in den unterirdischen Gewölben des Franziskanerklosters. Auf hundert, jeder Arglist verborgenen Schleichwegen kommen hier die Häupter der Tapfern zusammen und ziehen dann, wie aus einem Brennpunkt schießende Strahlen, hinaus nach allen Enden, um den verräterischen Fremdlingen, selbst nach durch Übermacht erzwungenen Siegen, Tod und Verderben zu bereiten. Wir betrachten Euch, Don Edgar, als der Unsrigen einen. Nehmt teil an der Glorie unserer Unternehmungen!'

Empecinado - niemand anders als das berühmte Haupt der Guerillas war jener Mann in Bauerntracht, Empecinado, dessen unerschrockene Kühnheit bis zum märchenhaften Wunder stieg, der wie der unvernichtbare Geist der Rache selbst allen Anstrengungen der Feinde Trotz bot und plötzlich, wenn er spurlos verschwunden schien, mit verdoppelter Stärke hervorbrach, der in dem Augenblick, als die Feinde die vollkommene Niederlage seiner Haufen verkündeten, vor den Toren von Madrid erschien und den Afterkönig

in Todesschrecken setzte - also Empecinado reichte Edgarn die Hand und redete zu ihm mit begeisterten Worten.

Man führte jetzt einen Jüngling gebunden herbei. Auf seinem todbleichen Antlitz lagen alle Spuren trostloser Verzweiflung, er schien zu beben, nur mit Mühe sich aufrecht zu erhalten, als man ihn hinstellte vor Empecinado. Der durchbohrte ihn schweigend mit seinem Flammenblick und begann endlich mit einer fürchterlichen, herzzermalmenden Ruhe: ,Antonio! Ihr steht in Eintracht mit dem Feinde, Ihr wart mehrmals zu ungewöhnlichen Stunden bei Suchet, Ihr habt unsre Waffenplätze in der Provinz Cuenca verraten wollen!' —,Es ist so', erwiderte Antonio mit einem schmerzlichen Seufzer, ohne das gesenkte Haupt emporzurichten. ,Ist es möglich?' rief nun Empecinado, in wildem Zorn aufbrausend, ,ist es möglich, daß du ein Spanier bist, daß das Blut deiner Vorfahren dir in den Adern rinnt? War deine Mutter nicht die Tugend selbst? Wäre der leiseste Gedanke, daß sie die Ehre ihres Hauses hätte beflecken können, nicht verruchter Frevel, ich würde glauben, du seist ein Bastard, aus dem Samen des verworfensten Volks der Erde entsprossen! Du hast den Tod verdient. Mache dich gefaßt zu sterben!' Da stürzte Antonio, ganz Jammer und Verzweiflung, hin zu Empecinados Füßen, indem er laut schrie: ,Oheim - Oheim! glaubt Ihr denn nicht, daß alle Furien der Hölle meine Brust zerfleischen? Habt Barmherzigkeit, habt Mitleiden! Bedenkt, daß die Arglist des Teufels oft alles vermag! — Ja, Oheim, ich bin ein Spanier, laßt mich das beweisen! — Seid barmherzig, vergönnt, daß ich die Schande, die Schmach, die die verruchtesten Künste der Hölle über mich gebracht, tilge, daß ich Euch, daß ich den Brüdern gereinigt erscheinen möge! — Oheim, Ihr versteht mich, Ihr wißt, warum ich Euch anflehe!'

Empecinado schien durch des Jünglings Flehen erweicht. Er hob ihn auf und sprach sanft: ,Du hast recht, die Arglist des Teufels vermag viel. Deine Reue ist wahr, muß wahr sein. Ich weiß, warum du flehst, ich verzeihe dir, Sohn der

geliebten Schwester! komm an meine Brust.' Empecinado löste selbst die Bande des Jünglings, schloß ihn in seine Arme und reichte ihm dann den Dolch, den er am Gürtel trug. ,Habe Dank', schrie der Jüngling, küßte Empecinados Hände, benetzte sie mit Tränen, hob den Blick betend gen Himmel, stieß sich den Dolch tief in die Brust und sank lautlos zusammen. Den kranken Edgar erschütterte der Auftritt dermaßen, daß er sich der Ohnmacht nahe fühlte. Pater Eusebio brachte ihn zurück in sein Gewölbe.

Als einige Wochen vergangen, glaubte Don Rafaele Marchez seinen Freund ohne Gefahr aus seinem Kerker, in dem er nicht genesen konnte, befreien zu dürfen. Er brachte ihn zur Nachtzeit herauf in ein einsames Zimmer, dessen Fenster in eine ziemlich entlegene Straße hinausgingen, und warnte ihn, wenigstens den Tag über nicht aus der Tür zu treten, der Franzosen halber, die im Hause einquartiert seien.

Selbst wußte Edgar nicht, woher die Lust kam, die ihn eines Tages anwandelte, auf den Korridor hinauszugehen. In demselben Augenblick, als er aus dem Zimmer trat, öffnete sich aber die Tür gegenüber, und ein französischer Offizier trat ihm entgegen.

,Freund Edgar, welches Geschick bringt Euch hieher? Seid tausendmal willkommen!' so rief der Franzose, stürzte auf ihn zu, umarmte ihn voller Freude. Edgar hatte augenblicklich den Obrist La Combe von der kaiserlichen Garde erkannt. Der Zufall hatte den Obristen gerade in der verhängnisvollsten Zeit der tiefen Erniedrigung des deutschen Vaterlandes in das Haus des Oheims geführt, bei dem Edgar, als er die Waffen ablegen müssen, sich aufhielt. La Combe war im südlichen Frankreich geboren. Durch seine unzweideutige Gutmütigkeit, durch die seiner Nation sonst eben nicht eigene Zartheit, womit er die tief Verletzten zu behandeln wußte, gelang es ihm, den Widerwillen, ja den unversöhnlichen Haß, der in Edgars Innerm gegen die übermütigen Feinde festgewurzelt, zu überwinden und zuletzt durch einige Züge, die La Combes wahrhaft edlen Sinn

außer Zweifel setzten, seine Freundschaft zu gewinnen. ,Edgar, wie kommst du hieher nach Valencia?' rief der Obrist. Man kann denken, wie sehr Edgar in Verlegenheit geriet; er vermochte nicht zu antworten. Der Obrist sah ihn starr an und sprach dann ernst: ,Ha! ich weiß, was dich hergebracht. Du hast deinem Haß Luft gemacht, du hast das Schwert der Rache gezückt für die vermeintliche Freiheit eines wahnsinnigen Volks - und - ich kann dir das nicht verdenken. Ich müßte deine Freundschaft nicht für echt halten, wenn du etwa glauben solltest, ich könnte dich verraten. Nein, mein Freund! nun ich dich gefunden, bist du erst in voller Sicherheit. Denn wisse, du sollst von nun an kein anderer sein als der reisende Geschäftsführer eines deutschen Handelshauses in Marseille, den ich längst gekannt, und damit gut!' Sosehr es Edgarn peinigte, La Combe ruhte nicht, bis er seine Klause verließ und mit ihm die bessern Zimmer bezog, die Don Rafaele Marchez ihm eingeräumt.

Edgar eilte, den mißtrauischen Spanier von dem ganzen Hergang der Sache, von dem Verhältnis mit La Combe, zu unterrichten. Don Rafaele begnügte sich, ernst und trocken zu erwidern: ,In der Tat, das ist ein sonderbarer Zufall!'

Der Obrist fühlte Edgars Lage ganz; indessen konnte er doch den seiner Nation eigentümlichen Sinn, dem lebendiges Bewegen in Lust und zerstreuendem Vergnügen als die tiefste Herzenswunde heilend erscheint, nicht verleugnen. So kam es, daß der Obrist mit dem Marseiller Kaufmann Arm in Arm täglich in der Alameda spazierte, ihn fortriß in die lustigen Gelage der bis zum tollen Übermut leichtsinnigen Kameraden.

Edgar bemerkte wohl, wie ihn manche seltsame Gestalten mit mißtrauischen Blicken verfolgten, und es fiel ihm nicht wenig aufs Herz, als er, mit dem Obristen in eine Posada eintretend, ganz deutlich hinter sich zischeln hörte: ,Aqui esta ei traidor!' (Da ist der Verräter!)

Don Rafaele wurde immer kälter und einsilbiger gegen Edgar, bis er zuletzt sich gar nicht mehr sehen und ihm

sagen ließ, er könne von nun an, statt daß er sonst mit ihm allein gegessen, mit dem Obristen La Combe speisen.

Eines Tages, als der Dienst den Obristen abgerufen und Edgar sich allein in dem Zimmer befand, klopfte es leise an die Tür, und Pater Eusebio trat herein. Eusebio fragte nach Edgars Gesundheit und sprach dann von allerlei gleichgültigen Dingen, bis er plötzlich innehielt und Edgarn tief ins Auge blickte, dann rief er tief bewegt: ,Nein, Don Edgar! Ihr seid kein Verräter! Es ist des Menschen Natur, daß er im wachen Traum, im betörenden Wahnsinn des Fiebers, wenn der Lebensgeist im harten Kampf begriffen mit der irdischen Hülle, wenn die stärker und stärker gespannten Fibern nicht mehr den fortbrausenden Gedanken zu hemmen vermögen -ja - daß er dann sein Innerstes zu erschließen gezwungen! Wie oft hab ich, Don Edgar, an Eurem Lager Nächte durchwacht, wie oft habt Ihr mich unbewußt in Eure tiefste Seele blicken lassen! Nein, Don Edgar, Ihr könnt kein Verräter sein. Aber seht Euch vor - seht Euch vor!' Edgar beschwor Eusebio, ihm zu sagen, welcher Verdacht auf ihm laste, welche Gefahr ihm drohe. ,Nicht verhehlen', sprach Eusebio, ,nicht verhehlen will ich Euch, daß Euer Umgang mit dem Obristen La Combe und seinen Gefährten Euch verdächtig gemacht hat, daß man fürchtet, Ihr könntet, wenn auch nicht aus bösem Willen, doch im fröhlichen Übermut, bei irgendeinem lustigen Gelage, wenn Ihr zuviel des starken spanischen Weins genossen, die Geheimnisse dieses Hauses verraten, in die Euch Don Rafaele eingeweiht. Ihr seid allerdings in einiger Gefahr! Doch', fuhr Eusebio, da Edgar nachdenklich schwieg, nach einer Weile mit niedergesenktem Blicke fort, ,doch gibt es ein Mittel, Euch aller Gefahr zu entreißen, Ihr dürft Euch nur dem Franzosen ganz in die Arme werfen, er wird Euch fortschaffen aus Valencia.' — ,Was sagt Ihr?' fuhr Edgar heftig auf, ,Ihr vergeßt, daß ich ein Deutscher bin! Nein, lieber vorwurfsfrei sterben, als Rettung suchen in elender Schmach!' — ,Don Edgar!' rief der Mönch begeistert, ,Don Edgar, Ihr

seid kein Verräter!' Dann drückte er Edgarn an die Brust und verließ mit Tränen in den Augen das Zimmer.

Noch in derselben Nacht, Edgar war einsam geblieben, der Obrist nicht zurückgekehrt, hörte Edgar Tritte sich nähern, und Don Rafaels Stimme rief: ,Macht auf, Don Edgar, macht auf!' Als Edgar öffnete, stand Don Rafaele vor ihm, mit einer Fackel in der Hand, neben ihm Pater Eusebio. Don Rafaele lud Edgarn ein, ihm zu folgen, da er einer wichtigen Beratung im Gewölbe des Franziskanerklosters beiwohnen müsse. Schon waren sie im unterirdischen Gange, Don Rafaele schritt mit der Fackel voraus, als Eusebio Edgarn leise zuflüsterte: ,0 Gott, Don Edgar, Ihr geht zum Tode, Ihr könnet nicht mehr entrinnen!'

Edgar hatte in manchem mörderischen Kampf sich fröhlichen Todesmut erhalten, doch hier mußte ihn wohl alle Bangigkeit, aller Schrecken des Meuchelmords, der auf ihn wartete, durchbeben, so daß ihn Eusebio mit Mühe aufrecht erhielt. Und doch gelang es ihm, da der Gang noch weit, nicht allein Fassung zu gewinnen, sondern auch zum festen Entschluß zu kommen, der ihn zum gefährlichen Spiel bestimmte. Als die Türen des Gewölbes sich öffneten, erblickte Edgar den furchtbaren Empecinado, aus dessen Augen Wut und Rache blitzten. Hinter ihm standen mehrere Guerillas und einige Franziskanermönche. Nun ganz ermutigt, trat Edgar keck und fest dem Haupt der Guerillas entgegen und sprach ernst und ruhig: ,Es schickt sich sehr gut, daß ich Euch heute zu Gesicht bekomme, Don Empecinado, schon wollt ich Don Rafaele ein Gesuch vortragen, dessen Gewährung ich nun von Euch selbst einholen kann. Ich bin — Vater Eusebio, mein Arzt und treuer Pfleger, wird es mir bezeugen - nun ganz genesen, ich fühle mich ganz erkräftigt und vermag die langweilige Ruhe meines Aufenthalts unter verhaßten Feinden nicht länger zu ertragen. Ich bitte Euch, Don Empecinado, laßt mich auf den Euch bekannten Schleichwegen hinausbringen, damit ich zu Euern Haufen stoße und Taten vollbringe, nach denen meine ganze

Seele dürstet.' — ,Hm', erwiderte Empecinado mit beinahe hämischem Ton, ,haltet Ihr es denn noch mit dem wahnsinnigen Volke, das lieber in den Tod gehen als der großen Nation huldigen will? haben Euch Eure Freunde nicht eines Bessern belehrt?' — ,Euch ist', sprach Edgar gefaßt, ,Euch ist der deutsche Sinn fremd, Don Empecinado, Ihr wißt nicht, daß der deutsche Mut, der in heller reiner Naphthaflamme unauslöschbar fortbrennt, daß die deutsche felsenfeste Treue der undurchdringliche Harnisch ist, von dem alle vergifteten Pfeile der Arglist und Bosheit wirkungslos abprallen. Ich bitte Euch nochmals, Don Empecinado, laßt mich hinaus ins Freie, damit ich die gute Meinung bewähre, die ich wohl schon verdient zu haben glaube!' Empecinado blickte Edgarn verwundert an, während ein dumpfes Murmeln durch die Versammlung lief. Don Rafaele wollte mit Empecinado sprechen, er wies ihn zurück, näherte sich Edgarn, faßte seine Hand und sprach bewegt: ,Ihr waret wohl heute zu etwas anderm berufen - doch - Don Edgar! denkt an Euer Vaterland! die Feinde, die es in Schmach versenkten, stehen auch hier vor Euch; denkt daran, daß zu dem Phönix, der mit leuchtendem Gefieder aus den Flammen emporsteigen wird, die hier gen Himmel lodern, auch Eure deutschen Brüder aufblicken werden, so daß dann die Verzweiflung glühende Sehnsucht werden muß, Todesmut und Todeskampf gebärend.' — ,Ich habe', erwiderte Edgar sanft, ,ich habe das alles bedacht, ehe ich mein Vaterland verließ, um mein Blut für Eure Freiheit zu verspritzen, mein ganzes Wesen löste sich auf in Rachedurst, als Don Baldassare de Luna sterbend in meinen Armen lag.' — ,Ist es Euch', rief nun Empecinado wie plötzlich in Zorn auflodernd, ,ist es Euch Ernst, so müßt Ihr noch in dieser Nacht fort - in diesem Augenblick - Ihr dürft nicht mehr zurück in Don Rafaeles Haus.' Edgar erklärte, daß dies eben sein Wunsch sei, und sogleich wurde er von einem Mann, der, Isidor Mirr geheißen, später sich zu einem Haupt der Guerillas emporschwang, und dem Pater Eusebio fortgebracht.

Nicht herzlich genug konnte auf dem Wege der gute Eusebio Edgarn seine Teilnahme an seiner Rettung versichern. ,Der Himmel', sprach er, ,nahm sich Eurer Tugend an und senkte den Mut in Eure Brust, der mir als ein göttliches Wunder erschien.' Viel näher vor Valencia, als geahnt worden, als der Feind wohl träumen mochte, fand Edgar den ersten Haufen Guerillas, dem er sich anschloß.

Ich schweige von Edgars kriegerischen Abenteuern, die manchmal einem ritterhaften Fabelbuch entlehnt scheinen möchten, und komme gleich zu dem Augenblick, als Edgar ganz unverhofft den Don Rafaele Marchez unter den Guerillas erblickte. ,Man hat Euch wirklich unrecht getan, Don Edgar', sprach Don Rafaele. Edgar drehte ihm den Rücken.

Sowie die Dämmerung einbrach, geriet Don Rafaele in eine Unruhe, die immer mehr und mehr stieg, bis zur qualvollsten Angst. Er lief hin und her, stöhnte, seufzte, hob die Hände gen Himmel, betete. ,Was ist dem Alten?' fragte Edgar. ,Es ist ihm gelungen', erwiderte Isidor Mirr, ,nachdem er selbst sich fortgeschlichen, seine besten Habseligkeiten aus Valencia zu retten und auf Maultiere laden zu lassen, die erwartet er in dieser Nacht und mag wohl Böses fürchten.' Edgar wunderte sich über Don Rafaeles Geiz, der ihn alles übrige vergessen zu lassen schien. Es war Mitternacht, der Mond leuchtete hell durch das Gebirge, als man aus der Schlucht herauf ein starkes Schießen vernahm. Bald hinkten schwerverwundete Guerillas hinan, welche verkündeten, daß der Trupp, der Don Rafaeles Maultiere geführt, ganz unerwartet von französischen Jägern überfallen worden sei. Beinahe alle Kameraden wären niedergemacht, die Maultiere schon in des Feindes Gewalt. ,Heiliger Gott, mein Kind, mein armes unglückliches Kind!' So kreischte Don Rafaele auf und sank besinnungslos zu Boden.

,Was ist da zu tun?' rief Edgar laut, ,auf - auf -Brüder, hinab in die Schlucht - hinab, den Tod unserer Tapfern zu rächen, den Hunden die gute Beute aus den Zähnen zu reißen.' — ,Der brave Deutsche hat recht!' rief Isidor Mirr,

,der brave Deutsche hat recht!' erscholl es ringsumher, und hinab in die Schlucht ging es wie brausender Gewittersturm!

Nur noch wenige Guerillas wehrten sich im Todesmut der Verzweiflung. Mit dem Schrei: ,Valencia!' stürzte sich Edgar in den dicksten Haufen der Feinde, und mit dem todverkündenden Gebrüll blutdürstiger Tiger stürzten die Guerillas ihm nach, stießen den von jähem Todesschreck gelähmten Feinden ihre Dolche in die Brust, schlugen sie nieder mit den Büchsenkolben. Die schnell Entrinnenden trafen wohlgezielte Schüsse. Das waren die Valencier, die die Kürassiere des General Moncey auf dem Marsche einholten, ihnen in die Flanke sprangen, sie, ehe ihnen die Besinnung kam, mit Dolchstößen niedermachten und, Meister der Waffen und Pferde, zurückkehrten in ihre Schlupfwinkel.

Schon war alles entschieden, als Edgar aus dem tiefsten Dickicht heraus ein durchdringendes Geschrei vernahm; schnell eilte er hin und gewahrte, wie ein kleiner Mensch, den Zügel des Maultiers, das hinter ihm stand, zwischen den Zähnen, mit einem Franzosen rang. In demselben Augenblick, ehe noch Edgar hervorgekommen, stieß der Franzose den Kleinen mit einem Dolch, den er ihm wahrscheinlich entwunden, nieder und wollte nun das Maultier fortzerren, tiefer in den Wald hinein. Edgar schrie laut auf, der Franzose schoß, fehlte, Edgar rannte ihm sein Bajonett durch den Leib. Der Kleine winselte. Edgar hob ihn auf, machte mit Mühe den Zügel los, in den er krampfhaft gebissen, und wurde nun erst, als er ihn auf das Maultier legen wollte, gewahr, daß eine verhüllte Gestalt darauf saß, die, niedergebeugt, den Hals des Tieres umklammert hatte und leise wimmerte. Hinter dem Mädchen, das war die Gestalt, der Stimme nach zu urteilen, legte nun Edgar den kleinen wunden Menschen, faßte die Zügel des Maultiers, und so ging's hinauf zu dem Waffenplatz, wo Isidor Mirr, da sich kein Feind mehr spüren lassen, mit den Kameraden schon angekommen.

Man hob den Kleinen, der ohnmächtig geworden vom Blutverlust, unerachtet die Wunde nicht tödlich schien, und

dann das Mädchen hinab von dem Maultiere. Aber in dem Augenblick stürzte Don Rafaele ganz außer sich, laut schreiend: ,Mein Kind - mein süßes Kind!', herbei. Er wollte die Kleine, kaum acht bis zehn Jahre schien das Mädchen alt zu sein, in seine Arme schließen, doch als nun der helle Fackelglanz Edgarn ins Gesicht leuchtete, fiel er plötzlich diesem zu Füßen und rief: ,0 Don Edgar, Don Edgar, vor keinem Sterblichen hat sich dieses Knie gebeugt, aber Ihr seid kein Mensch, Ihr seid ein Engel des Lichts, gesandt, mich zu retten vor tötendem Gram, trostloser Verzweiflung! O Don Edgar, hämisches Mißtrauen wurzelte in dieser unheilbrütenden Brust! O fluchwürdiges Unternehmen, Euch, den Edelsten der Menschen, Ehre und Mut im treuesten Herzen, stürzen zu wollen in schmachvollen Tod! Stoßt mich nieder, Don Edgar, nehmt blutige Rache an mir Elenden! Niemals könnt Ihr vergeben, was ich tat.'

Edgar, im vollen Bewußtsein, nichts mehr vollbracht zu haben, als was Pflicht und Ehre geboten, fühlte sich gepeinigt von Don Rafaeles Betragen. Er suchte ihn auf alle nur mögliche Weise zu beschwichtigen, welches ihm endlich mit Mühe gelang.

Don Rafaele erzählte, daß der Obrist La Combe ganz außer sich gewesen über Edgars Verschwinden, daß er, geschehenes Unheil ahnend, im Begriff gestanden, das ganze Haus durchwühlen und ihn, den Don Rafaele, selbst zur Haft bringen zu lassen. Dies habe ihn genötigt zu fliehen, und nur den Bemühungen der Franziskaner sei es gelungen, auch die Tochter, den Diener und manches, dessen er bedurfte, herauszuschaffen aus Valencia.

Man hatte unterdessen den wunden Diener sowie auch Don Rafaeles Tochter weiter fortgeschafft; Don Rafaele, zu alt, die kühnen Züge der Guerillas mitzumachen, sollte ihnen folgen. Beim wehmütigen Scheiden von Edgar händigte er ihm einen Talisman ein, der ihn aus mancher dringenden Gefahr rettete." — — So endigte Euchar seine Erzählung, die die Teilnahme der ganzen Gesellschaft erregt zu haben schien.

Der Dichter, der sich von seinem Stickhusten erholt hatte und wieder hereingetreten war, meinte, daß in Edgars spanischen Abenteuern viel guter Tragödienstoff enthalten, nur wünsche er einen geziemlichen Zusatz von Liebe und einen tüchtigen Schluß, einen honetten Mord, hinlänglichen Wahnsinn, Schlagfluß oder sonst dergleichen. "Ach ja, Liebe!" sprach ein Fräulein, indem sie verschämt errötete; "ein hübsches Liebesabenteuer fehlte Ihrer sonst sehr artigen Erzählung, lieber Baron." — "Habe ich", erwiderte Euchar lächelnd, "habe ich denn aber, meine Gnädige, einen Roman auftischen wollen? waren es nicht die Schicksale meines Freundes Edgar, von denen ich sprach, und dessen Leben in den wilden Gebirgen Spaniens war leider ganz arm an Abenteuern der Art." — "Ich glaube", murmelte Viktorine dumpf vor sich hin, "ich glaube diesen Edgar zu kennen, der arm geblieben, weil er die reichste Gabe verschmähte."

Keiner war aber so in Enthusiasmus geraten als Ludwig. Der rief überlaut: "Ja, ich kenne sie, die verhängnisvolle ,Profecia del Pirineo' des göttlichen Don Juan Bautista de Arriaza! O — sie goß Flammen in mein Inneres, ich wollte hin nach Spanien, wollte in den heißen Kampf treten, hätt es nur im Zusammenhange der Dinge gelegen. Ha! ich kann mich ganz in Edgars Lage versetzen, wie hätte ich in dem fatalen Augenblick im Franziskanergewölbe zu dem furchtbaren Empecinado gesprochen!" Ludwig begann nun eine Rede, die so pathetisch war, daß alles in Erstaunen geriet und nicht genug Ludwigs Mut, seine heroische Entschlossenheit bewundern konnte. "Aber es lag nicht im Zusammenhange der Dinge", unterbrach ihn die Präsidentin, "doch mag es in diesem Zusammenhange liegen oder vielmehr sich wohl schicken, daß ich eben heute meinen lieben Gästen eine Unterhaltung zugedacht, die der Erzählung unsers Euchar einen ganz charakteristischen erheiternden Schluß gibt."

Die Türen öffneten sich, herein trat Emanuela und hinter ihr der kleine verwachsene Biagio Cubas, mit der Chitarre in den Händen, sich auf seltsame Weise verbeugend. Doch mit

jener unbeschreiblichen Anmut, die die Freunde Ludwig und Euchar schon im Park bewundert, trat Emanuela in den Kreis, verbeugte sich und sprach mit holder süßer Stimme, daß sie gekommen, vor der Gesellschaft ein Talent zu zeigen, das vielleicht nur durch seine Fremdartigkeit ergötze.

Das Mädchen schien seit den wenigen Tagen, da die Freunde sie sahen, größer, reizender, vollendeter im Wuchs geworden zu sein, auch war sie sehr sauber, beinahe reich gekleidet. "Nun kannst du", zischelte Ludwig dem Freunde ins Ohr, während Cubas unter hundert sehr possierlichen Gebärden die Anstalten zum Fandango zwischen neun Eiern traf, "nun kannst du ja deinen Ring wiederfordern, Euchar!" — "Hasenfuß", erwiderte dieser, "du siehst ihn ja an meinem Finger, ich hatte ihn mit dem Handschuh abgestreift und fand ihn eben in dem Handschuh noch denselben Abend wieder." Emanuelas Tanz riß alles hin, denn niemand hatte Ähnliches jemals gesehen. Während Euchar den ernsten Blick unabgewandt auf die Tänzerin richtete, brach Ludwig los in laute Ausrufe des höchsten Entzückens. Da sprach Viktorine, neben der er saß, ihm ins Ohr: "Heuchler, Sie wagen es, mir von Liebe vorzureden, und sind verliebt in das kleine trotzige Ding, in die spanische Seiltänzerin? Wagen Sie es nicht mehr, sie anzuschauen." Ludwig wurde nicht wenig verlegen über Viktorinens ungeheure Liebe zu ihm, die so ohne alle vernünftige Ursache auf flammen konnte in Eifersucht. "Ich bin sehr glücklich", lispelte er vor sich selbst hin, "aber es geniert."

Nachdem der Tanz geendigt, nahm Emanuela die Chitarre und begann spanische Romanzen heitern Inhalts. Ludwig bat, ob es ihr nicht gefallen wolle, jenes hübsche Lied zu wiederholen, das sie seinem Freunde Euchar vorgesungen; Emanuela begann sogleich:



"Laure l'immortal al gran Palafox" etc.

Immer glühender wurde ihre Begeisterung, immer mächtiger ihrer Stimme Klang, immer stärker rauschten die Akkorde.

Endlich kam die Strophe, die des Vaterlandes Befreiung verkündet, da fiel ihr strahlender Blick auf Euchar, ein Tränenstrom stürzte ihr aus den Augen, sie sank nieder auf die Knie. Schnell sprang die Präsidentin hinzu, hob das Mädchen auf, sprach: "Nicht weiter, nicht weiter, mein süßes holdes Kind!", führte sie zum Sofa, küßte sie auf die Stirne, streichelte ihr die Wangen.

"Sie ist wahnsinnig, sie ist wahnsinnig!" rief Viktorine Ludwigen ins Ohr; "du liebst keine Wahnsinnige - nein! — sag es mir, sag es mir gleich auf der Stelle, daß du keine Wahnsinnige zu lieben vermagst!" —"Ach Gott, nein, nein!" erwiderte Ludwig ganz erschrocken. Er konnte sich in den Ausbruch der heftigsten Liebe Viktorinens gar nicht recht finden.

Während die Präsidentin Emanuelen süßen Wein und Biskuit einnötigte, damit sie sich nur erhole, wurde auch der wackre Chitarrist Biagio Cubas, der in einer Ecke des Zimmers niedergesunken war und sehr geschluchzt hatte, mit einem tüchtigen Glase echten Xeres bedient, das er mit einem fröhlichen: "Dona, viva listed mil anos!" bis auf den letzten Tropfen leerte.

Man kann denken, daß die Frauen nun herfielen über Emanuele und sie mit Fragen bestürmten nach ihrem Vaterlande, ihren Verhältnissen und so weiter. Die Präsidentin fühlte die peinliche Lage des Mädchens zu sehr, um sie nicht gleich daraus zu befreien, dadurch, daß sie den festgeschlossenen Kreis in mancherlei Wirbel aufzulösen wußte, in denen sich nun alle, selbst die Pikettspieler, drehten. Der Konsistorialpräsident meinte, die kleine Spanierin sei ein schmuckes allerliebstes Ding, nur ihr verwünschtes Tanzen sei ihm in die Beine gefahren und ihm manchmal so schwindlig zumute geworden, als ländre mit ihm der leidige Satan. Das Singen sei dagegen ganz was Apartes gewesen und habe ihn sehr ergötzt.

Graf Walther Puck war andrer Meinung. Er verachtete Emanuelens Gesang, da ihm das Trillo gemangelt, und

rühmte dagegen höchlich ihren Tanz, den er, wie er sich ausdrückte, ganz deliziös gefunden. Er bezog sich darauf, daß er sich auf so etwas sehr gut verstehe, da er sonst es dem besten Ballettmeister gleichgetan. "Kannst du", sprach Graf Walther Puck, "kannst du es dir vorstellen, Bruder Konsistorialpräsident, daß ich, als ein juveniler Ausbund aller Geschwindigkeit und Stärke, den Fiocco sprang und mit dem zartesten der Beine ein neun Fuß über meiner Nasenspitze aufgehängtes Tambourin hinabschlug? Und was den Fandango zwischen Eiern betrifft, so hab ich tanzend oft mehr Eier zerstampft, als sieben. Hennen des Tages legen konnten." — "Alle Teufel, das waren Kunststücke!" schrie der Konsistorialpräsident. "Und da", fuhr der Graf fort, "der gute Cochenille sehr amön das Flageolett bläst, so tanze ich noch zuweilen ausgelassen nach seinem Pfeiflein, wiewohl nur in meinem Zimmer ganz insgeheim." —"Das glaub ich", rief der Konsistorialpräsident laut lachend, "das glaub ich, Bruder Graf!" Unterdessen war Emanuele mit ihrem Cubas verschwunden.

Als die Gesellschaft sich trennen wollte, sprach die Präsidentin: "Freund Euchar! ich wette, Sie wissen noch mehr Interessantes von ihrem Freunde Edgar! Ihre Erzählung war ein Bruchstück, das uns alle so gespannt hat, daß wir eine schlaflose Nacht haben werden. Nicht länger als bis morgen abend gönne ich Ihnen Frist, uns zu beruhigen. Wir müssen mehr erfahren von Don Rafaele, Empecinado, den Guerillas, und ist es möglich, daß Edgar sich verlieben kann, so halten Sie damit nicht zurück." — "Das wäre herrlich!" rief es von allen Seiten, und Euchar mußte versprechen, sich am folgenden Abend mit dem zur Ergänzung seines Bruchstücks nötigen Material einzufinden.

Auf dem Heimwege konnte Ludwig nicht genug von Viktorinens bis an Wahnsinn grenzender Liebe zu ihm sprechen. "Aber", rief er, "sie hat mir durch ihre Eifersucht mein eignes Innres aufgeschlossen, ich habe einen tiefen Blick hineingetan und gefunden, daß ich Emanuelen unaussprechlich

liebe. Ich werde sie aufsuchen, ihr meine Liebe gestehen — sie an mein Herz drücken!" — "Tue das, mein Kind", erwiderte Euchar gelassen.

Als am andern Abend die Gesellschaft bei der Präsidentin versammelt, verkündigte sie mit Bedauern, daß Baron Euchar ihr geschrieben, wie ihn ein unvorhergesehenes Ereignis genötigt, plötzlich abzureisen, weshalb er die Ergänzung des Bruchstücks bis zu seiner Rückkunft verschieben müsse.



Euchars Rückkehr. Szenen einer durchaus glücklichen Ehe. Beschluß der Geschichte

Zwei Jahre mochten vergangen sein, als vor dem "Goldnen Engel", dem vornehmsten Wirtshause in W., ein stattlicher, schwerbepackter Reisewagen hielt, aus dem ein junger Mann, eine verschleierte Dame und ein alter Herr stiegen. Ludwig kam gerade des Weges und konnte nicht unterlassen, stehenzubleiben und die Ankömmlinge mit der Lorgnette zu betrachten. In dem Augenblick drehte sich der junge Mann um und stürzte mit dem Ausruf: "Ludwig, mein Ludwig, sei mir tausendmal gegrüßt!"Ludwigen in die Arme.

Der war aber nicht wenig verwundert, so ganz unerwartet seinen Freund Euchar wiederzusehen. Denn niemand anders war der junge Mann, der aus dem Reisewagen gestiegen. "Bester", sprach Ludwig, "wer ist denn die verschleierte Dame, wer der alte Herr, der mit dir gekommen? — Alles erscheint mir so seltsam und - da kommt ja noch ein Packwagen heran, und auf ihm sitzt - hilf Himmel! — seh ich recht?"

Euchar nahm Ludwigen unter den Arm, führte ihn einige Schritte über die Straße fort und sprach: "Du wirst alles zu seiner Zeit erfahren, geliebter Freund, aber für jetzt sage mir nur, was mit dir vorgegangen? — Du siehst leichenblaß aus, das Feuer deiner Augen ist erloschen, du bist, aufrichtig sag ich's dir, um zehn Jahre älter geworden. Hat dich eine schwere Krankheit heimgesucht? Drückt dich sonst ein böser

Kummer?" — "Ach nein", erwiderte Ludwig, "ich bin vielmehr der glücklichste Mensch unter der Sonne und führe ein wahres Schlaraffenleben in lauter Liebe und Lust. Denn wisse, seit länger als einem Jahr hat mir die himmlische Viktorine ihre zarte liebe Hand gereicht. Dort das schöne Haus mit den hellen Spiegelfenstern ist meine Residenz, und du könntest nichts Gescheiteres tun, als gleich mit mir kommen und mich besuchen in meinem irdischen Paradiese. Wie wird sich mein gutes Weib freuen, dich wiederzusehen. Überraschen wir sie!" Euchar bat nur um Frist, die Kleider zu wechseln, und versprach dann zu kommen und zu vernehmen, wie sich alles zu Ludwigs Glück gefügt.

Ludwig empfing den Freund unten an der Treppe und bat, so leise als möglich aufzutreten, da Viktorine häufig, und jetzt eben stärker, an nervösen Kopfschmerzen leide, die sie in solch reizbaren Zustand versetzten, daß sie die leisesten Tritte im Hause vernehme, unerachtet ihre Gemächer im entferntesten Teile des Flügels befindlich. Beide schlichen nun sachte, sachte über die mit Decken belegten Stufen durch den Korridor und in Ludwigs Zimmer hinein. Nach herzlichen Ergießungen der Freude des Wiedersehens zog Ludwig an der Schelle, rief aber auch gleich: "Gott! — Gott! was hab ich getan - ich Unglücklicher!" und hielt beide Hände vors Gesicht. Es dauerte auch nicht lange, so stürzte ein schnippisches Ding von Kammermädchen hinein und schrie Ludwigen mit gemeinem kreischenden Ton an: "Herr Baron, was fangen Sie an? wollen Sie die arme Frau Baronin töten, die schon in Krämpfen liegt?" — "Ach Gott", lamentierte Ludwig, "bestes Nettchen, in der Freude hab ich nicht daran gedacht! Nun - hier der Herr Baron, mein bester Herzensfreund ist angekommen - seit Jahren haben wir uns nicht gesehen - ein alter intimer Freund deiner Frau -bitte sie, flehe sie an, daß sie vergönne, ihn ihr vorzustellen. Tue das, bestes Nettchen!"Ludwig drückte ihr Geld in die Hand, und sie verließ mit einem schnippischen: "Ich will sehen, was zu machen ist"das Zimmer.

Euchar, der hier einen Auftritt sah, wie er sich nur zu oft im Leben begibt und daher in hundert Romanen und Komödien aufgetischt wird, hatte seine besonderen Gedanken über des Freundes häusliches Glück. Er fühlte mit Ludwig die Pein des Moments und begann sich nach gleichgültigen Dingen zu erkundigen. Ludwig ließ sich aber gar nicht darauf ein, sondern meinte, es sei ihm doch gar zu merkwürdig in der Zwischenzeit ergangen, und das müsse er erzählen.

"Du erinnerst", begann er, "du erinnerst dich gewiß jenes Abends bei der Präsidentin Veehs, als du die Geschichte aus dem Leben deines Freundes Edgar erzähltest. Du erinnerst dich auch, wie dann Viktorine in Eifersucht erglühte und ihr von Liebe zu mir entflammtes Herz ganz und gar erschloß. Und ich Tor, ich gestand dir's ja, ich Tor verliebte mich sehr in die kleine spanische Tänzerin und las wohl in ihren Blicken, daß ich nicht hoffnungslos liebe. Du wirst bemerkt haben, daß, als sie beim Schluß des Fandango die Eier in eine Pyramide zusammenschob, die Spitze dieser Pyramide mir, der ich gerade in der Mitte des Kreises hinter dem Stuhle der Veehs stand, zugerichtet war. Nun, konnte sie besser ausdrücken, wie sehr ich sie interessiere? Ich wollte den andern Tag das liebe Ding aufsuchen, aber es lag nicht im Zusammenhang der Dinge, daß es geschah. Ich hatte die Kleine beinahe ganz vergessen, als der Zufall -"

"Der Zusammenhang der Dinge", fiel ihm Euchar ins Wort.

"Nun ja wohl", sprach Ludwig weiter, "genug, ich ging einige Tage darauf durch unsern Park, vor dem Wirtshause vorüber, wo wir damals unsere kleine Spanierin zum erstenmal sahen. Da sprang die Wirtin - du glaubst gar nicht, was die gute Frau, die mir damals Essig und Wasser für mein wundes Knie reichte, für ein Interesse für mich gefaßt hatte -, ja, die Wirtin sprang auf mich zu und fragte sehr angelegentlich, wo denn die Tänzerin mit ihrem Begleiter

geblieben sei, die ihr so vielen Besuch verschafft, sie ließe sich schon seit mehreren Wochen gar nicht sehen. Ich wollte mir andern Tages alle Mühe geben zu erforschen, ob sie noch im Orte oder nicht, es lag aber nicht im Zusammenhang der Dinge, daß es geschah. Mein Herz bereute auch jetzt gar sehr die Torheit, die ich begehen wollen, und wandte sich wieder ganz der himmlischen Viktorine zu. In ihr nur zu reizbares Gemüt war aber mein Attentat der Untreue so tief eingedrungen, daß sie mich gar nicht sehen, nichts von mir hören wollte. Der liebe Cochenille versicherte, daß sie in tiefe Melancholie verfallen, daß sie oft in Tränen ersticken wolle, daß sie ganz trostlos rufe: "Ich habe ihn verloren, ich habe ihn verloren!" Du kannst denken, welche Wirkung dies auf mich machte, wie ich ganz aufgelöst war in Schmerz über das unglückliche Mißverständnis. Cochenille bot mir seine Hülfe an, er wollte die Komtesse auf schlaue Weise von meiner wahren Gesinnung unterrichten, ihr meine Verzweiflung schildern, ihr sagen, daß ich nicht mehr derselbe sei, daß ich auf den Bällen höchstens viermal tanze, im Theater gedankenlos in die Kulissen hineinstarre, meinen Anzug vernachlässige und so fort. Ich ließ ihm reichlich Goldstücke zufließen, und er brachte mir dafür jeden Morgen eine neue Hoffnung. Endlich ließ sich Viktorine wieder sehen. Ach, wie schön sie war! O Viktorine, mein holdes, liebes, süßes Weib, die Anmut selbst und die Güte!"

Nettchen trat herein und kündigte Ludwigen an, daß die Frau Baronin ganz erstaunt wären über die seltsamen Einfälle, die den Herrn Baron heute betörten. Erst klingelten Sie, als sei Feuer im Hause, und dann verlangten Sie, daß die todkranke Frau Baronin von Besuchen belästigt werden solle. Sie könne heute niemanden sehen und ließe sich bei dem fremden Herrn entschuldigen. Nettchen sah Eucharn starr in die Augen, maß ihn von Kopf bis zu Fuß und verließ dann das Zimmer.

Ludwig sah schweigend vor sich nieder und fuhr dann

etwas kleinlaut fort: "Du glaubst gar nicht, mit welcher beinahe verhöhnenden Kälte mir Viktorine begegnete. Hätten nicht die früheren Ausbrüche der glühendsten Liebe mich überzeugt, daß die Kälte erheuchelt, um mich zu strafen, in der Tat, ich wäre in manche Zweifel geraten. Endlich wurde ihr die Verstellung zu schwer, ihr Betragen freundlicher und freundlicher, bis sie zuletzt auf einem Ball mir ihren Shawl anvertraute. Da war mein Triumph entschieden. Ich arrangierte jene verhängnisvolle Seize zum zweitenmal, tanzte göttlich mit ihr, mit ihr, der Himmlischen, flüsterte ihr, auf der rechten Fußspitze balancierend und die Holde umfangend, zu: ,Göttliche, himmlische Komteß, ich liebe Sie unaussprechlich, ich bete Sie an. — Sein Sie mein, Engel des Lichts!' — Viktorine lachte mir ins Gesicht, das hielt mich aber nicht ab, den andern Morgen zu schicklicher Zeit, das heißt um ein Uhr, hinzugehen, mir durch meinen Freund Cochenille den Zutritt zu ihr zu verschaffen und sie anzuflehen um ihre Hand. Sie sah mir schweigend ins Gesicht, ich warf mich vor ihr nieder, faßte die Hand, die mein werden sollte, bedeckte sie mit glühenden Küssen. Sie ließ das geschehen, aber es wurde mir in der Tat seltsam zumute, als ihr ernster, starrer Blick mir wie ohne Sehkraft, als sei sie ein lebloses Bild, schien. Doch endlich traten ein paar große Tränen ihr in die Augen, sie drückte mir die Hand so heftig, daß ich, da ich gerade einen wunden Finger, hätte aufschreien mögen, stand auf, verließ, das Schnupftuch vor dem Gesicht, das Zimmer. — Mein Glück war mir nicht zweideutig, ich eilte zum Grafen und hielt um die Tochter an. ,Schön, sehr schön, allerliebst, bester Baron', sprach der Graf, wohlgefällig lächelnd, ,aber haben Sie der Gräfin schon etwas merken lassen, sind Sie geliebt? ich bin, als ein wahrer Tor, ungemein portiert für die Liebe!' Ich erzählte dem Grafen, wie es sich mit der Seize begeben. Seine Augen funkelten vor Freude. ,Das ist deliziös, das ist ganz deliziös', rief er ein Mal über das andere. ,Wie war die Tour, bester Baronetto?' fragte er mich dann. Ich tanzte die Tour und blieb stehen in der Stellung, wie ich sie erst beschrieben. ,Scharmant, englischer Freund, in der Tat ganz scharmant', rief der Graf voll Entzücken, schellte, schrie laut zur Tür hinaus: ,Cochenille, Cochenille!'

Als Cochenille gekommen, mußte ich ihm die Musik zu meiner Seize vorsingen, die ich selbst komponiert. ,Nehmen Sie Ihr Flageolett zur Hand, Cochenille, und blasen Sie dasjenige, was der Herr Baron Ihnen vorgesungen.' So sprach der Graf. Cochenille führte gut genug aus, was ihm geboten, ich mußte mit dem Grafen tanzen, seine Dame vorstellen, und, ich hätt es dem Alten nicht zugetraut, auf der rechten Fußspitze schwebend, flüsterte er mir zu: ,Auserwähltester der Barone, meine Tochter Viktorine ist die Ihrige!'

Die holde Viktorine zierte sich, wie das nun einmal Mädchen zu tun pflegen. Sie blieb stumm und starr, sagte nicht nein, nicht ja und betrug sich überdem gegen mich so, daß aufs neue meine Hoffnungen sanken. Dazu kam, daß ich eben jetzt erfuhr, wie damals, als ich in der Seize die Kusine faßte statt Viktorinen, die Mädchen den heillosen Spaß verabredet hatten, um mich auf entsetzliche Weise zu mystifizieren. In der Tat, ich wurde ganz betrübt und wollte beinahe meinen, daß es im Zusammenhang der Dinge läge, mich bei der Nase herumführen zu lassen. — Unnütze Zweifel - ehe ich mir's versah - ganz unerwartet, gerade als ich in das tiefste Leid versunken, bebte das himmlische Ja! von den süßesten Lippen! — Nun wurde ich recht gewahr, welchen Zwang sich Viktorine angetan, denn sie war nun so ausgelassen lustig und heiter, wie man sie niemals gesehen. Daß sie mir die unschuldigste Liebkosung versagte, daß ich kaum ihre Hand zu küssen wagen durfte - nun, das war wohl übertriebene Sprödigkeit. Manche von meinen Freunden wollten mir zwar allerlei dummes Zeug in den Kopf setzen, der Tag vor meiner Vermählung war aber dazu bestimmt, die letzten Zweifel aus meiner Seele zu vertilgen. — Am frühen Morgen eilte ich zu meiner Braut. Ich fand sie nicht in ihrem Zimmer. Auf ihrem Arbeitstisch liegen

Papiere. — Ich werfe einen Blick darauf, es ist Viktorinens saubere, niedliche Handschrift - ich lese - es ist ein Tagebuch - o Himmel - o all ihr Götter! jeder Tag gibt mir einen neuen Beweis, wie glühend, wie unaussprechlich mich Viktorine von jeher liebte - der kleinste Vorfall ist aufgezeichnet, .und immer heißt es: ,Du verstehst dies Herz nicht — Unempfindlicher! soll ich, im Wahnsinn der Verzweiflung alle Scham verleugnend, dir zu Füßen sinken, dir sagen, daß ohne deine Liebe mir das frische Leben Grabesnacht dünkt?' — Und in diesem Ton ging es weiter fort! — Eben an dem Abend, als ich in Liebe entbrannte zur kleinen Spanierin, lese ich: ,Alles ist verloren - er liebt sie, nichts ist gewisser. Wahnsinniger, weißt du nicht, daß der Blick des liebenden Weibes das Innerste zu durchschauen vermag?' — Ich lese das laut; in dem Augenblicke tritt Viktorine hinein, mit dem Tagebuch in der Hand stürze ich vor ihr nieder, schreie: ,Nein, nein, niemals liebte ich jenes seltsame Kind, du, du allein warst mein Abgott immerdar!' — Da starrt mich Viktorine an, ruft mit einer gehenden Stimme, die mir noch in die Ohren klingt: ,Unglückseliger, dich habe ich nicht gemeint!', verläßt mich schnell, in das andre Zimmer eilend. —Vermagst du dir es zu denken, daß weibliche Ziererei soweit gehen kann!"

Nettchen kam in diesem Moment und erkundigte sich im Namen der Frau Baronin, woran es denn liege, daß der Herr Baron ihr nicht den Fremden zuführe, sie warte schon eine halbe Stunde vergebens auf den ihr zugedachten Besuch. "Ein herrliches, treffliches Weib", sprach der Baron gerührt, "sie opfert sich für meine Wünsche." Euchar verwunderte sich nicht wenig, die Baronin völlig angekleidet, beinahe geputzt anzutreffen.

"Hier bringe ich dir unsern teuern Euchar, wir haben ihn wieder!" so rief Ludwig; als aber Euchar sich der Baronin näherte, ihre Hand faßte, überfiel sie ein heftiges Zittern, und mit einem leisen: "0 Gott!" sank sie ohnmächtig in den Lehnsessel.

Euchar, der die Pein des Augenblicks nicht zu ertragen vermochte, entfernte sich schnell. "Unglückseliger", sprach er zu sich selbst, "nein! du warst nicht gemeint!" Er übersah nun das grenzenlose Elend, in das Mißverständnisse der unbegreiflichen Eitelkeit den Freund gestürzt hatten, er wußte nun, wem Viktorinens Liebe gegolten, und fühlte sich auf seltsame Weise bewegt. Jetzt erst wurde ihm mancher Moment klar, den er in seiner unbefangenen Geradheit nicht beachtet, jetzt erst durchschaute er die leidenschaftliche Viktonne ganz und gar und begriff selbst kaum, daß er ihre Liebe nicht geahnt. Jene Momente, in denen sich Viktorinens Liebe beinahe rücksichtslos offenbarte, gingen ihm hell in der Seele auf, und er empfand lebhaft, daß gerade dann ein seltsamer unerklärlicher Widerwille gegen das schöne holde Mädchen ihn in die unmutigste Stimmung versetzt hatte. Diesen bittern Unmut richtete er nun gegen sich selbst, indem ihn tiefes Mitleiden für die Arme, über die ein finstrer Geist gewaltet, durchdrang.

Gerade denselben Abend war die Gesellschaft bei der Präsidentin Veehs versammelt, der Euchar vor zwei Jahren von Edgars Abenteuern in Spanien erzählt hatte. Man empfing ihn mit dem fröhlichsten Jubel, doch wie ein elektrischer Schlag traf es ihn, als er Viktorinen erblickte, die er durchaus nicht vermutet. Keine Spur von Krankheit war an ihr zu bemerken, ihre Augen strahlten feurig wie sonst, und ein sorgfältig gewählter geschmackvoller Putz erhöhte ihre Schönheit und Anmut. Euchar, von ihrer Gegenwart gepeinigt, schien, wie es sonst gar nicht seine Art war, gedrückt, verlegen. Viktorine wußte geschickt sich ihm zu nähern, faßte plötzlich seine Hand, zog ihn beiseite, sprach ernst und ruhig: "Sie kennen meines Mannes System vom Zusammenhange der Dinge. Den wahren Zusammenhang unsers ganzen Seins bilden, denk ich, die Torheiten, die wir begehen, bereuen und wieder begehen, so daß unser Leben ein toller Spuk scheint, der uns, unser eigenes Ich rastlos verfolgt, bis er uns zu Tode neckt und hetzt! — Euchar!

ich weiß alles, ich weiß, wen ich noch diesen Abend sehen werde - ich weiß, daß Sie erst heute mich verstanden haben. — Nicht Sie, nein, ein böser Geist nur brachte bittern hoffnungslosen Schmerz über mich! — Der Dämon ist gewichen in dem Augenblick, als ich Sie wiedersah! — Frieden und Ruhe über uns, Euchar!" — "Ja", erwiderte Euchar gerührt, "ja, Viktorine, Frieden und Ruhe über uns, die ewige Macht läßt kein mißverstandenes Leben ohne Hoffnung." — "Es ist nun alles vorüber und gut", sprach Viktorine, drückte eine Träne aus dem Auge und wandte sich zur Gesellschaft.

Die Präsidentin hatte das Paar beobachtet und flüsterte nun Eucharn zu: "Ich habe ihr alles gesagt, tat ich recht?" — "Muß ich", erwiderte Euchar, "muß ich mich denn nicht allem unterwerfen?"

Die Gesellschaft nahm nun, wie es wohl zu geschehen pflegt, einen neuen Anlauf zur Freude und Verwunderung über Euchars unverhoffte Rückkunft und bestürmte ihn mit Fragen, wo er gewesen, was sich mit ihm unter der Zeit begeben.

"Eigentlich", hob jetzt Euchar an, "bin ich nur gekommen, um das vor zwei Jahren gegebene Wort zu lösen, nämlich noch manches von meines Freundes Edgar Schicksalen zu erzählen, ja jene Erzählung ordentlich abzurunden und ihr einen Schlußstein zu geben, den der Herr Dichter dort damals vermißte. Darf ich nun noch versichern, daß, keine finstere Gewölber, keine Mordtaten und dergleichen fürder vorkommen werden, ja daß dagegen nach dem Wunsche der Damen von hinlänglich romantischer Liebe die Rede sein wird, so kann ich wohl auf einigen gerechten Beifall hoffen." Alle applaudierten sehr und rückten schnell in einen engen Kreis zusammen. Euchar nahm den Rednerstuhl ein und begann ohne weiteres:

"Die seltsamen, zum Teil märchenhaften Kriegsabenteuer, welche Edgar bestand, während er mit den Guerillas focht, übergehe ich und bemerke nur, daß der Talisman, den ihm Don Rafaele Marchez bei dem Abschiede einhändigte, ein

kleiner Ring mit geheimnisvollen Chiffern war, der ihn als einen in die geheimsten Bündnisse Eingeweihten bezeichnete, ebendaher ihm aber überall bei den Kundigen das unbedingteste Vertrauen erwarb und ferner eine Gefahr, der ähnlich, der er in Valencia ausgesetzt gewesen, unmöglich machte. Später begab er sich zu den englischen Truppen und focht unter Wellington. Keine feindliche Kugel traf ihn mehr, frisch und gesund kehrte er nach dem beendigten Feldzuge in sein Vaterland zurück. Den Don Rafaele Marchez hatte er weder selbst wiedergesehen, noch von seinen Schicksalen weiter etwas vernommen. Längst war Edgar in seiner Vaterstadt, als ihm eines Tages der kleine Ring des Don Rafaele, den er beständig am Finger trug, auf besondere Weise abhandengekommen war. Den andern Morgen in aller Frühe trat ein kleiner seltsamer Mensch ins Zimmer, hielt ihm den verlornen Ring vor Augen und fragte, ob es nicht der seinige sei. Sowie Edgar dies aber freundlich bejahte, rief der Mensch ganz außer sich auf spanisch: ,0 Don Edgar, Ihr seid es - Ihr seid es, es ist gar kein Zweifel mehr!' Nun kamen Edgar des kleinen Menschen Gesichtszüge, seine Gestalt ins Gedächtnis zurück, es war Don Rafaeles treuer Diener, der mit dem Löwenmut der Verzweiflung Don Rafades Kind zu retten trachtete. ,Um aller Heiligen willen, Ihr seid der Diener des Don Rafaele Marchez! ich kenne Euch wieder - wo ist er? ha! eine seltsame Ahnung will sich bewähren!' So rief Edgar, doch der Kleine beschwor ihn, nur gleich mit ihm zu gehen!

Der Kleine führte Edgarn in die entfernteste Vorstadt, stieg mit ihm herauf bis zur Bodenkammer eines elenden Hauses. Welch ein Anblick! Siech, abgezehrt, alle Spuren des tötenden Grams auf dem todbleichen Antlitz, lag Don Rafaele Marchez auf einem Strohlager, vor dem ein Mädchen - ein Kind des Himmels, kniete! Sowie Edgar eintrat, stürzte das Mädchen auf ihn zu, riß ihn hin zu dem Alten, rief mit dem Ton des inbrünstigsten Entzückens: ,Vater - Vater, er ist es, nicht wahr, er ist es?' — ,Ja', sprach der

Alte, indem seine erloschenen Augen aufleuchteten und er mühsam die gefalteten Hände zum Himmel erhob, ,ja, er ist es, unser Retter! — O Don Edgar, wer hätt es gedacht, daß die Flamme, die in mir aufglühte für Vaterland und Freiheit, sich verderblich gegen mich selbst richten sollte!'

Nach den ersten Ausbrüchen des höchsten Entzückens, des tiefsten Schmerzes erfuhr Edgar, daß es der ausgedachtesten Bosheit der Feinde Don Rafaeles gelungen war, ihn nach hergestellter Ruhe der Regierung verdächtig zu machen, die das Verbannungsurteil über ihn aussprach und sein Vermögen konfiszierte. Er geriet in das tiefste Elend. Die fromme Tochter, der treue Diener ernährten ihn durch Gesang und Spiel." —"Das ist Emanuele, das ist Biagio Cubas", rief Ludwig laut, und alle riefen ihm durcheinander nach: "Ja, ja, das ist Emanuele - das ist Cubas

Die Präsidentin gebot Ruhe, indem der Redner, wenn sich auch manches nach und nach aufzuklären scheine, doch nicht unterbrochen werden dürfe, vielmehr zum völligen Schluß der Geschichte kommen müsse. Übrigens glaube sie zu erraten, daß Edgar, sowie er die holde Emanuele erblickt, in die glühendste Liebe gekommen. "So ist es", nahm Euchar das Wort, indem eine leichte Röte sein Gesicht überflog, "so ist es in der Tat. Schon früher, als er das wunderbare Kind schaute, durchbebten süße Ahnungen seine Brust, und das noch nie gekannte Gefühl der inbrünstigsten Liebe entzündete sein ganzes Wesen! — Edgar mußte, konnte helfen. Er brachte den Don Rafaele, Ernanuelen sowie den treuen Cubas (ich selbst half das vermitteln) auf das Gut seines Oheims. Don Rafaeles Glücksstern schien nun wieder aufgehen zu wollen, denn bald darauf erhielt er einen Brief von dem frommen Vater Eusebio, in dem es hieß, daß die Brüder, bekannt mit den verborgenen Winkeln seines Hauses, den nicht unbeträchtlichen Schatz an Gold und Juwelen, den er vor seiner Flucht eingemauert, in das Kloster geborgen hätten und daß es nur darauf ankäme, ihn durch eine sichere Person abholen zu lassen.

Edgar entschloß sich, augenblicklich mit dem treuen Cubas hinzureisen nach Valencia. Er sah seinen frommen Pfleger, den Vater Eusebio, wieder, Don Rafaeles Schatz wurde ihm ausgehändigt. Doch er wußte, daß wohl mehr als aller Reichtum dem Rafaele Marchez seine Ehre galt. Es gelang ihm, in Madrid der Regierung die völlige Unschuld Don Rafaeles darzutun, der Bann wurde aufgehoben."

Die Türen gingen auf, hinein trat eine prächtig gekleidete Dame, hinter ihr ein alter Mann von hohem stolzen Ansehen. Die Präsidentin eilte ihnen entgegen, führte die Dame in den Kreis - alle waren von ihren Plätzen aufgestanden - und sprach: "Donna Emanuela Marchez, die Gemahlin unsers Euchar - Don Rafaele Marchez!"

"Ja", sprach Euchar, indem die Seligkeit des gewonnenen Glücks aus seinen Augen leuchtete, auf seinen Wangen schimmerte in glühendem Rot, "ja, es blieb wirklich nur noch übrig zu sagen, daß der, den ich Edgar nannte, niemand anders ist als ich selbst." Viktorine schloß die in dem mächtigsten Liebreiz strahlende Emanuela in die Arme, drückte sie heftig an ihre Brust, beide schienen sich schon zu kennen, Ludwig sprach aber, indem er einen etwas trüben Blick auf die Gruppe warf: "Das alles lag im Zusammenhang der Dinge!"



Die Freunde waren mit Sylvesters Erzählung zufrieden und stimmten vorzüglich darin überein, daß Euchars Schicksale in Spanien während des Befreiungskrieges, so episodisch sie eingeflochten schienen, doch der Kern des Ganzen wären und deshalb von guter Wirkung, weil alles darin auf wahrhaft historischer Basis beruhe.

"Es ist", nahm Lothar das Wort, "es ist gar nicht zu bezweifeln, daß die Geschichte Eigentümliches darbietet, das der ohne Halt im Leeren schwebende Geist zu schaffen sich vergebens bemüht. Ebenso gibt das geschickte Benutzen der historisch wahren Gebräuche, Sitten, herkömmlichen Gewohnheiten

irgendeines Volkes oder einer besondern Klasse desselben der Dichtung eine besondere Lebensfarbe, die sonst schwer zu erlangen. Doch sag ich ausdrücklich: das geschickte Benutzen; denn in der Tat, das Erfassen des geschichtlich Wahren, der Wirklichkeit in einer Dichtung, deren Begebnisse ganz der Phantasie angehören, ist nicht so leicht, als mancher wohl denken möchte, und erfordert allerdings ein gewisses Geschick, das nicht jedem eigen und ohne welches statt einer frischen Lebendigkeit nur ein mattes schielendes Scheinleben zutage gefördert wird. So kenne ich Dichtungen, vorzüglich von schriftstellerischen Frauen, in denen man jeden Augenblick gewahrt, wie in jenen Farbentopf getunkt und doch am Ende nichts herausgebracht wurde als ein wirres Gemengsel von bunten Strichen, da, wo es abgesehen war auf ein recht lebendiges Bild."

"Ich gebe", sprach Ottmar, "dir vollkommen recht, und nachdem ich flüchtig an einen gewissen Roman einer sonst genugsam geistreichen Frau gedacht, dem es trotz aller Pinselei aus jenem Farbentopfe durchaus an aller Lebendigkeit, an aller poetischen Wahrheit mangelt, und ihn schnell wieder vergessen, will ich dir nur sagen, daß gerade das Geschick, die Wirklichkeit, das geschichtlich Wahre aufzufassen, die Werke eines Dichters auszeichnen mag, der seit nicht gar langer Zeit unter uns bekannt worden. Ich meine den engländischen Walter Scott. Zwar las ich erst seinen ,Astrologen', aber - ex ungue leonem. — Gleich die Exposition in diesem Roman ist gegründet auf schottische Sitten, dem Lande eigentümliche Einrichtungen, aber ohne diese zu kennen, wird man von der frischen Lebendigkeit aller Gebilde ergriffen auf wunderbare Weise, und um so mehr ist diese Exposition durchaus meisterhaft zu nennen, als man, wie durch einen Zauberschlag, versetzt wird - ich bediene mich, da keine Frauen zugegen, eines zweiten lateinischen Ausspruchs - medias in res. Dabei besitzt Scott eine seltene Kraft, mit wenigen starken Strichen seine Figuren so hinzustellen, daß sie alsbald lebendig herausschreiten aus dem

Rahmen des Gemäldes und sich bewegen in dem eigentümlichsten Charakter. Scott ist eine herrliche Erscheinung in der englischen Literatur, er ist ebenso lebendig als Smollett, wiewohl viel klassischer und edler, doch fehlt ihm nach meiner Meinung das Brillantfeuer des tiefen Humors, der aus Sternes und Swifts Werken hervorblitzt."

"Mir", begann Vinzenz, "mir geht es zur Zeit ebenso wie dir, Ottmar! Nur den ,Astrologen' allein habe ich von Scotts Werken gelesen, aber auch mich hat der originelle Roman gar sehr angesprochen, der in seinem methodischen Fortschreiten einem Knäuel zu vergleichen, der ruhig abgewickelt wird und dessen festgesponnener Faden niemals reißt. Was mir zu tadeln, aber recht aus der englischen Lebensweise hervorzugehen scheint, ist, daß, außer der in der Tat erhaben grauenhaften Zigeunerin, die jedoch nicht sowohl ein Weib als eine gespenstische Erscheinung zu nennen, die Weiber flach und blaß gehalten sind. Die beiden Mädchen im ,Astrologen' gemahnen mich an die Frauenzimmer auf den englischen kolorierten Kupferstichen in punktierter Manier, die sich alle ähnlich, das heißt ebenso hübsch als ganz bedeutungslos, sind und denen man es ansieht, daß aus dem kleinen zugespitzten Mündchen nichts weiter hervorzukommen wagt als das unschuldigste ,Ja, ja' und ,Nein, nein', da alles übrige vom Ubel. Hogarths Milchverkäuferin ist der Prototypus aller dieser Geschöpflein. Es fehlt jenen beiden Mädchen der eigentliche Geist, der göttlich belebende Atem."

"Möchte man", sprach Theodor, "nicht dagegen den Weibern eines unserer geistreichsten Dichter, vorzüglich wie sie in ältern Werken vorkommen, etwas mehr Körper wünschen, da sie oft im Anschaun zerfließen zu Nebelgebilden? — Nun, wir wollen dennoch beide, diesen heimischen Dichter sowie jenen fremden, deshalb recht hoch ehren und lieben, weil sie Wahres und Herrliches schaffen."

"Sehr merkwürdig", nahm Sylvester das Wort, "ist es doch, daß, irre ich mich, mit Walter Scott beinahe zu gleicher

Zeit ein engländischer Dichter auftrat, der in ganz anderer Tendenz das Große, Herrliche leistet. Es ist Lord Byron, den ich meine und der mir kräftiger und gediegener scheint als Thomas Moore. Seine ,Belagerung von Korinth' ist ein Meisterwerk voll der lebendigsten Bilder, der genialsten Gedanken. Vorherrschend soll sein Hang zum Düstern, ja Grauenhaften und Entsetzlichen sein, und seinen ,Vampir' hab ich gar nicht lesen mögen, da mir die bloße Idee eines Vampirs, habe ich sie richtig aufgefaßt, schon eiskalte Schauer erregt. Soviel ich weiß, ist ein Vampir nämlich nichts anders als ein lebendiger Toter, der Lebendigen das Blut aussaugt."

"Hoho", rief Lothar lachend, "ein Dichter wie du, mein teurer Freund Sylvester, muß wohl bewandert sein in allen möglichen Zauber- und Hexengeschichten und andern Teufeleien, ja sich selbst was weniges auf das Zaubern und Hexen verstehen, da solches zu manchem Dichten und Trachten nützlich. Was nun insonderheit den Vampirismus betrifft, so will ich dir, damit du meine ungemeine Belesenheit in derlei Dingen erkennen mögest, gleich ein anmutiges Werklein anführen, aus dem du dich auf das vollständigste über diese dunkle Materie belehren kannst. Der vollständige Titel dieses Werkleins heißt: ,M. Michael Ranffts, Diaconi zu Nebra, Traktat von dem Kauen und Schmatzen der Toten in Gräbern, worin die wahre Beschaffenheit derer hungarischen Vampirs und Blutsauger gezeigt, auch alle von dieser Materie bisher zum Vorschein gekommene Schriften rezensiert werden'. — Schon dieser Titel wird dich von der Gründlichkeit des genannten Werks überzeugen, und du wirst daraus entnehmen, daß ein Vampir nichts anders ist als ein verfluchter Kerl, der sich als Toter einscharren läßt und demnächst aus dem Grabe aufsteigt und den Leuten im Schlafe das Blut aussaugt, die dann auch zu Vampirs werden, so daß nach den Berichten aus Ungarn, die der Magister beibringt, sich die Bewohner ganzer Dörfer umsetzten in schändliche Vampirs. Um einen solchen Vampir unschädlich zu machen,

ausnehmen, indessen erscheint, hält man sich an die Sache selbst, ohne den Vortrag zu beachten, der Vampirismus als eine der furchtbar grauenhaftesten Ideen, ja, das furchtbar Grauenhafte dieser Idee artet aus ins Entsetzliche, scheußlich Widerwärtige."

"Und", fiel Cyprian dem Freunde ins Wort, "und demunerachtet kann aus dieser Idee ein Stoff hervorgehen, der von einem phantasiereichen Dichter, dem poetischer Takt nicht fehlt, behandelt, die tiefen Schauer jenes geheimnisvollen Grauens erregt, das in unserer eigenen Brust wohnt und, berührt von den elektrischen Schlägen einer dunkeln Geisterwelt, den Sinn erschüttert, ohne ihn zu verstören. Eben der richtige poetische Takt des Dichters wird es hindern, daß das Grauenhafte nicht ausarte ins Widerwärtige und Ekelhafte, das dann aber meistenteils zugleich aberwitzig genug erscheint, um auch die leiseste Wirkung auf unser Gemüt zu verfehlen. Warum sollte es dem Dichter nicht vergönnt sein, die Hebel der Furcht, des Grauens, des Entsetzens zu bewegen? Etwa weil hie und da ein schwaches Gemüt dergleichen nicht verträgt? Soll starke Kost gar nicht aufgetragen werden, weil einige am Tische sitzen, die schwächlicher Natur sind oder sich den Magen verdorben haben?"

"Es bedarf", nahm Theodor das Wort, "es bedarf deiner Apologie des Grauenhaften gar nicht, mein lieber phantastischer Cyprianus! Wir wissen ja alle, wie wunderbar die größten Dichter vermöge jener Hebel das menschliche Gemüt in seinem tiefsten Innern zu bewegen wußten. Man darf ja nur an Shakespeare denken! — Und wer verstand sich auch darauf besser als unser herrliche Tieck in mancher seiner Erzählungen. Ich will nur des ,Liebeszaubers' erwähnen. Die Idee dieses Märchens muß in jeder Brust eiskalte Todesschauer, ja der Schluß das tiefste Entsetzen erregen, und doch sind die Farben so glücklich gemischt, daß trotz alles Grauens und Entsetzens uns doch der geheimnisvolle Zauberreiz des Tragischen befängt, dem wir uns willig und gern hingeben. Wie wahr ist das, was Tieck seinem Manfred

in den Mund legt, um die Einwürfe der Frauen gegen das Schauerliche in der Poesie zu widerlegen. Ja, wohl ist das Entsetzliche, was sich in der alltäglichen Welt begibt, eigentlich dasjenige, was die Brust mit unverwindlichen Qualen foltert, zerreißt. Ja, wohl gebärt die Grausamkeit der Menschen, das Elend, was große und kleine Tyrannen schonungslos mit dem teuflischen Hohn der Hölle schaffen, die echten Gespenstergeschichten. Und wie schön sagt nun der Dichter: ,In dergleichen märchenhaften Erfindungen aber kann ja dieses Elend der Welt nur wie von muntern Farben gebrochen hineinspielen, und ich dächte, auch ein nicht starkes Auge müßte es auf diese Weise ertragen." — "Oft schon", sprach Lothar, "gedachten wir des tiefen genialen Dichters, dessen Anerkennung in seiner ganzen hohen Vortreiflichkeit der Nachwelt vorbehalten bleibt, während schnell aufflackernde Irrlichter, die mit erborgtem Glanz das Auge im Augenblick zu blenden vermochten, ebensoschnell wieder verlöschen. — Übrigens meine ich, daß die Phantasie durch sehr einfache Mittel aufgeregt werden könne und daß das Grauenhafte oft mehr im Gedanken als in der Erscheinung beruhe. Kleists ,Bettelweib von Locarno' trägt für mich wenigstens das Entsetzlichste in sich, was es geben mag, und doch, wie einfach ist die Erfindung! — Ein Bettelweib, das man mit Härte hinter den Ofen weiset, wie einen Hund, und das, gestorben, nun jeden Tag über den Boden wegtappt und sich hinter den Ofen ins Stroh legt, ohne daß man irgend etwas erblickt! — Doch ist es auch freilich die wunderbare Färbung des Ganzen, welche so kräftig wirkt. Kleist wußte in jenen Farbentopf nicht allein einzutunken, sondern auch, die Farben mit der Kraft und Genialität des vollendeten Meisters auftragend, ein lebendiges Bild zu schaffen wie keiner. Er durfte keinen Vampir aus dem Grabe steigen lassen, ihm genügte ein altes Bettelweib." —"Es ist", nahm Cyprian das Wort, "es ist mir bei dem Gespräch über den Vampirismus eine gräßliche Geschichte eingefallen, die ich vor langer Zeit entweder las oder hörte. Doch glaube ich beinahe das letztere, denn wie ich mich erinnere, setzte der Erzähler hinzu, daß die Geschichte sich wirklich zugetragen, und nannte die gräfliche Familie und das Stammhaus, wo sich alles begeben. Sollte die Geschichte dennoch gedruckt und euch bekannt sein, so fallt mir nur gleich in die Rede, denn es gibt nichts Langweiligeres, als sich längst bekannte Dinge auftischen zu lassen." — "Ich merke", sprach Ottmar, "daß du wieder etwas sehr Tolles und Greuliches zu Markte bringen wirst; denke wenigstens an den heiligen Serapion, sei so kurz, als du nur vermagst, um unsern Vinzenz zu Worte kommen zu lassen, der, wie ich merke, schon ungeduldig darauf harrt, uns das längst versprochene Märchen mitzuteilen."

"Still, still", rief Vinzenz. "Nichts Besseres kann ich mir wünschen, als daß Cyprian einen rechten schwarzen Teppich als Hintergrund aufhänge, auf dem dann die mimisch-plastische Darstellung meiner bunten und, wie ich meine, genugsam bocksspringenden Figuren sich ganz hübsch ausnehmen muß. Darum beginne, o mein Cyprianus, und sei düster, schrecklich, ja entsetzlich, trotz dem vampirischen Lord Byron, den ich nicht gelesen."


[Vampirismus]



"Graf Hyppolit", so begann Cyprian, "war zurückgekehrt von langen weiten Reisen, um das reiche Erbe seines Vaters, der unlängst gestorben, in Besitz zu nehmen. Das Stammschloß lag in der schönsten, anmutigsten Gegend, und die Einkünfte der Güter reichten hin zu den kostspieligsten Verschönerungen. Alles, was der Art dem Grafen auf seinen Reisen, vorzüglich in England, als reizend, geschmackvoll, prächtig aufgefallen, sollte nun vor seinen Augen noch einmal entstehen. Handwerker und Künstler, wie sie gerade nötig, fanden sich auf seinen Ruf bei ihm ein, und es begann alsbald der Umbau des Schlosses, die Anlage eines weitläuftigen Parks in dem größten Stil, so daß selbst Kirche, Totenacker und Pfarrhaus eingegrenzt wurden und als Partie des künstlichen Waldes erschienen. Alle Arbeiten leitete der Graf, der die dazu nötigen Kenntnisse besaß, selbst, er widmete sich diesen Beschäftigungen mit Leib und Seele, und so war ein Jahr vergangen, ohne daß es ihm eingefallen, dem Rat eines alten Oheims gemäß in der Residenz sein Licht leuchten zu lassen vor den Augen der Jungfrauen, damit ihm die schönste, beste, edelste zufalle als Gattin. Eben saß er eines Morgens am Zeichentisch, um den Grundriß eines neuen Gebäudes zu entwerfen, als eine alte Baronesse, weitläuftige Verwandte seines Vaters, sich anmelden ließ. Hyppolit erinnerte sich, als er den Namen der Baronesse hörte, sogleich, daß sein Vater von dieser Alten immer mit der tiefsten Indignation, ja mit Abscheu gesprochen und manchmal Personen, die sich ihr nähern wollen, gewarnt, sich von ihr fernzuhalten, ohne jemals eine Ursache der Gefahr anzugeben. Befragte man den Grafen näher, so pflegte er zu sagen, es gäbe gewisse Dinge, über die es besser sei zu schweigen als zu reden. Soviel war gewiß, daß in der Residenz dunkle Gerüchte von einem ganz seltsamen und unerhörten Kriminalprozeß gingen, in den die Baronesse befangen, der sie von ihrem Gemahl getrennt, aus ihrem entfernten Wohnort vertrieben und dessen Unterdrückung sie nur der Gnade des Fürsten zu verdanken habe. Sehr unangenehm berührt fühlte sich Hyppolit durch die Annäherung einer Person, die sein Vater verabscheut, waren ihm auch die Gründe dieses Abscheus unbekannt geblieben. Das Recht der Gastfreundschaft, das vorzüglich auf dem Lande gelten mag, gebot ihm indessen, den lästigen Besuch anzunehmen. Niemals hatte eine Person, ohne im mindesten häßlich zu sein, in ihrer äußern Erscheinung solch einen widerwärtigen Eindruck auf den Grafen gemacht als eben die Baronesse. Bei dem Eintritt durchbohrte sie den Grafen mit einem glühenden Blick, dann schlug sie die Augen nieder und entschuldigte ihren Besuch in beinahe demütigen Ausdrücken. Sie klagte, daß der Vater des Grafen, von den seltsamsten Vorurteilen befangen, die ihm gegen sie feindlich Gesinnte auf hämische Weise beizubringen gewußt, sie bis in den Tod gehaßt und ihr, unerachtet sie in der bittersten Armut beinahe verschmachtet und sich ihres Standes schämen müssen, niemals auch nur die mindeste Unterstützung zufließen lassen. Endlich, ganz unerwartet in den Besitz einer kleinen Geldsumme gekommen, sei es ihr möglich geworden, die Residenz zu verlassen und in ein entferntes Landstädtchen zu fliehen. Auf dieser Reise habe sie dem Drange nicht widerstehen können, den Sohn eines Mannes zu sehen, den sie, seines ungerechten unversöhnlichen Hasses unerachtet, stets hoch verehrt. — Es war der rührende Ton der Wahrheit, mit dem die Baronesse sprach, und der Graf fühlte sich um so mehr bewegt, als er, weggewandt von dem widrigen Antlitz der Alten, versunken war in den Anblick des wunderbar lieblichen anmutigen Wesens, das mit der Baronesse gekommen. Die Baronesse schwieg; der Graf schien es nicht zu bemerken, er blieb stumm. Da bat die Baronesse, es ihrer Befangenheit an diesem Orte zu verzeihen, daß sie dem Grafen nicht gleich bei ihrem Eintritt ihre Tochter Aurelie vorgestellt. Nun erst gewann der Graf Worte und beschwor, rot geworden bis an die Augen, in der Verwirrung des liebeentzückten Jünglings die Baronesse, sie möge ihm vergönnen, das gutzumachen, was sein Vater nur aus Mißverstand verschulden können, und vorderhand es sich auf seinem Schlosse gefallen lassen. Seinen besten Willen beteuernd, faßte er die Hand der Baronesse, aber das Wort, der Atem stockte ihm, eiskalte Schauer durchbebten sein Innerstes. Er fühlte seine Hand von im Tode erstarrten Fingern umkrallt, und die große knochendürre Gestalt der Baronesse, die ihn anstarrte mit Augen ohne Sehkraft, schien ihm in den häßlich bunten Kleidern eine angeputzte Leiche. ,0 mein Gott, welch ein Ungemach gerade in diesem Augenblick!' So rief Aurelie und klagte dann mit sanfter herzdurchdringender Stimme, daß ihre arme Mutter zuweilen plötzlich vom Starrkrampf ergriffen werde, daß dieser Zustand aber gewöhnlich ohne Anwendung irgendeines Mittels in ganz kurzer Zeit vorüberzugehen pflege. Mit Mühe machte sich der Graf los von der Baronesse, und alles glühende Leben süßer Liebeslust kam ihm wieder, als er Aureliens Hand faßte und feurig an die Lippen drückte. Beinahe zum Mannesalter gereift, fühlte der Graf zum erstenmal die ganze Gewalt der Leidenschaft, um so weniger war es ihm möglich, seine Gefühle zu verbergen, und die Art, wie Aurelie dies aufnahm in hoher kindlicher Liebenswürdigkeit, entzündete in ihm die schönsten Hoffnungen. Wenige Minuten waren vergangen, als die Baronesse aus dem Starrkrampf erwachte und, sich des vorübergegangenen Zustandes völlig unbewußt, den Grafen versicherte, wie sie der Antrag, einige Zeit auf dem Schlosse zu verweilen, hoch ehre und alles Unrecht, das ihr der Vater angetan, mit einemmal vergessen lasse. So hatte sich nun plötzlich der Hausstand des Grafen verändert, und er mußte glauben, daß ihm eine besondere Gunst des Schicksals die einzige auf dem ganzen Erdenrund zugeführt, die als heißgeliebte angebetete Gattin ihm das höchste Glück des irdischen Seins gewähren könne. Das Betragen der alten Baronesse blieb sich gleich, sie war still, ernst, ja in sich verschlossen und zeigte, wenn es die Gelegenheit gab, eine milde Gesinnung und ein jeder unschuldigen Lust erschlossenes Herz. Der Graf hatte sich an das in der Tat seltsam gefurchte totenbleiche Antlitz, an die gespenstische Gestalt der Alten gewöhnt, er schrieb alles ihrer Kränklichkeit zu sowie dem Hange zu düstrer Schwärmerei, da sie, wie er von seinen Leuten erfahren, oft nächtliche Spaziergänge machte durch den Park nach dem Kirchhofe zu. Er schämte sich, daß das Vorurteil des Vaters ihn so habe befangen können, und die eindringlichsten Ermahnungen des alten Oheims, das Gefühl, das ihn ergriffen, zu besiegen und ein Verhältnis aufzugeben, das ihn über kurz oder lang ganz unvermeidlich ins Verderben stürzen werde, verfehlten durchaus ihre Wirkung. Von Aureliens innigster Liebe auf das lebhafteste überzeugt, bat er um ihre Hand, und man kann denken, mit welcher Freude die Baronesse, die sich, aus tiefer Dürftigkeit gerissen, im Schoße des Glücks sah, diesen Antrag aufnahm. Die Blässe und jener besondere Zug, der auf einen schweren innern unverwindlichen Gram deutet, war verschwunden aus Aureliens Antlitz, und die Seligkeit der Liebe strahlte aus ihren Augen, schimmerte w- sicht auf ihren Wangen. Am Morgen des Hochzeitstages vereitelte ein erschütternder Zufall die Wünsche des Grafen. Man hatte die Baronesse im Park unfern des Kirchhofes leblos am Boden auf dem Gesicht liegend gefunden und brachte sie nach dem Schlosse, eben als der Graf aufgestanden und im Wonnegefühl des errungenen Glücks hinausschaute. Er glaubte die Baronesse nur von ihrem gewöhnlichen Übel befallen; alle Mittel, sie wieder zurückzurufen ins Leben, blieben aber vergeblich, sie war tot. Aurelie überließ sich weniger den Ausbrüchen eines heftigen Schmerzes, als daß sie verstummt, tränenlos durch den Schlag, der sie getroffen, in ihrem innersten Wesen gelähmt schien. Dem Grafen bangte für die Geliebte, und nur leise und behutsam wagte er es, sie an ihr Verhältnis als gänzlich verlassenes Kind zu erinnern, welches erfordere, das Schickliche aufzugeben, um das noch Schicklichere zu tun, nämlich des Todes der Mutter unerachtet den Hochzeitstag soviel nur möglich zu beschleunigen. Da fiel aber Aurelie dem Grafen in die Arme und rief, indem ihr ein Tränenstrom aus den Augen stürzte, mit schneidender, das Herz durchbohrender Stimme: ,Ja -ja! — um aller Heiligen, um meiner Seligkeit willen, ja!' — Der Graf schrieb diesen Ausbruch innerer Gemütsbewegung dem bittern Gedanken zu, daß sie, verlassen, heimatslos, nun nicht wisse, wohin, und auf dem Schlosse zu bleiben doch der Anstand verbiete. Er sorgte dafür, daß Aurelie eine alte würdige Matrone zur Gesellschafterin erhielt, bis nach wenigen Wochen aufs neue der Hochzeitstag herankam, den weiter kein böser Zufall unterbrach, sondern der Hyppolits und Aureliens Glück krönte. Aurelie hatte sich indessen immerwährend in einem gespannten Zustande befunden. Nicht der Schmerz über den Verlust der Mutter, nein, eine innere, namenlose, tötende Angst schien sie rastlos zu verfolgen. Mitten im süßesten Liebesgespräch fuhr sie plötzlich, wie von jähem Schreck erfaßt, zum Tode erbleicht, auf, schloß den Grafen, indem ihr Tränen aus den Augen quollen, in ihre Arme, als wolle sie sich festhalten, damit eine unsichtbare feindliche Macht sie nicht fortreiße ins Verderben, und rief: ,Nein - nimmer - nimmer!' — Erst jetzt, da sie verheiratet mit dem Grafen, schien der gespannte Zustand aufgehört, jene innere entsetzliche Angst sie verlassen zu haben. Es konnte nicht fehlen, daß der Graf irgendein böses Geheimnis vermutete, von dem Aureliens Inneres verstört, doch hielt er es mit Recht für unzart, Aurelien darnach zu fragen, solange ihre Spannung anhielt und sie selbst darüber schwieg. Jetzt wagte er es leise, darauf hinzudeuten, was wohl die Ursache ihrer seltsamen Gemütsstimmung gewesen sein möge. Da versicherte Aurelie, daß es ihr eine Wohltat sei, ihm, dem geliebten Gemahl, jetzt ihr ganzes Herz zu erschließen. Nicht wenig erstaunte der Graf, als er nun erfuhr, daß nur das heillose Treiben der Mutter allen sinnverstörenden Gram über Aurelien gebracht. ,Gibt es', rief Aurelie, ,etwas Entsetzlicheres, als die eigne Mutter hassen, verabscheuen zu müssen?' Also war der Vater, der Oheim von keinem falschen Vorurteil befangen, und die Baronesse hatte mit durchdachter Heuchelei den Grafen getäuscht. Für eine seiner Ruhe günstige Schickung mußte es nun der Graf halten, daß die böse Mutter an seinem Hochzeitstage gestorben. Er hatte dessen kein Hehl; Aurelie erklärte aber, daß gerade bei dem Tode der Mutter sie sich von düstern furchtbaren Ahnungen ergriffen gefühlt, daß sie die entsetzliche Angst nicht verwinden können, die Tote werde erstehn aus dem Grabe und sie hinabreißen aus den Armen des Geliebten in den Abgrund. Aurelie erinnerte sich (so erzählte sie) ganz dunkel aus ihrer früheren Jugendzeit, daß eines Morgens, da sie eben aus dem Schlafe erwacht, ein furchtbarer Tumult im Hause entstand. Die Türen wurden auf- und zugeworfen, fremde Stimmen riefen durcheinander. Endlich, als es stiller geworden, nahm die Wärterin Aurelien auf den Arm und trug sie in ein großes Zimmer, wo viele Menschen versammelt; in der Mitte, auf einem langen Tisch ausgestreckt, lag aber der Mann, der oft mit Aurelien gespielt, sie mit Zuckerwerk gefüttert und den sie Papa genannt. Sie streckte die Händchen nach ihm aus und wollte ihn küssen. Die sonst warmen Lippen waren aber eiskalt, und Aurelie brach, selbst wußte sie nicht, warum, aus in heftiges Weinen. Die Wärterin brachte sie in ein fremdes Haus, wo sie lange Zeit verweilte, bis endlich eine Frau erschien und sie in einer Kutsche mitnahm. Das war nun ihre Mutter, die bald darauf mit Aurelien nach der Residenz reiste. Aurelie mochte ungefähr sechszehn Jahre alt sein, als ein Mann bei der Baronesse erschien, den sie mit Freude und Zutraulichkeit empfing wie einen alten geliebten Bekannten. Er kam oft und öfter, und bald veränderte sich der Hausstand der Baronesse auf sehr merkliche Weise. Statt daß sie sonst in einem Dachstübchen gewohnt und sich mit armseligen Kleidern und schlechter Kost beholfen, bezog sie jetzt ein hübsches Quartier in der schönsten Gegend der Stadt, schaffte sich prächtige Kleider an, aß und trank mit dem Fremden, der ihr täglicher Tischgast war, vortreiflich und nahm teil an allen öffentlichen Lustbarkeiten, wie sie die Residenz darbot. Nur auf Aurelien hatte diese Verbesserung der Lage ihrer Mutter, die diese offenbar dem Fremden verdankte, gar keinen Einfluß. Sie blieb eingeschlossen in ihrem Zimmer zurück, wenn die Baronesse mit dem Fremden dem Vergnügen zueilte, und mußte so armselig einhergehen als sonst. Der Fremde hatte, unerachtet er wohl beinahe vierzig Jahre alt sein mochte, ein sehr frisches jugendliches Ansehen, war von hoher schöner Gestalt, und auch sein Antlitz mochte männlich schön genannt werden. Demunerachtet war er Aurelien widrig, weil oft sein Benehmen, schien er sich auch zu einem vornehmen Anstande zwingen zu wollen, linkisch, gemein, pöbelhaft wurde. Die Blicke, womit er aber Aurelien zu betrachten begann, erfüllten sie mit unheimlichem Grauen, ja mit einem Abscheu, dessen Ursache sie sich selbst nicht zu erklären wußte. Nie hatte bisher die Baronesse es der Mühe wert geachtet, Aurelien auch nur ein Wort über den Fremden zu sagen. Jetzt nannte sie Aurelien seinen Namen mit dem Zusatz, daß der Baron steinreich und ein entfernter Verwandter sei. Sie rühmte seine Gestalt, seine Vorzüge und schloß mit der Frage, wie er Aurelien gefalle. Aurelie verschwieg nicht den innern Abscheu, den sie gegen den Fremden hegte, da blitzte sie aber die Baronesse an mit einem Blick, der ihr tiefen Schreck einjagte, und schalt sie ein dummes einfältiges Ding. Bald darauf wurde die Baronesse freundlicher gegen Aurelien, als sie es jemals gewesen. Sie erhielt schöne Kleider, reichen modischen Putz jeder Art, man ließ sie teilnehmen an den öffentlichen Vergnügungen. Der Fremde bemühte sich nun um Aureliens Gunst auf eine Weise, die ihn nur immer widerwärtiger ihr erscheinen ließ. Tödlich wurde aber ihr zarter jungfräulicher Sinn berührt, als ein böser Zufall sie geheime Zeugin sein ließ einer empörenden Abscheulichkeit des Fremden und der verderbten Mutter. Als nun einige Tage darauf der Fremde in halbtrunknem Mut sie auf eine Art in seine Arme schloß, daß die verruchte Absicht keinem Zweifel unterworfen, da gab ihr die Verzweiflung Manneskraft, sie stieß den Fremden zurück, daß er rücklings überstürzte, entfloh und schloß sich in ihr Zimmer ein. Die Baronesse erklärte Aurelien ganz kalt und bestimmt, daß, da der Fremde ihren ganzen Haushalt bestritte und sie gar nicht Lust habe, zurückzukommen in die alte Dürftigkeit, hier jede alberne Ziererei verdrießlich und unnütz sein werde; Aurelie müsse sich dem Willen des Fremden hingeben, der sonst gedroht, sie zu verlassen. Statt auf Aureliens wehmütigstes Flehen, statt auf ihre heiße Tränen zu achten, begann die Alte, in frechem Spott laut auflachend, über ein Verhältnis, das ihr alle Lust des Lebens erschließen werde, auf eine Art zu sprechen, deren zügellose Abscheulichkeit jedem sittlichen Gefühl Hohn sprach, so daß Aurelie sich davor entsetzte. Sie sah sich verloren, und das einzige Rettungsmittel schien ihr schleunige Flucht. Aurelie hatte sich den Hausschlüssel zu verschaffen gewußt, die wenigen Habseligkeiten, die dringendste Notwendigkeit erforderte, zusammengepackt und schlich nach Mitternacht, als sie die Mutter in tiefem Schlaf glaubte, über den matt erleuchteten Vorsaal. Schon wollte sie leise, leise hinaustreten, als die Haustüre rasselnd aufsprang und es die Treppe hinaufpolterte. Hinein in den Vorsaal, hin zu Aureliens Füßen stürzte die Baronesse, in einen schlechten schmutzigen Kittel gekleidet, Brust und Arme entblößt, das greise Haar aufgelöst, wild flatternd. Und dicht hinter ihr her der Fremde, der mit dem gehenden Ruf: ,Warte, verruchter Satan, höllische Hexe, ich werd dir dein Hochzeitsmahl eintränken!' sie bei den Haaren mitten ins Zimmer schleife und mit dem dicken Knittel, den er bei sich trug, auf die grausamste Weise zu mißhandeln begann. Die Baronesse stieß ein fürchterliches Angstgeschrei aus, Aurelie, ihrer Sinne kaum mächtig, rief laut durch das geöffnete Fenster nach Hülfe. Es traf sich, daß gerade eine Patrouille bewaffneter Polizei vorüberging. Diese drang sogleich ins Haus. ,Faßt ihn', rief die Baronesse, sich vor Wut und Schmerz krümmend, den Polizeisoldaten entgegen, ,faßt ihn - haltet ihn fest! — schaut seinen bloßen Rücken an! — es ist -' Sowie die Baronesse den Namen nannte, jauchzte der Polizeisergeant, der die Patrouille führte, laut auf: ,Hoho - haben wir dich endlich, Urian!' Und damit packten sie den Fremden fest und schleppten ihn, sosehr er sich sträuben mochte, fort. Dem allem, was sich zugetragen, unerachtet, hatte die Baronesse Aureliens Absicht doch sehr wohl bemerkt. Sie begnügte sich damit, Aurelien ziemlich unsanft beim Arm zu fassen, sie in ihr Zimmer zu werfen und dieses dann abzuschließen, ohne weiter etwas zu sagen. Andern Morgens war die Baronesse ausgegangen und kam erst am späten Abend wieder, während Aurelie, in ihr Zimmer wie in ein Gefängnis eingeschlossen, niemanden sah und hörte, so daß sie den ganzen Tag zubringen mußte ohne Speise und Trank. Mehrere Tage hintereinander ging das so fort. Oft blickte die Baronesse sie mit zornfunkelnden Augen an, sie schien mit einem Entschluß zu ringen, bis sie an einem Abend Briefe fand, deren Inhalt ihr Freude zu machen schien. ,Aberwitzige Kreatur, du bist an allem schuld, aber es ist nun gut, und ich wünsche selbst, daß die fürchterliche Strafe dich nicht treffen mag, die der böse Geist über dich verhängt hatte.' So sprach die Baronesse zu Aurelien, dann wurde sie wieder freundlicher, und Aurelie, die, da nun der abscheuliche Mensch von ihr gewichen, nicht mehr an die Flucht dachte, erhielt auch wieder mehr Freiheit. — Einige Zeit war vergangen, als eines Tages, da Aurelie gerade einsam in ihrem Zimmer saß, sich auf der Straße ein großes Geräusch erhob. Das Kammermädchen sprang hinein und berichtete, daß man eben den Sohn des Scharfrichters aus -vorbeibringe, der wegen Raubmord dort gebrandmarkt und nach dem Zuchthause gebracht, seinen Wächtern auf dem Transport aber entsprungen sei. Aurelie wankte, ergriffen von banger Ahnung, an das Fenster, sie hatte sich nicht betrogen, es war der Fremde, der, umringt von zahlreichen Wachen, auf dem Leiterwagen fest angeschlossen, vorübergefahren wurde. Man brachte ihn zurück zur Abbüßung seiner Strafe. Der Ohnmacht nahe, sank Aurelie zurück in den Lehnsessel, als der furchtbar wilde Blick des Kerls sie traf, als er mit drohender Gebärde die geballte Faust aufhob gegen das Fenster. — Immer noch war die Baronesse viel außer dem Hause, Aurelien ließ sie aber jedesmal zurück, und so führte sie von manchen Betrachtungen über ihr Schicksal, über das, was Bedrohliches, ganz unerwartet, plötzlich sie treffen könne, ein trübes trauriges Leben. Von dem Kammermädchen, das übrigens erst nach jenem nächtlichen Ereignis in das Haus gekommen und der man nun erst wohl erzählt haben mochte, wie jener Spitzbube mit der Frau Baronesse in vertraulichem Verhältnis gelebt, erfuhr Aurelie, daß man in der Residenz die Frau Baronesse gar sehr bedaure, von einem solchen niederträchtigen Verbrecher auf solche verruchte Weise getäuscht worden zu sein. Aurelie wußte nur zu gut, wie ganz anders sich die Sache verhielt, und unmöglich schien es, daß wenigstens die Polizeisoldaten, welche damals den Menschen im Hause der Baronesse ergriffen, nicht, als diese ihn nannte und den gebrandmarkten Rücken angab als gewisses Kennzeichen des Verbrechers, von der guten Bekanntschaft der Baronesse mit dem Scharfrichtersohn überzeugt worden sein sollten. Daher äußerte sich denn auch jenes Kammermädchen bisweilen auf zweideutige Weise darüber, was man so hin und her denke, und daß man auch wissen wolle, wie der Gerichtshof strenge Nachforschung gehalten und sogar die gnädige Frau Baronesse mit Arrest bedroht haben solle, weil der verruchte Scharfrichtersohn gar Seltsames erzählt. — Aufs neue mußte die arme Aurelie der Mutter verworfene Gesinnung darin erkennen, daß es ihr möglich gewesen, nach jenem entsetzlichen Ereignis auch nur noch einen Augenblick in der Residenz zu verweilen. Endlich schien sie gezwungen, den Ort, wo sie sich von schmachvollem, nur zu gegründeten Verdacht verfolgt sah, zu verlassen und in eine entfernte Gegend zu fliehen. Auf dieser Reise kam sie nun in das Schloß des Grafen, und es geschah, was erzählt worden. Aurelie mußte sich überglücklich, aller böser Sorge entronnen, fühlen; wie tief entsetzte sie sich aber, als, da sie in diesem seligen Gefühl von der gnadenreichen Schickung des Himmels zur Mutter sprach, diese, Höllenflammen in den Augen, mit gellender Stimme rief: ,Du bist mein Unglück, verworfenes heilloses Geschöpf, aber mitten in deinem geträumten Glück trifft dich die Rache, wenn mich ein schneller Tod dahingerafft. In dem Starrkrampf, den deine Geburt mich kostet, hat die List des Satans -' Hier stockte Aurelie, sie warf sich an des Grafen Brust und flehte, ihr es zu erlassen, das ganz zu wiederholen, was die Baronesse noch ausgesprochen in wahnsinniger Wut. Sie fühlte sich im Innern zermalmt, gedenke sie der fürchterlichen, jede Ahnung des Entsetzlichsten überbietenden Drohung der von bösen Mächten erfaßten Mutter. Der Graf tröstete die Gattin, so gut er es vermochte, unerachtet er selbst sich von kaltem Todesschauer durchbebt fühlte. Gestehen mußte er es sich, auch ruhiger geworden, daß die tiefe Abscheulichkeit der Baronesse doch, war sie auch gestorben, einen schwarzen Schatten in sein Leben warf, das ihm sonnenklar gedünkt.

Kurze Zeit war vergangen, als Aurelie sich gar merklich zu ändern begann. Während die Totenblässe des Antlitzes, das ermattete Auge auf Erkrankung zu deuten schien, ließ wieder Aureliens wirres, unstetes, ja scheues Wesen auf irgendein neues Geheimnis schließen, das sie verstörte. Sie floh selbst den Gemahl, schloß sich bald in ihr Zimmer ein, suchte bald die einsamsten Plätze des Parks, und ließ sie sich dann wieder blicken, so zeugten die verweinten Augen, die verzerrten Züge des Antlitzes von irgendeiner entsetzlichen Qual, die sie gelitten. Vergebens mühte sich der Graf, die Ursache von dem Zustande der Gattin zu erforschen, und aus der völligen Trostlosigkeit, in die er endlich verfiel, konnte ihn nur die Vermutung eines berühmten Arztes retten, daß bei der großen Reizbarkeit der Gräfin all die bedrohlichen Erscheinungen eines veränderten Zustandes nur auf eine frohe Hoffnung der beglückten Ehe deuten könnten. Derselbe Arzt erlaubte sich, als er einst mit dem Grafen und der Gräfin bei Tische saß, allerlei Anspielungen auf jenen vermuteten Zustand guter Hoffnung. Die Gräfin schien alles teilnahmlos zu überhören, doch plötzlich war sie ganz aufmerksam, als der Arzt von den seltsamen Gelüsten zu sprechen begann, die zuweilen Frauen in jenem Zustande fühlten und denen sie ohne Nachteil ihrer Gesundheit, ja ohne die schädlichste Einwirkung auf das Kind nicht widerstehen dürften. Die Gräfin überhäufte den Arzt mit Fragen, und dieser wurde nicht müde, aus seiner praktischen Erfahrung die ergötzlichsten drolligsten Fälle mitzuteilen. ,Doch', sprach er, ,hat man auch Beispiele von den abnormsten Gelüsten,

durch die Frauen verleitet wurden zu der entsetzlichsten Tat. So hatte die Frau eines Schmieds ein solch unwiderstehliches Gelüste nach dem Fleisch ihres Mannes, daß sie nicht eher ruhte, als bis sie ihn einst, da er betrunken nach Hause kam, unvermutet mit einem großen Messer überfiel und so grausam zerfleischte, daß er nach wenigen Stunden den Geist aufgab.'

Kaum hatte der Arzt diese Worte gesprochen, als die Gräfin ohnmächtig in den Sessel sank und aus den Nervenzufällen, die dann eintraten, nur mit Mühe gerettet werden konnte. Der Arzt sah nun, daß er sehr unvorsichtig gehandelt, im Beisein der nervenschwachen Frau jener fürchterlichen Tat zu erwähnen.

Wohltätig schien indessen jene Krise auf den Zustand der Gräfin gewirkt zu haben, denn sie wurde ruhiger, wiewohl bald darauf ein ganz seltsames starres Wesen, ein düstres Feuer in den Augen und die immer mehr zunehmende Totenfarbe den Grafen in neue gar quälende Zweifel über den Zustand der Gattin stürzte. Das Unerklärlichste dieses Zustandes der Gräfin lag aber darin, daß sie auch nicht das mindeste an Speise zu sich nahm, vielmehr gegen alles, vorzüglich aber gegen Fleisch, den unüberwindlichsten Abscheu bewies, so daß sie sich jedesmal mit den lebhaftesten Zeichen dieses Abscheues vom Tische entfernen mußte. Die Kunst des Arztes scheiterte, denn nicht das dringendste, liebevollste Flehen des Grafen, nichts in der Welt konnte die Gräfin vermögen, auch nur einen Tropfen Medizin zu nehmen. Da nun Wochen, Monate vergangen, ohne daß die Gräfin auch nur einen Bissen genossen, da es ein unergründliches Geheimnis, wie sie ihr Leben zu fristen vermochte, so meinte der Arzt, daß hier etwas im Spiele sei, was außer dem Bereich jeder getreu menschlichen Wissenschaft liege. Er verließ das Schloß unter irgendeinem Vorwande, der Graf konnte aber wohl merken, daß der Zustand der Gattin dem bewährten Arzt zu rätselhaft, ja zu unheimlich bedünkt, um länger zu harren und Zeuge einer unergründlichen

Krankheit zu sein, ohne Macht zu helfen. Man kann es sich denken, in welche Stimmung dies alles den Grafen versetzen mußte; aber es war dem noch nicht genug. — Gerade um diese Zeit nahm ein alter treuer Diener die Gelegenheit wahr, dem Grafen, als er ihn gerade allein fand, zu entdecken, daß die Gräfin jede Nacht das Schloß verlasse und erst beim Anbruch des Tages wiederkehre. Eiskalt erfaßte es den Grafen. Nun erst dachte er daran, wie ihn seit einiger Zeit jedesmal zur Mitternacht ein ganz unnatürlicher Schlaf überfallen, den er jetzt irgendeinem narkotischen Mittel zuschrieb, das die Gräfin ihm beibringe, um das Schlafzimmer, das sie, vornehmer Sitte entgegen, mit dem Gemahl teilte, unbemerkt verlassen zu können. Die schwärzesten Ahnungen kamen in seine Seele; er dachte an die teuflische Mutter, deren Sinn vielleicht erst jetzt in der Tochter erwacht, an irgendein abscheuliches ehebrecherisches Verhältnis, an den verruchten Scharfrichterknecht. — Die nächste Nacht sollte ihm das entsetzliche Geheimnis erschließen, das allein die Ursache des unerklärlichen Zustandes der Gattin sein konnte. Die Gräfin pflegte jeden Abend selbst den Tee zu bereiten, den der Graf genoß, und sich dann zu entfernen. Heute nahm er keinen Tropfen, und als er seiner Gewohnheit nach im Bette las, fühlte er keineswegs um Mitternacht die Schlafsucht, die ihn sonst überfallen. Demunerachtet sank er zurück in die Kissen und stellte sich bald, als sei er fest eingeschlafen. Leise, leise verließ nun die Gräfin ihr Lager, trat an das Bett des Grafen, leuchtete ihm ins Gesicht und schlüpfte hinaus aus dem Schlafzimmer. Das Herz bebte dem Grafen, er stand auf, warf einen Mantel um und schlich der Gattin nach. Es war eine ganz mondhelle Nacht, so daß der Graf Aureliens in ein weißes Schlafgewand gehüllte Gestalt, unerachtet sie einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen, auf das deutlichste wahrnehmen konnte. Durch den Park, nach dem Kirchhofe zu nahm die Gräfin ihren Weg, dort verschwand sie an der Mauer. Schnell rannte der Graf hinter ihr her, durch die Pforte der Kirchhofsmauer, die er offen fand. Da gewahrte er im hellsten Mondesschimmer dicht vor sich einen Kreis furchtbar gespenstischer Gestalten. Alte halbnackte Weiber mit fliegendem Haar hatten sich niedergekauert auf den Boden, und mitten in dem Kreise lag der Leichnam eines Menschen, an dem sie zehrten mit Wolfesgier. —Aurelie war unter ihnen! —Fort stürzte der Graf in wildem Grausen und rannte besinnungslos, gehetzt von der Todesangst, von dem Entsetzen der Hölle, durch die Gänge des Parks, bis er sich am hellen Morgen, im Schweiß gebadet, vor dem Tor des Schlosses wiederfand. Unwillkürlich, ohne einen deutlichen Gedanken fassen zu können, sprang er die Treppe herauf, stürzte durch die Zimmer, hinein in das Schlafgemach. Da lag die Gräfin, wie es schien, in sanftem, süßem Schlummer, und der Graf wollte sich überzeugen, daß nur ein abscheuliches Traumbild, oder, da er sich der nächtlichen Wanderung bewußt, für die auch der von dem Morgentau durchnäßte Mantel zeugte, vielmehr eine sinnetäuschende Erscheinung ihn zum Tode geängstigt. Ohne der Gräfin Erwachen abzuwarten, verließ er das Zimmer, kleidete sich an und warf sich aufs Pferd. Der Spazierritt an dem schönen Morgen durch duftendes Gesträuch, aus dem heraus muntrer Gesang der erwachten Vögel ihn begrüßte, verscheuchte die furchtbaren Bilder der Nacht; getröstet und erheitert kehrte er zurück nach dem Schlosse. Als nun aber beide, der Graf und die Gräfin, sich allein zu Tische gesetzt und diese, da das gekochte Fleisch aufgetragen, mit den Zeichen des tiefsten Abscheus aus dem Zimmer wollte, da trat die Wahrheit dessen, was er in der Nacht geschaut, gräßlich vor die Seele des Grafen. In wildem Grimm sprang er auf und rief mit fürchterlicher Stimme: ,Verfluchte Ausgeburt der Hölle, ich kenne deinen Abscheu vor des Menschen Speise, aus den Gräbern zerrst du deine Ätzung, teuflisches Weib!' Doch sowie der Graf diese Worte ausstieß, stürzte die Gräfin laut heulend auf ihn zu und biß ihn mit der Wut der Hyäne in die Brust. Der Graf schleuderte die Rasende von sich zur Erde nieder, und sie gab den Geist auf unter grauenhaften Verzückungen. — Der Graf verfiel in Wahnsinn."

[Die asthetische Teegesellschaft



"Ei", sprach Lothar, nachdem es einige Augenblicke still gewesen unter den Freunden, "ei, mein vortrefflicher Cyprianus, du hast vortreiflich Wort gehalten. Gegen deine Geschichte ist der Vampirismus ein wahrer Kinderspaß, ein drolliges Fastnachtsspiel zum Totlachen. Nein, alles darin ist scheußlich interessant und mit Asa foetida so überreichlich gewürzt, daß ein überreizter Gaumen, dem alle gesunde natürliche Kost nicht mehr mundet, sich daran sehr erlustieren mag."

"Und doch", nahm Theodor das Wort, "hat unser Freund gar manches verschleiert und ist über anderes so schnell hinweggeschlüpft, daß es nur eine vorübergehende schreckhaft schauerliche Ahnung erregt, wofür wir ihm dankbar sein wollen. Ich erinnere mich nun wirklich, die gräßlich gespenstische Geschichte in einem alten Buche gelesen zu haben. Alles darin war aber mit weitschweifiger Genauigkeit erzählt, und es wurden vorzüglich die Abscheulichkeiten der Alten recht con amore auseinandergesetzt, so daß das Ganze einen überaus widerwärtigen Eindruck zurückließ, den ich lange nicht verwinden konnte. — Ich war froh, als ich das garstige Zeug vergessen, und Cyprian hätte mich nicht wieder daran erinnern sollen, wiewohl ich gestehen muß, daß er so ziemlich an unsern Schutzpatron, den heiligen Serapion, gedacht und uns tüchtige Schauer erregt hat, wenigstens beim Schluß. Wir wurden alle ein wenig blaß, am mehrsten aber der Erzähler selbst."

"Nicht geschwind genug", sprach Ottmar, "können wir hinwegkommen über das entsetzliche Bild, das, da es selbst nur zu grelle Figuren darstellt, nicht mehr, wie Vinzenz meinte, zum schwarzen Hintergrunde dienen kann. Laßt mich, um gleich einen tüchtigen Seitensprung zu tun, hinweg von dem Höllenbreughel, den uns Cyprianus vor Augen gebracht,

während sich Vinzenz, wie ihr hört, recht ausräuspert, damit seine Rede fein glatt dem Munde entströme, euch zwei Worte über eine ästhetische Teegesellschaft sagen, an die mich ein kleines Blättchen erinnerte, das ich heute zufällig unter meinen Papieren vorfand. — Du erlaubst das auch, Freund Vinzenz?"

"Eigentlich", erwiderte Vinzenz, "ist es aller serapiontischen Regel entgegen, daß ihr hin und her schwatzt - ja nicht allein das, sondern auch daß ohne sonderlichen Anlaß ganz Unziemliches vorgebracht wird von graulichen Vampiren und andern höllischen Sachen, so daß ich schweigen muß, da ich schon den Mund geöffnet. —Doch rede, mein Ottmar! Die Stunden fliehen, und ich werde euch zum Trotz das letzte Wort behalten, wie eine zänkische Frau. Darum rede, mein Ottmar, rede."

"Der Zufall", begann Ottmar, "oder vielmehr eine gutgemeinte Empfehlung führte mich in jenen ästhetischen Tee, und gewisse Verhältnisse geboten mir, sosehr mich darin auch Langeweile und Überdruß quälten, wenigstens eine Zeitlang nicht davonzubleiben. Ich ärgerte mich, daß, als einst ein wahrhaft geistreicher Mann eine Kleinigkeit vorlas, die, voll echten ergötzlichen Witzes, recht zu solcher Mitteilung sich eignete, alles gähnte und sich langweilte, daß dagegen die saft- und kraftlosen Machwerke eines jungen eitlen Dichters alles entzückten. Dieser Mensch war stark im Gemütlichen und Überschwenglichen, hielt aber dabei auch gar viel auf seine Epigramme. Da diesen nun immer nichts weiter fehlte als die Spitze, so gab er jedesmal selbst das Zeichen zum Lachen durch das Gelächter, was er aufschlug und in das nun alles einstimmte. — An einem Abend fragte ich ganz bescheiden an, ob es mir vielleicht vergönnt sein dürfte, ein paar kleine Gedichte mitzuteilen, die mir in einer Stunde der Begeistrung zu Sinn gekommen. Man tat mir die Ehre an, mich für genial zu halten, und so wurde mir mit Jubel verstattet, warum ich gebeten. Ich nahm mein Blättlein und las mit feierlichem Ton:



,Italiens Wunder
Wenn ich mich nach Morgen wende,
Scheint die liebe Abendsonne
Mir gerade in den Rücken.
Dreh ich mich denn um nach Abend,
Fallen mir die goldnen Strahlen
Gradezu ins Angesicht -
Heilig Land, wo solche Wunder,
Andacht ganz und Lieb zu schauen,
Die Natur den Menschen würdigt!'

,0 herrlich, göttlich, mein lieber Ottmar, und so tief gefühlt, so empfunden in der bewegten Brust!' So rief die Dame vom Hause, und mehrere weiße Damen und schwarze Jünglinge (ich meine nur schwarzgekleidete mit vortrefflichen Herzen unterm Jabot) riefen nach: ,Herrlich -göttlich.' — Ein junges Fräulein seufzte aber tief auf und drückte eine Träne aus dem Auge. Auf Verlangen las ich weiter, indem ich meiner Stimme den Ausdruck eines tiefbewegten Gemüts zu geben mich bemühte:



,Lebenstiefe
Der kleine Junker Matz
Hatt einen bunten Spatz,
Den ließ er gestern fliegen,
Konnt ihn nicht wiederkriegen.
Jetzt hat der Junker Matz
Nicht mehr den bunten Spatz!'

Neuer Tumult des Beifalls, neue Lobeserhebungen! Man wollte mehr hören, ich versicherte dagegen bescheidnerweise, wie ich wohl einsehe, daß solche Strophen, die mit Allgewalt das ganze Leben in allen seinen Tendenzen erfaßten, auf die Länge das Gemüt zarter Frauen zu schmerzhaft ergriffen, ich würde es deshalb vorziehen, noch zwei Epigramme mitzuteilen, in denen man die eigentliche Bedeutung des Epigramms, die auf dem plötzlichen Hervorspringen der funkelnden Spitze beruhe, wohl nicht verkennen würde. Ich las:



,Schlagender Witz
Der dicke Meister Schrein
Trank manches Gläschen Wein,
Bis ihn erfaßt die Todesnot.
Da sprach der Nachbar Grau,
Ein feiner Kunde, listig, schlau:
»Der dicke Meister Schrein,
Der trank manch Gläschen Wein,
Der ist nun wirklich tot!«'

Nachdem der funkelnde Witz dieses schelmischen Epigramms gehörig bewundert worden, gab ich noch folgendes Epigramm zum besten:



,Beißende Replik


»Von Hansens Buch macht man ja großes Wesen, Hast du das Wunderding denn schon gelesen?« So Humm zu Hamm -doch Spötter Hamm, der spricht: »Nein, guter Humm, gelesen hab ich's nicht!«'

Alles lachte sehr, aber die Dame vom Hause rief mir, mit dem Finger drohend, zu: ,Spötter, schalkischer Spötter, muß denn der Witz so beißend, so durchbohrend sein?' — Der geistreiche Mann drückte mir, da sich nun alles erhoben, im Vorübergehen die Hand und sprach: ,Gut getroffen! — Ich danke Ihnen!' Der junge Dichter drehte mir verächtlich den Rücken. Dagegen nahte sich das junge Fräulein, das erst über Italiens Wunder Tränen vergossen, und versicherte, indem sie errötend die Augen niederschlug, die jungfräuliche Brust erschließe sich mehr dem Gefühl süßer Wehmut als dem Scherz, sie bäte mich daher um das erste Gedicht, das ich gelesen, es wär ihr dabei so seltsam wohlig, schaurig zumute geworden! Ich versprach das, indem ich dem artigen und dabei genugsam hübschen Fräulein mit dem höchsten Entzücken des von einem Mädchen gepriesenen Dichters die kleine Hand küßte, bloß um den Poeten noch mehr zu ärgern, der mir Blicke zuwarf wie ein ergrimmter Basilisk."

"Merkwürdig", nahm Vinzenz das Wort, "merkwürdig genug scheint es, daß du, lieber Freund Ottmar, ohne es zu ahnen, soeben einen guten Goldschmiedsprolog zu meinem Märlein gegeben hast. Du merkst, daß ich zierlich auf jenen Ausspruch Hamlets anspiele: ,Ist dies ein Prolog oder ein Denkspruch auf einem Ringe?' Ich meine nämlich, daß dein Prolog nur in den paar Worten besteht, die du über den ergrimmten Poeten gesagt hast. Denn irren müßte ich mich sehr, wenn solch ein überschwenglicher Poet nicht ein Hauptheld sein sollte in meinem Märchen, das ich nun ohne weiteres beginnen und nicht eher nachlassen will, bis das letzte Wort, das ebenso schwer zu schaffen als das erste, glücklich heraus ist." —Vinzenz las:


Die Königsbraut


Ein nach der Natur entworfenes Märchen


Erstes Kapitel



in dem von verschiedenen Personen und ihren Verhältnissen Nachricht gegeben und alles Erstaunliche und höchst Wunderbare, das die folgenden Kapitel enthalten sollen, vorbereitet wird auf angenehme Weise

Es war ein gesegnetes Jahr. Auf den Feldern grünte und blühte gar herrlich Korn und Weizen und Gerste und Hafer, die Bauerjungen gingen in die Schoten und das liebe Vieh in den Klee; die Bäume hingen so voller Kirschen, daß das ganze Heer der Sperlinge trotz dem besten Willen, alles kahl zu picken, die Hälfte übriglassen mußte zu sonstiger Verspeisung. Alles schmauste sich satt tagtäglich an der großen offnen Gasttafel der Natur. — Vor allen Dingen stand aber in dem Küchengarten des Herrn Dapsul von Zabeithau das Gemüse so über die Maßen schön, daß es kein Wunder zu nennen, wenn Fräulein Ännchen vor Freude darüber ganz außer sich geriet.

Nötig scheint es, gleich zu sagen, wer beide waren, Herr Dapsul von Zabeithau und Fräulein Ännchen.

Es ist möglich, daß du, geliebter Leser, auf irgendeiner Reise begriffen, einmal in den schönen Grund kamst, den der freundliche Main durchströmt. Laue Morgenwinde hauchen ihren duftigen Atem hin über die Flur, die in dem Goldglanz schimmert der emporgestiegenen Sonne. Du vermagst es nicht, auszuharren in dem engen Wagen, du steigst aus und wandelst durch das Wäldchen, hinter dem du erst, als du hinabfuhrst in das Tal, ein kleines Dorf erblicktest. Plötzlich kommt dir aber in diesem Wäldchen ein langer hagerer Mann entgegen, dessen seltsamer Aufzug dich festbannt. Er trägt einen kleinen grauen Filzhut, aufgestülpt auf eine pechschwarze Perücke, eine durchaus graue Kleidung, Rock, Weste und Hose, graue Strümpfe und Schuhe, ja selbst der sehr hohe Stock ist grau lackiert. So kommt der Mann mit weit ausgespreizten Schritten auf dich los, und indem er dich mit großen tiefliegenden Augen anstarrt, scheint er dich doch gar nicht zu bemerken. "Guten Morgen, mein Herr!" rufst du ihm entgegen, als er dich beinahe umrennt. Da fährt er zusammen, als würde er plötzlich geweckt aus tiefem Traum, rückt dann sein Mützchen und spricht mit hohler weinerlicher Stimme: "Guten Morgen? O mein Herr! wie froh können wir sein, daß wir einen guten Morgen haben - die armen Bewohner von Santa Cruz - soeben zwei Erdstöße, und nun gießt der Regen in Strömen herab!" — Du weißt, geliebter Leser, nicht recht, was du dem seltsamen Manne antworten sollst, aber indem du darüber sinnest, hat er schon mit einem: "Mit Verlaub, mein Herr!" deine Stirn sanft berührt und in deinen Handteller geguckt. "Der Himmel segne Sie, mein Herr, Sie haben eine gute Konstellation", spricht er nun ebenso hohl und weinerlich als zuvor und schreitet weiter fort. — Dieser absonderliche Mann war eben niemand anders als der Herr Dapsul von Zabeithau, dessen einziges, ererbtes ärmliches Besitztum das kleine Dorf Dapsulheim ist, das in der anmutigsten lachendsten

Gegend vor dir liegt und in das du soeben eintrittst. Du willst frühstücken, aber in der Schenke sieht es traurig aus. In der Kirchweih ist aller Vorrat aufgezehrt, und da du dich nicht mit bloßer Milch begnügen willst, so weiset man dich nach dem Herrenhause, wo das gnädige Fräulein Anna dir gastfreundlich darbieten werde, was eben vorrätig. Du nimmst keinen Anstand, dich dorthin zu begeben. — Von diesem Herrenhause ist nun eben nichts mehr zu sagen, als daß es wirklich Fenster und Türen hat wie weiland das Schloß des Herrn Baron von Tondertonktonk in Westfalen. Doch prangt über der Haustür das mit neuseeländischer Kunst in Holz geschnittene Wappen der Familie von Zabelthau. Ein seltsames Ansehn gewinnt aber dieses Haus dadurch, daß seine Nordseite sich an die Ringmauer einer alten verfallenen Burg lehnt, so daß die Hintertüre die ehemalige Burgpforte ist, durch die man unmittelbar in den Burghof tritt, in dessen Mitte der hohe runde Wachturm noch ganz unversehrt dasteht. Aus jener Haustür mit dem Familienwappen tritt dir ein junges rotwangichtes Mädchen entgegen, die mit ihren klaren blauen Augen und blondem Haar ganz hübsch zu nennen und deren Bau vielleicht nur ein wenig zu rundlich derb geraten. Die Freundlichkeit selbst, nötigt sie dich ins Haus, und bald, sowie sie nur dein Bedürfnis merkt, bewirtet sie dich mit der treiflichsten Milch, einem tüchtigen Butterbrot und dann mit rohem Schinken, der dir in Bayonne bereitet scheint, und einem Gläschen aus Runkelrüben gezogenen Branntweins. Dabei spricht das Mädchen, die nun eben keine andre ist als das Fräulein Anna von Zabelthau, ganz munter und frei von allem, was die Landwirtschaft betrifft, und zeigt dabei gar keine unebene Kenntnisse. Doch plötzlich erschallt wie aus den Lüften eine starke, fürchterliche Stimme: "Anna -Anna! Anna!" — Du erschrickst, aber Fräulein Anna spricht ganz freundlich: "Papa ist zurückgekommen von seinem Spaziergange und ruft aus seiner Studierstube nach dem Frühstück!" — "Ruft - aus seiner Studierstube", frägst du erstaunt. "Ja", erwidert Fräulein Anna oder Fräulein Ännchen, wie sie die Leute nennen, "ja, Papas Studierstube ist dort oben auf dem Turm, und er ruft durch das Rohr!" — Und du siehst, geliebter Leser, wie nun Ännchen des Turmes enge Pforte öffnet und mit demselben Gabelfrühstück, wie du es soeben genossen, nämlich mit einer tüchtigen Portion Schinken und Brot nebst dem Runkelrübengeist, hinaufspringt. Ebensoschnell ist sie aber wieder bei dir, und dich durch den schönen Küchengarten geleitend, spricht sie so viel von bunter Plümage, Rapuntika, englischem Turneps, kleinem Grünkopf, Montrue, großem Mogul, gelbem Prinzenkopf und so fort, daß du in das größete Erstaunen geraten mußt, zumal wenn du nicht weißt, daß mit jenen vornehmen Namen nichts anders gemeint ist als Kohl und Salat.

Ich meine, daß der kurze Besuch, den du, geliebter Leser, in Dapsulheim abgestattet, hinreichen wird, dich die Verhältnisse des Hauses, von dem allerlei seltsames, kaum glaubliches Zeug ich dir zu erzählen im Begriff stehe, ganz erraten zu lassen. Der Herr Dapsul von Zabelthau war in seiner Jugend nicht viel aus dem Schlosse seiner Eltern gekommen, die ansehnliche Güter besaßen. Sein Hofmeister, ein alter wunderlicher Mann, nährte, nächstdem daß er ihn in fremden, vorzüglich orientalischen Sprachen unterrichtete, seinen Hang zur Mystik, oder vielmehr besser gesagt, zur Geheimniskrämerei. Der Hofmeister starb und hinterließ dem jungen Dapsul eine ganze Bibliothek der geheimen Wissenschaften, in die er sich vertiefte. Die Eltern starben auch, und nun begab sich der junge Dapsul auf weite Reisen, und zwar, wie es der Hofmeister ihm in die Seele gelegt, nach Ägypten und Indien. Als er endlich nach vielen Jahren zurückkehrte, hatte ein Vetter unterdessen sein Vermögen mit so großem Eifer verwaltet, daß ihm nichts übriggeblieben als das kleine Dörfchen Dapsulheim. Herr Dapsul von Zabelthau strebte zu sehr nach dem sonnegebornen Golde einer höhern Welt, als daß er sich hätte aus irdischem viel

machen sollen, er dankte vielmehr dem Vetter mit gerührtem Herzen dafür, daß er ihm das freundliche Dapsulheim erhalten mit dem schönen hohen Wartturm, der zu astrologischen Operationen erbaut schien und in dessen höchster Höhe Herr Dapsul von Zabeithau auch sofort sein Studierzimmer einrichten ließ. Der sorgsame Vetter bewies nun auch, daß Herr Dapsul von Zabeithau heiraten müsse. Dapsul sah die Notwendigkeit ein und heiratete sofort das Fräulein, das der Vetter für ihn erwählt. Die Frau kam ebenso schnell ins Haus, als sie es wieder verließ. Sie starb, nachdem sie ihm eine Tochter geboren. Der Vetter besorgte Hochzeit, Taufe und Begräbnis, so daß Dapsul auf seinem Turm von allen dem nicht sonderlich viel merkte, zumal die Zeit über gerade ein sehr merkwürdiger Schwanzstern am Himmel stand, in dessen Konstellation sich der melancholische, immer Unheil ahnende Dapsul verflochten glaubte. Das Töchterlein entwickelte unter der Zucht einer alten Großtante zu deren großen Freude einen entschiedenen Hang zur Landwirtschaft. Fräulein Ännchen mußte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike an dienen. Erst als Gänsemädchen, dann als Magd, Großmagd, Haushälterin, bis zur Hauswirtin herauf, so daß die Theorie erläutert und festgestellt wurde durch eine wohltätige Praxis. Sie liebte Gänse und Enten und Hühner und Tauben, Rindvieh und Schafe ganz ungemein, ja selbst die zarte Zucht wohlgestalteter Schweinlein war ihr keinesweges gleichgültig, wiewohl sie nicht, wie einmal ein Fräulein in irgendeinem Lande, ein kleines weißes Ferkelchen mit Band und Schelle versehen und erkieset hatte zum Schoßtierchen. Über alles und auch weit über den Obstbau ging ihr aber der Gemüsegarten. Durch der Großtante landwirtschaftliche Gelehrsamkeit hatte Fräulein Ännchen, wie der geneigte Leser in dem Gespräch mit ihr bemerkt haben wird, in der Tat ganz hübsche theoretische Kenntnisse vom Gemüsebau erhalten, beim Umgraben des Ackers, beim Einstreuen des Samens, Einlegung der Pflanzen stand Fräulein Ännchen nicht allein der ganzen Arbeit vor, sondern leistete auch selbst tätige Hülfe. Fräulein Ännchen führte einen tüchtigen Spaten, das mußte ihr der hämische Neid lassen. Während nun Herr Dapsul von Zabeithau sich in seine astrologischen Beobachtungen und in andere mystische Dinge vertiefte, führte Fräulein Ännchen, da die alte Großtante gestorben, die Wirtschaft auf das beste, so daß, wenn Dapsul dem Himmlischen nachtrachtete, Ännchen mit Fleiß und Geschick das Irdische besorgte.

Wie gesagt, kein Wunder war es zu nennen, wenn Ännchen vor Freude über den diesjährigen ganz vorzüglichen Flor des Küchengartens beinahe außer sich geriet. An üppiger Fülle des Wachstums übertraf aber alles andere ein Mohrrübenfeld, das eine ganz ungewöhnliche Ausbeute versprach.

"Ei, meine schönen lieben Mohrrüben!" so rief Fräulein Ännchen ein Mal über das andere, klatschte in die Hände, sprang, tanzte umher, gebärdete sich wie ein zum heiligen Christ reich beschenktes Kind. Es war auch wirklich, als wenn die Möhrenkinder sich in der Erde über Ännchens Lust mitfreuten, denn das feine Gelächter, das sich vernehmen ließ, stieg offenbar aus dem Acker empor. Ännchen achtete nicht sonderlich darauf, sondern sprang dem Knecht entgegen, der, einen Brief hoch emporhaltend, ihr zurief: "An Sie, Fräulein Ännchen, Gottlieb hat ihn mitgebracht aus der Stadt." Ännchen erkannte gleich an der Aufschrift, daß der Brief von niemanden anders war als von dem jungen Herrn Amandus von Nebelstern, dem einzigen Sohn eines benachbarten Gutsbesitzers, der sich auf der Universität befand. Amandus hatte sich, als er noch auf dem Dorfe des Vaters hauste und täglich hinüberlief nach Dapsulheim, überzeugt, daß er in seinem ganzen Leben keine andere lieben könne als Fräulein Ännchen. Ebenso wußte Fräulein Ännchen ganz genau, daß es ihr ganz unmöglich sein werde, jemals einem andern als dem braunlockichten Amandus auch nur was weniges gut zu sein. Beide, Ännchen und

Amandus, waren daher übereingekommen, sich je eher, desto lieber zu heiraten und das glücklichste Ehepaar zu werden auf der ganzen weiten Erde. — Amandus war sonst ein heiterer unbefangner Jüngling, auf der Universität geriet er aber Gott weiß wem in die Hände, der ihm nicht nur einbildete, er sei ein ungeheures poetisches Genie, sondern ihn auch verleitete, sich auf die Überschwenglichkeit zu legen. Das gelang ihm auch so gut, daß er sich in kurzer Zeit hinweggeschwungen hatte über alles, was schnöde Prosaiker Verstand und Vernunft nennen, und noch dazu irrigerweise behaupten, daß beides mit der regsten Phantasie sehr wohl bestehen könne. — Also von dem jungen Herrn Amandus von Nebelstern war der Brief, den Fräulein Ännchen voller Freude öffnete und also las:

"Himmlische Maid!

Siehest Du -empfindest Du - ahnest Du Deinen Amandus, wie er, selbst Blum und Blüte, vom Orangenblüthauch des duftigen Abends umflossen, im Grase auf dem Rücken liegt und hinaufschaut mit Augen voll frommer Liebe und sehnender Andacht! — Thymian und Lavendel, Rosen und Nelken wie auch gelbäugichte Narzissen und schamhafte Veilchen ficht er zum Kranz. Und die Blumen sind Liebesgedanken, Gedanken an Dich, o Anna! — Doch geziemt begeisterten Lippen die nüchterne Prose? — Hör, o höre, wie ich nur sonettisch zu lieben, von meiner Liebe zu sprechen vermag.

Flammt Liebe auf in tausend durst'gen Sonnen,
Buhlt Lust um Lust im Herzen ach so gerne;
Hinab aus dunklem Himmel strahlen Sterne
Und spiegeln sich im Liebestränenbronnen.
Entzücken, ach! zermalmen starke Wonnen
Die süße Frucht, entsprossen bittrem Kerne,
Und Sehnsucht winkt aus violetter Ferne,
In Liebesschmerz mein Wesen ist zerronnen.
In Feuerwellen tost die stürm'sche Brandung,
Dem kühnen Schwimmer will es keck gemuten,
Im jähen mächt'gen Sturz hinabzupurzeln.
Es blüht die Hyazinth der nahen Landung;
Das treue Herz keimt auf, will es verbluten,
Und Herzensblut ist selbst die schönst der Wurzeln!

Möchte, o Anna, Dich, wenn Du dieses Sonett aller Sonette liesest, all das himmlische Entzücken durchströmen, in das mein ganzes Wesen sich auflöste, als ich es niederschrieb und es nachher mit göttlicher Begeisterung vorlas gleichgestimmten, des Lebens Höchstes ahnenden Gemütern. Denke, o denke, süßeste Maid, an Deinen getreuen, höchst entzückten Amandus von Nebelstern.

N. S. Vergiß nicht, o hohe Jungfrau, wenn Du mir antwortest, einige Pfund von dem virginischen Tabak beizupakken, den Du selbst ziehest. Er brennt gut und schmeckt besser als der Portoriko, den hier die Bursche dampfen, wenn sie kneipen gehn."

Fräulein Ännchen drückte den Brief an die Lippen und sprach dann: "Ach, wie lieb, wie schön! — Und die allerliebsten Verschen, alles so hübsch gereimt. Ach, wenn ich nur so klug wäre, alles zu verstehen, aber das kann wohl nur ein Student. — Was das nur zu bedeuten haben mag mit den Wurzeln. Ach, gewiß meint er die langen roten englischen Karotten oder am Ende gar die Rapuntika, der liebe Mensch!"

Noch denselben Tag ließ es sich Fräulein Ännchen angelegen sein, den Tabak einzupacken und dem Schulmeister zwölf der schönsten Gänsefedern einzuhändigen, damit er sie sorglich schneide. Fräulein Ännchen wollte sich noch heute hinsetzen, um die Antwort auf den köstlichen Brief zu beginnen. — Übrigens lachte es dem Fräulein Ännchen, als sie aus dem Küchengarten lief, wieder sehr vernehmlich nach, und wäre Ännchen nur was weniges achtsam gewesen,

sie hätte durchaus das feine Stimmchen hören müssen, welches rief: "Zieh mich heraus, zieh mich heraus - ich bin reif -reif -reif!"Aber wie gesagt, sie achtete nicht darauf.

Zweites Kapitel



welches das erste wunderbare Ereignis und andere lesenswerte Dinge enthält, ohne die das versprochene Märchen nicht bestehen kann

Der Herr Dapsul von Zabetthau stieg gewöhnlich mittags hinab von seinem astronomischen Turm, um mit der Tochter ein frugales Mahl einzunehmen, das sehr kurz zu dauern und wobei es sehr still herzugehen pflegte, da Dapsul das Sprechen gar nicht liebte. Ännchen fiel ihm auch gar nicht mit vielem Reden beschwerlich, und das um so weniger, da sie wohl wußte, daß, kam der Papa wirklich zum Sprechen, er allerlei seltsames unverständliches Zeug vorbrachte, wovon ihr der Kopf schwindelte. Heute war ihr ganzer Sinn aber so aufgeregt durch den Flor des Küchengartens und durch den Brief des geliebten Amandus, daß sie von beiden durcheinandersprach ohne Aufhören. Messer und Gabel ließ endlich Herr Dapsul von Zabelthau fallen, hielt sich beide Ohren zu und rief: "0 des leeren, wüsten, verwirrten Geschwätzes!" Als nun aber Fräulein Ännchen ganz erschrocken schwieg, sprach er mit dem gedehnten weinerlichen Tone, der ihm eigen: "Was das Gemüse betrifft, meine liebe Tochter, so weiß ich längst, daß die diesjährige Zusammenwirkung der Gestirne solchen Früchten besonders günstig ist, und der irdische Mensch wird Kohl und Radiese und Kopfsalat genießen, damit der Erdstoff sich mehre und er das Feuer des Weltgeistes aushalte wie ein gut gekneteter Topf. Das gnomische Prinzip wird widerstehen dem ankämpfenden Salamander, und ich freue mich darauf, Pastinak zu essen, den du vorzüglich bereitest. Anlangend den jungen Herrn Amandus von Nebelstern, so habe ich nicht das mindeste dagegen, daß du ihn heiratest, sobald er von der Universität

zurückgekehret. Laß es mir nur durch Gottlieb hinaufsagen, wenn du zur Trauung gehest mit deinem Bräutigam, damit ich euch geleite nach der Kirche." —Herr Dapsul schwieg einige Augenblicke und fuhr dann, ohne Ännchen, deren Gesicht vor Freude glühte über und über, anzublicken, lächelnd und mit der Gabel an sein Glas schlagend - beides pflegte er stets zu verbinden, es kam aber gar selten vor -, also fort: "Dein Amandus ist einer, der da soll und muß, ich meine ein Gerundium, und ich will es dir nur gestehen, mein liebes Ännchen, daß ich diesem Gerundio schon sehr früh das Horoskop gestellt habe. Die Konstellationen sind sonst alle ziemlich günstig. Er hat den Jupiter im aufsteigenden Knoten, den die Venus im Gesechstschein ansiehet. Nur schneidet die Bahn des Sirius durch, und gerade auf dem Durchschneidungspunkt steht eine große Gefahr, aus der er seine Braut rettet. Die Gefahr selbst ist unergründlich, da ein fremdartiges Wesen dazwischentritt, das jeder astrologischen Wissenschaft Trotz zu bieten scheint. Gewiß ist es übrigens, daß nur der absonderliche psychische Zustand, den die Menschen Narrheit oder Verrücktheit zu nennen pflegen, dem Amandus jene Rettung möglich machen wird, O meine Tochter" (hier fiel Herr Dapsul wieder in seinen gewöhnlichen weinerlichen Ton), "o meine Tochter, daß doch keine unheimliche Macht, die sich hämisch verbirgt vor meinen Seheraugen, dir plötzlich in den Weg treten, daß der junge Herr Amandus von Nebelstern doch nicht nötig haben möge, dich aus einer andern Gefahr zu retten als aus der, eine alte Jungfer zu werden!" — Herr Dapsul seufzte einigemal hintereinander tief auf, dann fuhr er fort: "Plötzlich bricht aber nach dieser Gefahr die Bahn des Sirius ab, und Venus und Jupiter, sonst getrennt, treten versöhnt wieder zusammen."

So viel als heute sprach der Herr Dapsul von Zabeithau schon seit Jahren nicht. Ganz erschöpft stand er auf und bestieg wieder seinen Turm.

Ännchen wurde andern Tages ganz frühe mit der Antwort an den Herrn von Nebelstern fertig. Sie lautete also: "Mein herzlieber Amandus!

Du glaubst gar nicht, was Dein Brief mir wieder Freude gemacht hat. Ich habe dem Papa davon gesagt, und der hat mir versprochen, uns in die Kirche zur Trauung zu geleiten. Mache nur, daß Du bald zurückkehrst von der Universität. Ach, wenn ich nur Deine allerliebsten Verschen, die sich so hübsch reimen, ganz verstünde! — Wenn ich sie so mir selbst laut vorlese, dann klingt mir alles so wunderbar, und ich glaube dabei, daß ich alles verstehe, und dann ist alles wieder aus und verstoben und verflogen, und mich dünkt's, als hätt ich bloß Worte gelesen, die gar nicht zusammengehörten. Der Schulmeister meint, das müsse so sein, das sei eben die neue vornehme Sprache, aber ich - ach! — ich bin ein dummes einfältiges Ding! — Schreibe mir doch, ob ich nicht vielleicht Student werden kann auf einige Zeit, ohne meine Wirtschaft zu vernachlässigen? Das wird wohl nicht gehen? Nun, sind wir nur erst Mann und Frau, da kriege ich wohl was ab von deiner Gelehrsamkeit und von der neuen vornehmen Sprache. Den virginischen Tabak schicke ich dir, mein herziges Amandchen. Ich habe meine Hutschachtel ganz vollgestopft, soviel hineingehen wollte, und den neuen Strohhut derweile Karl dem Großen aufgesetzt, der in unserer Gaststube steht, wiewohl ohne Füße, denn es ist, wie Du weißt, nur ein Brustbild. — Lache mich nicht aus, Amandchen, ich habe auch Verschen gemacht, und sie reimen sich gut. Schreib mir doch, wie das kommt, daß man so gut weiß, was sich reimt, ohne gelehrt zu sein. Nun höre einmal:

Ich lieb Dich, bist Du mir auch ferne,
Und wäre gern recht bald Deine Frau.
Der heitre Himmel ist ganz blau,
Und abends sind golden alle Sterne.
Drum mußt Du mich stets lieben
Und mich auch niemals betrüben.
Ich schick Dir den virginischen Tabak Und wünsche, daß er dir recht wohl schmecken mag!

Nimm vorlieb mit dem guten Willen, wenn ich die vornehme Sprache verstehen werde, will ich's schon besser machen. — Der gelbe Steinkopf ist dieses Jahr über alle Maßen schön geraten, und die Krupbohnen lassen sich herrlich an, aber mein Dachshündchen, den kleinen Feldmann, hat gestern der große Gänsericht garstig ins Bein gebissen. Nun - es kann nicht alles vollkommen sein auf dieser Welt - hundert Küsse in Gedanken, mein liebster Amandus, Deine treueste Braut, Anna von Zabeithau.

N. S. Ich habe in gar großer Ei! geschrieben, deswegen sind die Buchstaben hin und wieder etwas krumm geraten.

N. S. Du mußt mir das aber beileibe nicht übelnehmen, ich bin dennoch, schreibe ich auch etwas krumm, geraden Sinnes und stets Deine getreue Anna.

N. S. Der Tausend, das hätte ich doch bald vergessen, ich vergeßliches Ding. Der Papa läßt Dich schönstens grüßen und Dir sagen, Du seist einer, der da soll und muß, und würdest mich einst aus einer großen Gefahr retten. Nun, darauf freue ich mich recht und bin nochmals Deine Dich liebendste, allergetreueste Anna von Zabelthau."

Dem Fräulein Ännchen war eine schwere Last entnommen, als sie diesen Brief fertig hatte, der ihr nicht wenig sauer geworden. Ganz leicht und froh wurde ihr aber zumute, als sie auch das Kuvert zustande gebracht, es gesiegelt, ohne das Papier oder die Finger zu verbrennen, und den Brief nebst der Tabaksschachtel, auf die sie ein ziemlich deutliches A. y. N. gepinselt, dem Gottlieb eingehändigt, um beides nach der Stadt auf die Post zu tragen. — Nachdem das Federvieh auf dem Hofe gehörig besorgt, lief Fräulein Ännchen geschwind nach ihrem Lieblingsplatz, dem Küchengarten. Als sie nach dem Mohrrübenacker kam, dachte sie daran, daß es nun offenbar an der Zeit sei, für die Leckermäuler

in der Stadt zu sorgen und die ersten Mohrrüben auszuziehen. Die Magd wurde herbeigerufen, um bei der Arbeit zu helfen. Fräulein Ännchen schritt behutsam bis in die Mitte des Ackers, faßte einen stattlichen Krautbusch. Doch sowie sie zog, ließ sich ein seltsamer Ton vernehmen. — Man denke ja nicht an die Alraunwurzel und an das entsetzliche Gewinsel und Geheul, das, wenn man sie herauszieht aus der Erde, das menschliche Herz durchschneidet. Nein, der Ton, der aus der Erde zu kommen schien, glich einem feinen, freudigen Lachen. Doch aber ließ Fräulein Ännchen den Krautbusch wieder fahren und rief etwas erschreckt: "II — wer lacht denn da mich aus?" Als sich aber weiter nichts vernehmen ließ, faßte sie noch einmal den Krautbusch, der höher und stattlicher emporgeschossen schien als alle andere, und zog beherzt, das Gelächter, das sich wieder hören ließ, gar nicht achtend, die schönste, die zarteste der Mohrrüben aus der Erde. Doch sowie Fräulein Ännchen die Mohrrübe betrachtete, schrie sie laut auf vor freudigem Schreck, so daß die Magd herbeisprang und ebenso wie Fräulein Ännchen laut aufschrie über das hübsche Wunder, das sie gewahrte. Fest der Mohrrübe aufgestreift, saß nämlich ein herrlicher goldner Ring mit einem feuerfunkelnden Topas. "Ei", rief die Magd, "der ist für Sie bestimmt. Fräulein Ännchen, das ist Ihr Hochzeitsring, den müssen Sie nur gleich anstecken!" — "Was sprichst du für dummes Zeug", erwiderte Fräulein Ännchen, "den Trauring, den muß ich ja von dem Herrn Amandus von Nebelstern empfangen, aber nicht von einer Mohrrübe!" — Je länger Fräulein Ännchen den Ring betrachtete, desto mehr gefiel er ihr. Der Ring war aber auch wirklich von so feiner zierlicher Arbeit, daß er alles zu übertreffen schien, was jemals menschliche Kunst zustande gebracht. Den Reif bildeten hundert und hundert winzig kleine Figürchen, in den mannigfaltigsten Gruppen verschlungen, die man auf den ersten Blick kaum mit dem bloßen Auge zu unterscheiden vermochte, die aber, sahe man den Ring länger und schärfer an, ordentlich zu wachsen, lebendig zu werden, in anmutigen Reihen zu tanzen schienen. Dann aber war das Feuer des Edelsteins von solch ganz besonderer Art, daß selbst unter den Topasen im Grünen Gewölbe zu Dresden schwerlich ein solcher aufgefunden werden möchte. "Wer weiß", sprach die Magd, "wie lange der schöne Ring tief in der Erde gelegen haben mag, und da ist er denn heraufgespatelt worden, und die Mohrrübe ist durchgewachsen." Fräulein Ännchen zog nun den Ring von der Mohrrübe ab, und seltsam genug war es, daß diese ihr zwischen den Fingern durchglitschte und in den Erdboden verschwand. Beide, die Magd und Fräulein Ännchen, achteten aber nicht sonderlich darauf, sie waren zu sehr versunken in den Anblick des prächtigen Ringes, den Fräulein Ännchen nun ohne weiteres ansteckte an den kleinen Finger der rechten Hand. Sowie sie dies tat, empfand sie von der Grundwurzel des Fingers bis in die Spitze hinein einen stechenden Schmerz, der aber in demselben Augenblick wieder nachließ, als sie ihn fühlte

Natürlicherweise erzählte sie mittags dem Herrn Dapsul von Zabeithau, was ihr Seltsames auf dem Mohrrübenfelde begegnet, und zeigte ihm den schönen Ring, den die Mohrrübe aufgesteckt gehabt. Sie wollte den Ring, damit ihn der Papa besser betrachten könne, vom Finger herabziehn. Aber einen stechenden Schmerz empfand sie, wie damals, als sie den Ring aufsteckte, und dieser Schmerz hielt an, solange sie am Ringe zog, bis er zuletzt so unerträglich wurde, daß sie davon abstehen mußte. Herr Dapsul betrachtete den Ring an Ännchens Finger mit der gespanntesten Aufmerksamkeit, ließ Ännchen mit dem ausgestreckten Finger allerlei Kreise nach allen Weitgegenden beschreiben, versank dann in tiefes Nachdenken und bestieg, ohne nur ein einziges Wort weiter zu sprechen, den Turm. Fräulein Ännchen vernahm, wie der Papa im Hinaufsteigen beträchtlich seufzte und stöhnte.

Andern Morgens, als Fräulein Ännchen sich gerade auf dem Hofe mit dem großen Hahn herumjagte, der allerlei

Unfug trieb und hauptsächlich mit den Täubern krakelte, weinte der Herr Dapsul von Zabeithau so erschrecklich durch das Sprachrohr herab, daß Ännchen ganz bewegt wurde und durch die hohle Hand hinaufrief: "Warum heulen Sie denn so unbarmherzig, bester Papa, das Federvieh wird ja ganz wild!" — Da schrie der Herr Dapsul durch das Sprachrohr herab: "Anna, meine Tochter Anna, steige sogleich zu mir herauf." Fräulein Ännchen verwunderte sich höchlich über dieses Gebot, denn noch nie hatte sie der Papa auf den Turm beschieden, vielmehr dessen Pforte sorgfältig verschlossen gehalten. Es überfiel sie ordentlich eine gewisse Bangigkeit, als sie die schmale Wendeltreppe hinaufstieg und die schwere Tür öffnete, die in das einzige Gemach des Turmes führte. Herr Dapsul von Zabelthau saß, von allerlei wunderlichen Instrumenten und bestaubten Büchern umgeben, auf einem großen Lehnstuhl von seltsamer Form. Vor ihm stand ein Gestell, das ein in einem Rahmen gespanntes Papier trug, auf dem verschiedene Linien gezeichnet. Er hatte eine hohe, spitze, graue Mütze auf dem Kopfe, trug einen weiten Mantel von grauem Kalmank und hatte einen langen weißen Bart am Kinn, so daß er wirklich aussah wie ein Zauberer. Eben wegen des falschen Bartes kannte Fräulein Ännchen den Papa anfangs gar nicht und blickte ängstlich umher, ob er etwa in einer Ecke des Gemachs vorhanden; nachher, als sie aber gewahrte, daß der Mann mit dem Barte wirklich Papachen sei, lachte Fräulein Ännchen recht herzlich und fragte, ob's denn schon Weihnachten sei und ob Papachen den Knecht Ruprecht spielen wolle.

Ohne auf Ännchens Rede zu achten, nahm Herr Dapsul von Zabelthau ein kleines Eisen zur Hand, berührte damit Ännchens Stirne und bestrich dann einigemal ihren rechten Arm von der Achsel bis in die Spitze des kleinen Ringefingers herab. Hierauf mußte sie sich auf den Lehnstuhl setzen, den Herr Dapsul verlassen, und den kleinen beringten Finger auf das in den Rahmen gespannte Papier in der

Art stellen, daß der Topas den Zentralpunkt, in den alle Linien zusammenliefen, berührte. Alsbald schossen aus dem Edelstein gelbe Strahlen ringsumher, bis das ganze Papier dunkelgelb gefärbt war. Nun knisterten die Linien auf und nieder, und es war, als sprängen die kleinen Männlein aus des Ringes Reif lustig umher auf dem ganzen Blatt. Der Herr Dapsul, den Blick von dem Papier nicht wegwendend, hatte indessen eine dünne Metallplatte ergriffen, hielt sie mit beiden Händen hoch in die Höhe und wollte sie niederdrücken auf das Papier, doch in demselben Augenblick glitschte er auf dem glatten Steinboden aus und fiel sehr unsanft auf den Hintern, während die Metallplatte, die er instinktmäßig losgelassen, um womöglich den Fall zu brechen und das Steißbein zu konservieren, klirrend zur Erde fiel. Fräulein Ännchen erwachte mit einem leisen "Ach!" aus dem seltsamen träumerischen Zustande, in den sie versunken. Herr Dapsul richtete sich mühsam in die Höhe, setzte den grauen Zuckerhut wieder auf, der ihm entfallen, brachte den falschen Bart in Ordnung und setzte sich dem Fräulein Ännchen gegenüber auf einige Folianten, die übereinandergetürmt. "Meine Tochter", sprach er dann, "meine Tochter Anna, wie war dir soeben zumute? was dachtest, was empfandest du? welche Gestaltungen erblicktest du mit den Augen des Geistes in deinem Innern?"

"Ach", erwiderte Fräulein Ännchen, "mir war so wohl zumute, so wohl, wie mir noch niemals gewesen. Dann dachte ich an den Herrn Amandus von Nebelstern. Ich sah ihn ordentlich vor Augen, aber er war noch viel hübscher als sonst und rauchte eine Pfeife von den virginischen Blättern, die ich ihm geschickt, welches ihm ungemein wohl stand. Dann bekam ich plötzlich einen ungemeinen Appetit nach jungen Mohrrüben und Bratwürstlein und war ganz entzückt, als das Gericht vor mir stand. Eben wollte ich zulangen, als ich wie mit einem jähen schmerzhaften Ruck aus dem Traum erwachte."

"— Amandus von Nebelstern - virginischer Kanaster -

Mohrrüben - Bratwürste! —" So sprach Herr Dapsul von Zabeithau sehr nachdenklich und winkte der Tochter, die sich entfernen wollte, zu bleiben.

"Glückliches unbefangenes Kind", begann er dann mit einem Ton, der noch viel weinerlicher war als sonst jemals, "das du nicht eingeweiht bist in die tiefen Mysterien des Weltalls, die bedrohlichen Gefahren nicht kennst, die dich umgeben. Du weißt nichts von jener überirdischen Wissenschaft der heiligen Kabbala. Zwar wirst du auch deshalb niemals der himmlischen Lust der Weisen teilhaftig werden, die, zur höchsten Stufe gelangt, weder essen noch trinken dürfen als nur zur Lust und denen niemals Menschliches begegnet, du stehst aber auch dafür nicht die Angst des Ersteigens jener Stufe aus, wie dein unglücklicher Vater, den noch viel zu sehr menschlicher Schwindel anwandelt und dem das, was er mühsam erforscht, nur Grauen und Entsetzen erregt und der noch immer aus purem irdischen Bedürfnis essen und trinken und - überhaupt Menschliches tun muß. —Erfahre, mein holdes, mit Unwissenheit beglücktes Kind, daß die tiefe Erde, die Luft, das Wasser, das Feuer erfüllt ist mit geistigen Wesen höherer und doch wieder beschränkterer Natur als die Menschen. Es scheint unnötig, dir, mein Dümmchen, die besondere Natur der Gnomen, Salamander, Sylphen und Undinen zu erklären, du würdest es nicht fassen können. Um dir die Gefahr anzudeuten, in der du vielleicht schwebst, ist es genug, dir zu sagen, daß diese Geister nach der Verbindung mit den Menschen trachten, und da sie wohl wissen, daß die Menschen in der Regel solch eine Verbindung sehr scheuen, so bedienen sich die erwähnten Geister allerlei listiger Mittel, um den Menschen, dem sie ihre Gunst geschenkt, zu verlocken. Bald ist es ein Zweig, eine Blume, ein Glas Wasser, ein Feuerstrahl oder sonst etwas ganz geringfügig Scheinendes, was sie zum Mittel brauchen, um ihren Zweck zu erreichen. Richtig ist es, daß eine solche Verbindung oft sehr ersprießlich ausschlägt, wie denn einst zwei Priester, von denen der Fürst

von Mirandola erzählt, vierzig Jahre hindurch mit einem solchen Geist in der glücklichsten Ehe lebten. Richtig ist es ferner, daß die größten Weisen einer solchen Verbindung eines Menschen mit einem Elementargeist entsprossen. So war der große Zoroaster ein Sohn des Salamanders Oromais, so waren der große Apollonius, der weise Merlin, der tapfre Graf von Cleve, der große Kabbalist Bensyra herrliche Früchte solcher Ehen, und auch die schöne Melusine war, nach dem Ausspruch des Paracelsus, nichts anders als eine Sylphide. Doch demunerachtet ist die Gefahr einer solchen Verbindung nur zu groß, denn abgesehen davon, daß die Elementargeister von dem, dem sie ihre Gunst geschenkt, verlangen, daß ihm das hellste Licht der profundesten Weisheit aufgehe, so sind sie auch äußerst empfindlich und rächen jede Beleidigung sehr schwer. So geschah es einmal, daß eine Sylphide, die mit einem Philosophen verbunden, als er mit seinen Freunden von einem schönen Frauenzimmer sprach und sich vielleicht dabei zu sehr erhitzte, sofort in der Luft ihr schneeweißes schöngeformtes Bein sehen ließ, gleichsam um die Freunde von ihrer Schönheit zu überzeugen, und dann den armen Philosophen auf der Stelle tötete. Doch ach - was spreche ich von anderen? warum spreche ich nicht von mir selbst? — Ich weiß, daß schon seit zwölf Jahren mich eine Sylphide liebt, aber ist sie scheu und schüchtern, so quält mich der Gedanke an die Gefahr, durch kabbalistische Mittel sie zu fesseln, da ich noch immer viel zu sehr an irdischen Bedürfnissen hänge und daher der gehörigen Weisheit ermangle. Jeden Morgen nehme ich mir vor zu fasten, lasse auch das Frühstück glücklich vorübergehen, aber wenn dann der Mittag kommt - O Anna, meine Tochter Anna - du weißt es ja - ich fresse erschrecklich!" — Diese letzten Worte sprach der Herr Dapsul von Zabelthau mit beinahe heulendem Ton, indem ihm die bittersten Tränen über die hagern eingefallenen Backen liefen; dann fuhr er beruhigter fort: "Doch bemühe ich mich gegen den mir gewogenen Elementargeist des feinsten Betragens, der Galanterie. Niemals wage ich es, eine Pfeife Tabak ohne die gehörigen kabbalistischen Vorsichtsmaßregeln zu rauchen, denn ich weiß ja nicht, ob mein zarter Luftgeist die Sorte liebet und nicht empfindlich werden könnte über die Verunreinigung seines Elements, weshalb denn auch alle diejenigen, die Jagdknaster rauchen oder ,Es blühe Sachsen', niemals weise und der Liebe einer Sylphide teilhaftig werden können. Ebenso verfahre ich, wenn ich mir einen Haselstock schneide, eine Blume pflücke, eine Frucht esse oder Feuer anschlage, da all mein Trachten dahin geht, es durchaus mit keinem Elementargeist zu verderben. Und doch - siehst du wohl jene Nußschale, über die ich ausglitschte und, rücklings umstülpend, das ganze Experiment verdarb, das mir das Geheimnis des Ringes ganz erschlossen haben würde? Ich erinnere mich nicht, jemals in diesem nur der Wissenschaft geweihten Gemach (du weißt nun, weshalb ich auf der Treppe frühstücke) Nüsse genossen zu haben, und um so klarer ist es, daß in diesen Schalen ein kleiner Gnome versteckt war, vielleicht um bei mir zu hospitieren und meinen Experimenten zuzulauschen. Denn die Elementargeister lieben die menschlichen Wissenschaften, vorzüglich solche, die das uneingeweihte Volk wo nicht albern und aberwitzig, so doch die Kraft des menschlichen Geistes übersteigend und eben deshalb gefährlich nennt. Deshalb finden sie sich auch häufig ein bei den göttlichen magnetischen Operationen. Vorzüglich sind es aber die Gnomen, die ihre Fopperei nicht lassen können und dem Magnetiseur, der noch nicht zu der Stufe der Weisheit gelangt ist, die ich erst beschrieben, und zu sehr hängt an irdischem Bedürfnis, ein verliebtes Erdenkind unterschieben in dem Augenblick, da er glaubte, in völlig reiner abgeklärter Lust eine Sylphide zu umarmen. — Als ich nun dem kleinen Studenten auf den Kopf trat, wurde er böse und warf mich um. Aber einen tiefern Grund hatte wohl der Gnome, mir die Entzifferung des Geheimnisses mit dem Ringe zu verderben. — Anna! — meine Tochter Anna! — vernimm es -herausgebracht hatte ich, daß ein Gnome dir seine Gunst zugewandt, der, nach der Beschaffenheit des Ringes zu urteilen, ein reicher, vornehmer und dabei vorzüglich feingebildeter Mann sein muß. Aber, meine teure Anna, mein vielgeliebtes herziges Dümmchen, wie willst du es anfangen, dich ohne die entsetzlichste Gefahr mit einem solchen Elementargeist in irgendeine Verbindung einzulassen? Hättest du den Cassiodorus Remus gelesen, so könntest du mir zwar entgegnen, daß nach dessen wahrhaftigem Bericht die berühmte Magdalena de la Croix, Äbtissin eines Klosters zu Cordua in Spanien, dreißig Jahre mit einem kleinen Gnomen in vergnügter Ehe lebte, daß ein gleiches sich mit einem Sylphen und der jungen Gertrud, die Nonne war im Kloster Nazareth bei Köln, zutrug, aber denke an die gelehrten Beschäftigungen jener geistlichen Damen und an die deinigen. Welch ein Unterschied! statt in weisen Büchern zu lesen, fütterst du sehr oft Hühner, Gänse, Enten und andere jeden Kabbalisten molestierende Tiere; statt den Himmel, den Lauf der Gestirne zu beobachten, gräbst du in der Erde; statt in künstlichen horoskopischen Entwürfen die Spur der Zukunft zu verfolgen, stampfest du Milch zu Butter und machest Sauerkraut ein zu schnödem winterlichen Bedürfnis, wiewohl ich selbst dergleichen Speisung ungern vermisse. Sage! kann das alles einem feinfühlenden philosophischen Elementargeist auf die Länge gefallen? — Denn, o Anna! durch dich blüht Dapsulheim, und diesem irdischen Beruf mag und kann dein Geist sich nimmer entziehen. Und doch empfandest du über den Ring, selbst da er dir jähen bösen Schmerz erregte, eine ausgelassene unbesonnene Freude! — Zu deinem Heil wollt ich durch jene Operation die Kraft des Ringes brechen, dich ganz von dem Gnomen befreien, der dir nachstellt. Sie mißlang durch die Tücke des kleinen Studenten in der Nußschale. Und doch! — mir kommt ein Mut, den Elementargeist zu bekämpfen, wie ich ihn noch nie gespürt! —Du bist mein Kind -das ich zwar nicht mit einer Sylphide, Salamandrin oder sonst einem Elementargeist erzeugt, sondern mit jenem armen Landfräulein aus der besten Familie, die die gottvergessenen Nachbarn mit dem Spottnamen: Ziegenfräulein verhöhnten, ihrer idyllischen Natur halber, die sie vermochte, jeden Tages eine kleine Herde weißer schmucker Ziegen selbst zu weiden auf grünen Hügeln, wozu ich, damals ein verliebter Narr, auf meinem Turm die Schalmei blies. — Doch du bist und bleibst mein Kind, mein Blut! — Ich rette dich, hier diese mystische Feue soll dich befreien von dem verderblichen Ringe!"

Damit nahm Herr Dapsul von Zabeithau eine kleine Feile zur Hand und begann an dem Ringe zu feilen. Kaum hatte er aber einigemal hin und her gestrichen, als Fräulein Ännchen vor Schmerz laut aufschrie: "Papa - Papa, Sie feilen mir ja den Finger ab!" So rief sie, und wirklich quoll dunkles dickes Blut unter dem Ringe hervor. Da ließ Herr Dapsul die Feile aus der Hand fallen, sank halb ohnmächtig in den Lehnstuhl und rief in aller Verzweiflung: "Oh! — oh! — oh! — es ist um mich geschehn! Vielleicht noch in dieser Stunde kommt der erzürnte Gnome und beißt mir die Kehle ab, wenn mich die Sylphide nicht rettet! — O Anna - Anna -geh - flieh!"

Fräulein Ännchen, die sich bei des Papas wunderlichen Reden schon längst weit weg gewünscht hatte, sprang hinab mit der Schnelle des Windes.


Drittes Kapitel



Es wird von der Ankunft eines merkwürdigen Mannes in Dapsulbeim berichtet und erzählt, was sich dann ferner begeben

Der Herr Dapsul von Zabeithau hatte eben seine Tochter unter vielen Tränen umarmt und wollte den Turm besteigen, wo er jeden Augenblick den bedrohlichen Besuch des erzürnten Gnomen befürchtete. Da ließ sich heller lustiger Hörnerklang vernehmen, und hinein in den Hof sprengte ein kleiner Reiter von ziemlich sonderbarem possierlichen Ansehen.

Das gelbe Pferd war gar nicht groß und von feinem zierlichen Bau, deshalb nahm sich auch der Kleine trotz seines unförmlich dicken Kopfs gar nicht so zwergartig aus, sondern ragte hoch genug über den Kopf des Pferdes empor. Das war aber bloß dem langen Leibe zuzuschreiben, denn was an Beinen und Füßen über den Sattel hing, war so wenig, daß es kaum zu rechnen. Übrigens trug der Kleine einen sehr angenehmen Habit von goldgelbem Atlas, eine ebensolche hohe Mütze mit einem tüchtigen grasgrünen Federbusch und Reitstiefel von schönpoliertem Mahagoniholz. Mit einem durchdringenden "Prrrrrr!" hielt der Reiter dicht vor dem Herrn von Zabelthau. Er schien absteigen zu wollen, plötzlich fuhr er aber mit der Schnelligkeit des Blitzes unter dem Bauch des Pferdes hinweg, schleuderte sich auf der andern Seite zwei-, dreimal hintereinander zwölf Ellen hoch in die Lüfte, so daß er sich auf jeder Elle sechsmal überschlug, bis er mit dem Kopf auf dem Sattelknopf zu stehen kam. So galoppierte er, indem die Füßchen in den Lüften Trochäen, Pyrrhichien, Daktylen und so weiter spielten, vorwärts, rückwärts, seitwärts in allerlei wunderlichen Wendungen und Krümmungen. Als der zierliche Gymnastiker und Reitkünstler endlich stillstand und höflich grüßte, erblickte man auf dem Boden des Hofes die Worte: "Sein Sie mir schönstens gegrüßt samt Ihrem Fräulein Tochter, mein hochverehrtester Herr Dapsul von Zabelthau Er hatte diese Worte mit schönen römischen Unzialbuchstaben in das Erdreich geritten. Hierauf sprang der Kleine vom Pferde, schlug dreimal Rad und sagte dann, daß er ein schönes Kompliment auszurichten habe an den Herrn Dapsul von Zabeithau von seinem gnädigen Herrn, dem Herrn Baron Porphyrio von Ockerodastes, genannt Corduanspitz, und wenn es dem Herrn Dapsul von Zabelthau nicht unangenehm wäre, so wolle der Herr Baron auf einige Tage freundlich bei ihm einsprechen, da er künftig sein nächster Nachbar zu werden hoffe.

Herr Dapsul von Zabelthau glich mehr einem Toten als

einem Lebendigen, so bleich und starr stand er da, an seine Tochter gelehnt. Kaum war ein: "Wird - mir - sehr - erfreulich sein" mühsam seinen bebenden Lippen entflohen, als der kleine Reiter sich mit denselben Zeremonien, wie er gekommen, blitzschnell entfernte.

"Ach, meine Tochter", rief nun Herr Dapsul von Zabelthau heulend und schluchzend, "ach, meine Tochter, meine arme unglückselige Tochter, es ist nur zu gewiß, es ist der Gnome, welcher kommt, dich zu entführen und mir den Hals umzudrehen! — Doch wir wollen den letzten Mut aufbieten, den wir etwa noch besitzen möchten! Vielleicht ist es möglich, den erzürnten Elementargeist zu versöhnen, wir müssen uns nur so schicklich gegen ihn benehmen, als es irgend in unserer Macht steht. — Sogleich werde ich dir, mein teures Kind, einige Kapitel aus dem Lactanz oder aus dem Thomas Aquinas vorlesen über den Umgang mit Elementargeistern, damit du keinen garstigen Schnitzer machst -" Noch ehe aber der Herr Dapsul von Zabeithau den Lactanz, den Thomas Aquinas oder einen andern elementarischen Knigge herbeischaffen konnte, hörte man schon ganz in der Nähe eine Musik erschallen, die beinahe der zu vergleichen, die hinlänglich musikalische Kinder zum lieben Weihnachten aufzuführen pflegen. Ein schöner langer Zug kam die Straße herauf. Voran ritten wohl an sechzig, siebzig kleine Reiter auf kleinen gelben Pferden, sämtlich gekleidet wie der Abgesandte in gelben Habiten, spitzen Mützen und Stiefeln von poliertem Mahagoni. Ihnen folgte eine mit acht gelben Pferden bespannte Kutsche von dem reinsten Kristall, der noch ungefähr vierzig andere minder prächtige, teils mit sechs, teils mit vier Pferden bespannte Kutschen folgten. Noch eine Menge Pagen, Läufer und andere Diener schwärmten nebenher auf und nieder, in glänzenden Kleidern angetan, so daß das Ganze einen ebenso lustigen als seltsamen Anblick gewährte. Herr Dapsul von Zabeithau blieb versunken in trübes Staunen. Fräulein Ännchen, die bisher nicht geahnt, daß es auf der ganzen Erde

solch niedliche schmucke Dinger geben könne als diese Pferdchen und Leutchen, geriet ganz außer sich und vergaß alles, sogar den Mund, den sie zum freudigen Ausruf weit genug geöffnet, wieder zuzumachen.

Die achtspännige Kutsche hielt dicht vor dem Herrn Dapsul von Zabeithau. Reiter sprangen von den Pferden, Pagen, Diener eilten herbei, der Kutschenschlag wurde geöffnet, und wer nun aus den Armen der Dienerschaft herausschwebte aus der Kutsche, war niemand anders als der Herr Baron Porphyrio von Ockerodastes, genannt Corduanspitz. — Was seinen Wuchs betraf, so war der Herr Baron bei weitem nicht dem Apollo von Belvedere, ja nicht einmal dem Sterbenden Fechter zu vergleichen. Denn außer dem, daß er keine volle drei Fuß maß, so bestand auch der dritte Teil dieses kleinen Körpers aus dem offenbar zu großen dicken Kopfe, dem übrigens eine tüchtige, lang gebogene Nase sowie ein Paar große, kugelrund hervorquellende Augen keine üble Zierde waren. Da der Leib auch etwas lang, so blieben für die Füßchen nur etwa vier Zoll übrig. Dieser kleine Spielraum war aber gut genutzt, denn an und vor sich selbst waren die freiherrlichen Füßchen die zierlichsten, die man nur sehen konnte. Freilich schienen sie aber zu schwach, das würdige Haupt zu tragen; der Baron hatte einen schwankenden Gang, stülpte auch wohl manchmal um, stand aber gleich wieder wie ein Stehaufmännchen auf den Füßen, so daß jenes Umstülpen mehr der angenehme Schnörkel eines Tanzes schien. Der Baron trug einen enge anschließenden Habit von gleißendem Goldstoff und ein Mützchen, das beinahe einer Krone zu vergleichen, mit einem ungeheuren Busch von vielen krautgrünen Federn. Sowie der Baron nun auf der Erde stand, stürzte er auf den Herrn Dapsul von Zabelthau los, faßte ihn bei beiden Händen, schwang sich empor bis an seinen Hals, hing sich an diesen und rief mit einer Stimme, die viel stärker dröhnte, als man es hätte der kleinen Statur zutrauen sollen: "0 mein Dapsul von Zabelthau - mein teurer, innigstgeliebter Vater!" Darauf schwang

der Baron sich ebenso behende und geschickt wieder herab von des Herrn von Dapsuls Halse, sprang oder schleuderte sich vielmehr auf Fräulein Ännchen los, faßte die Hand mit dem beringten Finger, bedeckte sie mit laut schmatzenden Küssen und rief ebenso dröhnend als zuvor: "0 mein allerschönstes Fräulein Anna von Zabelthau, meine geliebteste Braut!" Darauf klatschte der Baron in die Händchen, und alsbald ging die gehende lärmende Kindermusik los, und über hundert kleine Herrlein, die den Kutschen und den Pferden entstiegen, tanzten wie erst der Kurier zum Teil auf den Köpfen, dann wieder auf den Füßen in den zierlichsten Trochäen, Spondeen, Jamben, Pyrrhichien, Anapästen, Tribrachen, Bacchien, Antibacchien, Choriamben und Daktylen, daß es eine Lust war. Während dieser Lust erholte sich aber Fräulein Ännchen von dem großen Schreck, den ihr des kleinen Barons Anrede verursacht, und geriet in allerlei wohlgegründete ökonomische Bedenken. Wie, dachte sie, ist es möglich, daß das kleine Volk Platz hat in diesem kleinen Hause? — Wäre es auch mit der Not entschuldigt, wenn ich wenigstens die Dienerschaft in die große Scheune bettete, hätten sie auch da wohl Platz? Und was fange ich mit den Edelleuten an, die in den Kutschen gekommen und gewiß gewohnt sind, in schönen Zimmern sanft und weich gebettet zu schlafen? —Sollten auch die beiden Ackerpferde heraus aus dem Stall, ja, wäre ich unbarmherzig genug, auch den alten lahmen Fuchs herauszujagen ins Gras, ist dennoch wohl Platz genug für alle diese kleinen Bestien von Pferden, die der häßliche Baron mitgebracht? Und ebenso geht es ja mit den einundvierzig Kutschen! — Aber nun noch das Ärgste! —Ach, du lieber Gott, reicht denn der ganze Jahresvorrat wohl hin, all diese kleinen Kreaturen auch nur zwei Tage hindurch zu sättigen? — Dies letzte Bedenken war nun wohl das allerschlimmste. Fräulein Ännchen sah schon alles aufgezehrt, alles neue Gemüse, die Hammelherde, das Federvieh, das eingesalzene Fleisch, ja selbst den Runkelrübenspiritus, und das trieb ihr die hellen Tränen in die Augen. Es kam ihr vor, als schnitte ihr eben der Baron Corduanspitz ein rechtes freches, schadenfrohes Gesicht, und das gab ihr den Mut, ihm, als seine Leute noch im besten Tanzen begriffen waren, in dürren Worten zu erklären, daß, so lieb dem Vater auch sein Besuch sein möge, an einen längern als zweistündigen Aufenthalt in Dapsulheim doch gar nicht zu denken, da es an Raum und an allen übrigen Dingen, die zur Aufnahme und zur standesmäßigen Bewirtung eines solchen vornehmen reichen Herrn nebst seiner zahlreichen Dienerschaft nötig, gänzlich mangle. Da sah aber der kleine Corduanspitz plötzlich so ungemein süß und zart aus wie ein Marzipanbrötchen und versicherte, indem er mit zugedrückten Augen Fräulein Ännchen etwas rauhe und nicht zu weiße Hand an die Lippen drückte, daß er weit entfernt sei, dem lieben Papa und der schönsten Tochter auch nur die mindeste Ungelegenheit zu verursachen. Er führe alles mit sich, was Küche und Keller zu leisten habe, was aber die Wohnung betreffe, so verlange er nichts als ein Stückchen Erde und den freien Himmel darüber, damit seine Leute den gewöhnlichen Reisepalast bauen könnten, in dem er mitsamt seiner ganzen Dienerschaft, und was derselben noch an Vieh anhängig, hausen werde.

Über diese Worte des Baron Porphyrio von Ockerodastes wurde Fräulein Ännchen so vergnügt, daß sie, um zu zeigen, es käme ihr auch eben nicht darauf an, ihre Leckerbissen preiszugeben, im Begriff stand, dem Kleinen Krapfkuchen, den sie von der letzten Kirchweih aufgehoben, und ein Gläschen Runkelrübengeist anzubieten, wenn er nicht doppelten Bitter vorziehe, den die Großmagd aus der Stadt mitgebracht und als magenstärkend empfohlen. Doch in dem Augenblick setzte Corduanspitz hinzu, daß er zum Aufbau des Palastes den Gemüsegarten erkoren, und hin war Ännchens Freude! — Während aber die Dienerschaft, um des Herrn Ankunft auf Dapsulheim zu feiern, ihre olympischen Spiele fortsetzte, indem sie bald mit den dicken Köpfen sich in die spitzen Bäuche rannten und rückwärts überschlugen, bald sich in

die Lüfte schleuderten, bald unter sich kegelten, selbst Kegel, Kugel und Kegler vorstehend und so weiter, vertiefte sich der kleine Baron Porphyrio von Ockerodastes mit dem Herrn Dapsul von Zabeithau in ein Gespräch, das immer wichtiger zu werden schien, bis beide Hand in Hand sich fortbegaben und den astronomischen Turm bestiegen.

Voller Angst und Schreck lief nun Fräulein Ännchen eiligst nach dem Gemüsegarten, um zu retten, was noch zu retten möglich. Die Großmagd stand schon auf dem Felde und starrte mit offnem Munde vor sich her, regungslos, als sei sie verwandelt in eine Salzsäule wie Lots Weib. Fräulein Ännchen neben ihr erstarrte gleichermaßen. Endlich schrien aber beide, daß es weit in den Lüften umherschallte: "Ach, mein herrjemine! was ist denn das für ein Unglück!" — Den ganzen schönen Gemüsegarten fanden sie verwandelt in eine Wüstenei. Da grünte kein Kraut, blühte keine Staude; es schien ein ödes verwüstetes Feld. "Nein", schrie die Magd ganz erbost, "es ist nicht anders möglich, das haben die verfluchten kleinen Kreaturen getan, die soeben angekommen sind - in Kutschen sind sie gefahren? wollen wohl vornehme Leute vorstellen? — Ha, ha! — Kobolde sind es, glauben Sie mir, Fräulein Annchen, nichts als unchristliche Hexenkerls, und hätt ich nur ein Stückchen Kreuzwurzel bei der Hand, so sollten Sie ihre Wunder sehen. — Doch sie sollen nur kommen, die kleinen Bestien, mit diesem Spaten schlage ich sie tot!" Damit schwang die Großmagd ihre bedrohliche Waffe hoch in den Lüften, indem Fräulein Ännchen laut weinte.

Es nahten sich indessen jetzt vier Herren aus Corduanspitzes Gefolge mit solchen angenehmen zierlichen Mienen und höflichen Verbeugungen, sahen auch dabei so höchst wunderbar aus, daß die Großmagd, statt, wie sie gewollt, gleich zuzuschlagen, den Spaten langsam sinken ließ und Fräulein Ännchen einhielt mit Weinen.

Die Herren kündigten sich als die den Herrn Baron Porphyrio von Ockerodastes, genannt Corduanspitz, zunächst

umgebende Freunde an, waren, wie es auch ihre Kleidung wenigstens symbolisch andeutete, von vier verschiedenen Nationen und nannten sich: Pan Kapustowicz aus Polen, Herr von Schwarzrettig aus Pommern, Signor di Broccoli aus Italien, Monsieur de Roccambolle aus Frankreich. Sie versicherten in sehr wohlklingenden Redensarten, daß sogleich die Bauleute kommen und dem allerschönsten Fräulein das hohe Vergnügen bereiten würden, in möglichster Schnelle einen hübschen Palast aus lauter Seide aufbauen zu sehen.

"Was kann mir der Palast aus Seide helfen", rief Fräulein Ännchen, laut weinend im tiefsten Schmerz, "was geht mich überhaupt euer Baron Corduanspitz an, da ihr mich um alles schöne Gemüse gebracht habt, ihr schlechten Leute, und alle meine Freude dahin ist." Die höflichen Leute trösteten aber Fräulein Ännchen und versicherten, daß sie durchaus gar nicht schuld wären an der Verwüstung des Gemüsegartens, daß derselbe im Gegenteil bald wieder in einem solchen Flor grünen und blühen werde, wie ihn Fräulein Ännchen noch niemals und überhaupt noch keinen in der Welt gesehen.

Die kleinen Bauleute kamen auch wirklich, und nun ging ein solches tolles wirres Durcheinandertreiben auf dem Acker los, daß Fräulein Ännchen sowohl als die Großmagd ganz erschrocken davonrannten bis an die Ecke eines Busches, wo sie stehenblieben und zuschauen wollten, wie sich dann alles begeben würde.

Ohne daß sie aber auch nur im mindesten begriffen, wie das mit rechten Dingen zugehen konnte, formte sich vor ihren Augen in wenigen Minuten ein hohes prächtiges Gezelt aus goldgelbem Stoff, mit bunten Kränzen und Federn geschmückt, das den ganzen Raum des großen Gemüsegartens einnahm, so daß die Zeltschnüre über das Dorf weg bis in den nah gelegenen Wald gingen und dort an starken Bäumen befestigt waren.

Kaum war das Gezelt fertig, als der Baron Porphyrio von Ockerodastes mit dem Herrn Dapsul von Zabelthau

hinabkam von dem astronomischen Turm, nach mehreren Umarmungen in die achtspännige Kutsche stieg und nebst seinem Gefolge in derselben Ordnung, wie er nach Dapsulheim gekommen, hineinzog in den seidenen Palast, der sich hinter dem letzten Mann zuschloß.

Nie hatte Fräulein Ännchen den Papa so gesehen. Auch die leiseste Spur der Betrübnis, von der er sonst stets heimgesucht, war weggetilgt von seinem Antlitz, es war beinahe, als wenn er lächelte, und dabei hatte sein Blick in der Tat etwas Verklärtes, das denn wohl auf ein großes Glück zu deuten pflegt, das jemanden ganz unvermutet über den Hals gekommen. — Schweigend nahm Herr Dapsul von Zabelthau Fräulein Ännchens Hand, führte sie hinein in das Haus, umarmte sie dreimal hintereinander und brach dann endlich los: "Glückliche Anna - überglückliches Kind! — glücklicher Vater! — O Tochter, alle Besorgnis, aller Gram, alles Herzeleid ist nun vorüber! — Dich trifft ein Los, wie es nicht so leicht einer Sterblichen vergönnt ist! Wisse, dieser Baron Porphyrio von Ockerodastes, genannt Corduanspitz, ist keinesweges ein feindseliger Gnome, wiewohl er von einem dieser Elementargeister abstammt, dem es aber gelang, seine höhere Natur durch den Unterricht des Salamanders Oromasis zu reinigen. Aus dem geläuterten Feuer ging aber die Liebe zu einer Sterblichen hervor, mit der er sich verband und Ahnherr der illüstersten Familie wurde, durch deren Namen jemals ein Pergament geziert wurde. — Ich glaube dir, geliebte Tochter Anna, schon gesagt zu haben, daß der Schüler des großen Salamanders Oromasis, der edle Gnome Tsilmenech - ein chaldäischer Name, der in echtem reinen Deutsch soviel heißt als Grützkopf -, sich in die berühmte Magdalena de la Croix, Äbtissin eines Klosters zu Cordua in Spanien, verliebte und wohl an die dreißig Jahre mit ihr in einer glücklichen vergnügten Ehe lebte. Ein Sprößling der sublimen Familie höherer Naturen, die aus dieser Verbindung sich fortpflanzte, ist nun der liebe Baron Porphyrio von Ockerodastes, der den Zunamen

Corduanspitz angenommen, zur Bezeichnung seiner Abstammung aus Cordua in Spanien und um sich von einer mehr stolzen, im Grunde aber weniger würdigen Seitenlinie zu unterscheiden, die den Beinamen Saffian trägt. Daß dem Corduan ein Spitz zugesetzt worden, muß seine besonderen elementarisch-astrologischen Ursachen haben; ich dachte noch nicht darüber nach. Dem Beispiel seines großen Ahnherrn folgend, des Gnomen Tsilmenech, der die Magdalena de la Croix auch schon seit ihrem zwölften Jahre liebte, hat dir auch der vortreffliche Ockerodastes seine Liebe zugewandt, als du erst zwölf Jahre zähltest. Er war so glücklich, von dir einen kleinen goldnen Fingerreif zu erhalten, und nun hast du auch seinen Ring angesteckt, so daß du unwiderruflich seine Braut geworden!" — "Wie", rief Fräulein Ännchen voll Schreck und Bestürzung, "wie? — seine Braut? — den abscheulichen kleinen Kobold soll ich heiraten? Bin ich denn nicht längst die Braut des Herrn Amandus von Nebelstern? — Nein! — nimmermehr nehme ich den häßlichen Hexenmeister zum Mann, und mag er tausendmal aus Corduan sein oder aus Saffian!" —"Da", erwiderte Herr Dapsul von Zabeithau, ernster werdend, "da sehe ich denn zu meinem Leidwesen, wie wenig die himmlische Weisheit deinen verstockten irdischen Sinn zu durchdringen vermag! Häßlich, abscheulich nennst du den edlen elementarischen Porphyrio von Ockerodastes, vielleicht weil er nur drei Fuß hoch ist und außer dem Kopf an Leib, Arm und Bein und anderen Nebensachen nichts Erkleckliches mit sich trägt, statt daß ein solcher irdischer Geck, wie du ihn dir wohl denken magst, die Beine nicht lang genug haben kann, der Rockschöße wegen? O meine Tochter, in welchem heillosen Irrtum bist du befangen! — Alle Schönheit liegt in der Weisheit, alle Weisheit in dem Gedanken, und das physische Symbol des Gedankens ist der Kopf! —Je mehr Kopf, desto mehr Schönheit und Weisheit, und könnte der Mensch alle übrigen Glieder als schädliche Luxusartikel, die vom Übel, wegwerfen, er stände da als höchstes Ideal! Woraus entsteht alle Beschwerde, alles Ungemach, alle Zwietracht, aller Hader, kurz, alles Verderben des Irdischen als aus der verdammten Üppigkeit der Glieder? — O welcher Friede, welche Ruhe, welche Seligkeit auf Erden, wenn die Menschheit existierte ohne Leib, Steiß, Arm und Bein! — wenn sie aus lauter Büsten bestünde! — Glücklich ist daher der Gedanke der Künstler, wenn sie große Staatsmänner oder große Gelehrte als Büste darstellen, um symbolisch die höhere Natur anzudeuten, die ihnen inwohnen muß vermöge ihrer Chargé oder ihrer Bücher! — Also! meine Tochter Anna, nichts von Häßlichkeit, Abscheulichkeit oder sonstigem Tadel des edelsten der Geister, des herrlichen Porphyrio von Ockerodastes, dessen Braut du bist und bleibst! — Wisse, daß durch ihn auch dein Vater in kurzem die höchste Stufe des Glücks, dem er so lange vergebens nachgetrachtet, ersteigen wird. Porphyrio von Ockerodastes ist davon unterrichtet, daß mich die Sylphide Nehahilah (syrisch, soviel als Spitznase) liebt, und will mir mit allen Kräften beistehen, daß ich der Verbindung mit dieser höheren geistigen Natur ganz würdig werde. — Du wirst, mein liebes Kind, mit deiner künftigen Stiefmutter wohl zufrieden sein. — Möge ein günstiges Verhängnis es so fügen, daß unsere beiden Hochzeiten zu einer und derselben glücklichen Stunde gefeiert werden könnten!" — Damit verließ der Herr Dapsul von Zabelthau, indem er der Tochter noch einen bedeutenden Blick zugeworfen, pathetisch das Zimmer.

Dem Fräulein Ännchen fiel es schwer aufs Herz, als sie sich erinnerte, daß ihr wirklich vor langer Zeit, da sie noch ein Kind, ein kleiner Goldreif vom Finger weg abhanden gekommen auf unbegreifliche Weise. Nun war es ihr gewiß, daß der kleine abscheuliche Hexenmeister sie wirklich in sein Garn verlockt, so daß sie kaum mehr entrinnen könne, und darüber geriet sie in die alleräußerste Betrübnis. Sie mußte ihrem gepreßten Herzen Luft machen, und das geschah mittelst eines Gänsekiels, den sie ergriff und flugs an den Herrn Amandus von Nebelstern schrieb in folgender Weise:

"Mein herzliebster Amandus!

Es ist alles rein aus, ich bin die unglücklichste Person auf der ganzen Erde und schluchze und heule vor lauter Betrübnis so sehr, daß das liebe Vieh sogar Mitleid und Erbarmen mit mir hat, viel mehr wirst Du davon gerührt werden; eigentlich geht das Unglück auch Dich ebensogut an als mich, und Du wirst Dich ebenso betrüben müssen! Du weißt doch, daß wir uns so herzlich lieben, als nur irgendein Liebespaar sich lieben kann, und daß ich Deine Braut bin und daß uns der Papa zur Kirche geleiten wollte? — Nun! da kommt plötzlich ein kleiner garstiger, gelber Mensch in einer achtspännigen Kutsche, von vielen Herrn und Dienern begleitet, angezogen und behauptet, ich hätte mit ihm Ringe gewechselt und wir wären Braut und Bräutigam! — Und denke einmal, wie schrecklich! der Papa sagt auch, daß ich den kleinen Unhold heiraten müsse, weil er aus einer sehr vornehmen Familie sei. Das mag sein, nach dem Gefolge zu urteilen und den glänzenden Kleidern, die sie tragen, aber einen solchen greulichen Namen hat der Mensch, daß ich schon deshalb niemals seine Frau werden mag. Ich kann die unchristlichen Wörter, aus denen der Namen besteht, gar nicht einmal nachsprechen. Übrigens heißt er aber auch Corduanspitz, und das ist eben der Familienname. Schreib mir doch, ob die Corduanspitze wirklich so erlaucht und vornehm sind, man wird das wohl in der Stadt wissen. Ich kann gar nicht begreifen, was dem Papa einfällt in seinen alten Tagen, er will auch noch heiraten, und der häßliche Corduanspitz soll ihn verkuppeln an eine Frau, die in den Lüften schwebt. — Gott schütze uns! — Die Großmagd zuckt die Achseln und meint, von solchen gnädigen Frauen, die in der Luft flögen und auf dem Wasser schwämmen, halte sie nicht viel, sie würde gleich aus dem Dienst gehen und wünsche meinetwegen, daß die Stiefmama womöglich den Hals brechen möge bei dem ersten Lustritt zu St. Walpurgis. — Das sind schöne Dinge! — Aber auf Dich steht meine ganze Hoffnung! —Ich weiß ja, daß Du derjenige bist,

der da soll und muß, und mich retten wirst aus großer Gefahr. Die Gefahr ist da, komm, eile, rette

Deine bis in den Tod betrübte, aber getreueste Braut Anna von Zabeithau.

N. S. Könntest Du den kleinen gelben Corduanspitz nicht herausfordern? Du wirst gewiß gewinnen, denn er ist etwas schwach auf den Beinen.

N. S. Ich bitte Dich nochmals, ziehe Dich nur gleich an und eile zu Deiner unglückseligsten, so wie oben aber getreuesten Braut, Anna von Zabeithau."


Viertes Kapitel



in welchem die Hofhaltung eines mächtigen Königs beschrieben, nächstdem aber von einem blutigen Zweikampf und andern seltsamen Vorfällen Nachricht gegeben wird

Fräulein Annchen fühlte sich vor lauter Betrübnis wie gelähmt an allen Gliedern. Am Fenster saß sie mit übereinandergeschlagenen Armen und starrte hinaus, ohne des Gakkerns, Krähens, Mauzens und Piepens des Federviehs zu achten, das, da es zu dämmern begann, wie gewöhnlich von ihr zur Ruhe gebracht werden wollte. Ja, sie ließ es mit der größten Gleichgültigkeit geschehen, daß die Magd dies Geschäft besorgte und dem Haushahn, der sich in die Ordnung der Dinge nicht fügen, ja sich gegen die Stellvertreterin auflehnen wollte, mit der Peitsche einen ziemlich derben Schlag versetzte. Der eigne Liebesschmerz, der ihre Brust zerriß, raubte ihr alles Gefühl für das Leid des liebsten Zöglings ihrer süßesten Stunden, die sie der Erziehung gewidmet, ohne den Chesterfield oder den Knigge zu lesen, ja ohne die Frau von Genus oder andere seelenkennerische Damen zu Rate zu ziehen, die auf ein Haar wissen, wie junge Gemüter in die rechte Form zu kneten. — Man hätte ihr das als Leichtsinn anrechnen können.

Den ganzen Tag hatte sich Corduanspitz nicht sehen lassen, sondern war bei dem Herrn Dapsul von Zabeithau auf dem Turm geblieben, wo sehr wahrscheinlich wichtige Operationen vorgenommen sein mußten. Jetzt aber bemerkte Fräulein Ännchen den Kleinen, wie er im glühenden Schein der Abendsonne über den Hof wankte. Er kam ihr in seinem hochgelben Habit garstiger vor als jemals, und die possierliche Art, wie er hin und her hüpfte, jeden Augenblick umzustülpen schien, sich wieder emporschleuderte, worüber ein anderer sich krank gelacht haben würde, verursachte ihr noch mehr Gram. Ja, sie hielt endlich beide Hände vors Gesicht, um den widerwärtigen Popanz nur nicht ferner zu schauen. Da fühlte sie plötzlich, daß jemand sie an der Schürze zupfe. "Kusch, Feldmann!" rief sie, meinend, es sei der Hund, der sie zupfe. Es war aber nicht der Hund, vielmehr erblickte Fräulein Ännchen, als sie die Hände vom Gesicht nahm, den Herrn Baron Porphyrio von Ockerodastes, der sich mit einer beispiellosen Behendigkeit auf ihren Schoß schwang und sie mit beiden Armen umklammerte. Vor Schreck und Abscheu schrie Fräulein Ännchen laut auf und fuhr von dem Stuhl in die Höhe. Corduanspitz blieb aber an ihrem Halse hängen und wurde in dem Augenblick so fürchterlich schwer, daß er mit einem Gewicht von wenigstens zwanzig Zentnern das arme Ännchen pfeilschnell wieder herabzog auf den Stuhl, wo sie gesessen. Jetzt rutschte Corduanspitz aber auch sogleich herab von Ännchens Schoß, ließ sich so zierlich und manierlich, als es bei einigem Mangel an Gleichgewicht nur in seinen Kräften stand, nieder auf sein rechtes kleines Knie und sprach dann mit einem klaren, etwas besonders, aber nicht eben widerlich klingenden Ton: "Angebetetes Fräulein Anna von Zabeithau, vortreiflichste Dame, auserwählteste Braut, nur keinen Zorn, ich bitte, ich flehe! — nur keinen Zorn, keinen Zorn! — Ich weiß, Sie glauben, meine Leute hätten Ihren schönen Gemüsegarten verwüstet, um meinen Palast zu bauen? O Mächte des Alls! — Könnten Sie doch nur hineinschauen in meinen

geringen Leib und mein in lauter Liebe und Edelmut hüpfendes Herz erblicken! — Könnten Sie doch nur alle Kardinaltugenden entdecken, die unter diesem gelben Atlas in meiner Brust versammelt sind! — Oh, wie weit bin ich von jener schmachvollen Grausamkeit entfernt, die Sie mir zutrauen! — Wie wär es möglich, daß ein milder Fürst seine eignen Unterta - doch halt! — halt! — Was sind Worte, Redensarten! — Schauen müssen Sie selbst, o Braut! ja, schauen selbst die Herrlichkeiten, die Ihrer warten! Sie müssen mit mir gehen, ja, mit mir gehen auf der Stelle, ich führe Sie in meinen Palast, wo ein freudiges Volk lauert auf die angebetete Geliebte des Herrn!"

Man kann denken, wie Fräulein Ännchen sich vor Corduanspitzes Zumutung entsetzte, wie sie sich sträubte, dem bedrohlichen Popanz auch nur einen Schritt zu folgen. Corduanspitz ließ aber nicht nach, ihr die außerordentliche Schönheit, den grenzenlosen Reichtum des Gemüsegartens, der eigentlich sein Palast sei, mit solchen eindringlichen Worten zu beschreiben, daß sie endlich sich entschloß, wenigstens etwas hineinzugucken in das Gezelt, welches ihr denn doch ganz und gar nicht schaden könne. — Der Kleine schlug vor lauter Freude und Entzücken wenigstens zwölfmal hintereinander Rad, faßte dann aber sehr zierlich Fräulein Ännchens Hand und führte sie durch den Garten nach dem seidnen Palast.

Mit einem lauten: "Ach!" blieb Fräulein Ännchen wie in den Boden gewurzelt stehen, als die Vorhänge des Einganges aufrollten und sich ihr die Aussicht eines unabsehbaren Gemüsegartens erschloß von solcher Herrlichkeit, wie sie auch in den schönsten Träumen von blühendem Kohl und Kraut keinen jemals erblickt. Da grünte und blühte alles, was nur Kraut und Kohl und Rübe und Salat und Erbse und Bohne heißen mag, in funkelndem Schimmer und solcher Pracht, daß es gar nicht zu sagen. — Die Musik von Pfeifen und Trommeln und Zimbeln ertönte stärker, und die vier artigen Herrn, die Fräulein Ännchen schon kennengelernt,

nämlich der Herr von Schwarzrettig, der Monsieur de Roccambolle, der Signor di Broccoli und der Pan Kapustowicz, nahten sich unter vielen zeremoniösen Bücklingen.

"Meine Kammerherrn", sprach Porphyrio von Ockerodastes lächelnd und führte, indem die genannten Kammerherrn voranschritten, Fräulein Ännchen durch die Doppeltreihe, welche die rote englische Karottengarde bildete, bis in die Mitte des Feldes, wo sich ein hoher prächtiger Thron erhob. Um diesen Thron waren die Großen des Reichs versammelt, die Salatprinzen mit den Bohnenprinzessinnen, die Gurkenherzoge mit dem Melonenfürsten an ihrer Spitze, die Kopfkohlminister, die Zwiebel- und Rübengeneralität, die Federkohldamen etc., alle in den glänzendsten Kleidern ihres Ranges und Standes. Und dazwischen liefen wohl an hundert allerliebste Lavendel- und Fenchelpagen umher und verbreiteten süße Gerüche. Als Ockerodastes mit Fräulein Ännchen den Thron bestiegen, winkte der Oberhofmarschall Turneps mit seinem langen Stabe, und sogleich schwieg die Musik, und alles horchte in stiller Ehrfurcht. Da erhob Ockerodastes seine Stimme und sprach sehr feierlich: "Meine getreuen und sehr lieben Untertanen! Seht hier an meiner Seite das edle Fräulein Anna von Zabelthau, das ich zu meiner Gemahlin erkoren. Reich an Schönheit und Tugend, hat sie euch schon lange mit mütterlich-liebenden Augen betrachtet, ja, euch weiche, fette Lager bereitet und gehegt und gepflegt. Sie wird euch stets eine treue würdige Landesmutter sein und bleiben. Bezeigt jetzt den ehrerbietigen Beifall sowie ordnungsmäßigen Jubel über die Wohltat, die ich im Begriff stehe, euch huldvoll zufließen zu lassen!" Auf ein zweites Zeichen des Oberhofmarschalls Turneps ging nun ein tausendstimmiger Jubel los, die Bollenartillerie feuerte ihr Geschütz ab, und die Musiker der Karottengarde spielten das bekannte Festlied: "Salat-Salat und grüne Petersilie!" — Es war ein großer erhabener Moment, der den Großen des Reichs, vorzüglich aber den Federkohldamen, Tränen der Wonne entlockte. Fräulein Ännchen hätte beinahe auch

alle Fassung verloren, als sie gewahrte, daß der Kleine eine von Diamanten funkelnde Krone auf dem Haupte, in der Hand aber ein goldnes Zepter trug. "Ei", sprach sie, indem sie voll Erstaunen die Hände zusammenschlug, "ei, du mein herrjemine! Sie sind ja wohl viel mehr, als Sie scheinen, mein lieber Herr von Corduanspitz?" —"Angebetete Anna", erwiderte Ockerodastes sehr sanft, "die Gestirne zwangen mich, bei Ihrem Herrn Vater unter einem erborgten Namen zu erscheinen. Erfahren Sie, bestes Kind, daß ich einer der mächtigsten Könige bin und ein Reich beherrsche, dessen Grenzen gar nicht zu entdecken sind, da sie auf der Karte zu illuminieren vergessen worden. Es ist der Gemüsekönig Daucus Carota der Erste, der Ihnen, o süßeste Anna, seine Hand und seine Krone darreicht. Alle Gemüsefürsten sind meine Vasallen, und nur einen einzigen Tag im Jahre regiert, nach einem uralten Herkommen, der Bohnenkönig." —"Also", rief Fräulein Ännchen freudig, "also eine Königin soll ich werden und diesen herrlichen prächtigen Gemüsegarten besitzen?"König Daucus Carota versicherte nochmals, daß dies allerdings der Fall sei, und fügte hinzu, daß seiner und ihrer Herrschaft alles Gemüse unterworfen sein werde, das nur emporkeime aus der Erde. So was hatte nun Fräulein Ännchen wohl gar nicht erwartet, und sie fand, daß der kleine Corduanspitz seit dem Augenblick, als er sich in den König Daucus Carota den Ersten umgesetzt, gar nicht mehr so häßlich war als vorher und daß ihm Krone und Zepter sowie der Königsmantel ganz ungemein artig standen. Rechnete noch Fräulein Ännchen sein artiges Benehmen und die Reichtümer hinzu, die ihr durch diese Verbindung zuteil wurden, so mußte sie wohl überzeugt sein, daß kein Landfräulein hienieden eine bessere Partie zu machen imstande als eben sie, die im Umsehn eine Königsbraut geworden. Fräulein Ännchen war deshalb auch über alle Maßen vergnügt und fragte den königlichen Bräutigam, ob sie nicht gleich in dem schönen Palast bleiben und ob nicht morgenden Tages die Hochzeit gefeiert werden könne. König Daucus erwiderte indessen, daß, sosehr ihn die Sehnsucht der angebeteten Braut entzücke, er doch gewisser Konstellationen halber sein Glück noch verschieben müsse. Der Herr Dapsul von Zabeithau dürfe nämlich für jetzt den königlichen Stand seines Eidams durchaus nicht erfahren, da sonst die Operationen, die die gewünschte Verbindung mit der Sylphide Nehahilah bewirken sollten, gestört werden könnten. Überdem habe er auch dem Herrn Daspul von Zabeithau versprochen, daß beide Vermählungen an einem Tage gefeiert werden sollten. Fräulein Ännchen mußte feierlich geloben, dem Herrn Dapsul von Zabeithau auch nicht eine Silbe davon zu verraten, was sich mit ihr begeben, sie verließ dann den seidnen Palast unter dem lauten lärmenden Jubel des durch ihre Schönheit, durch ihr leutseliges herablassendes Betragen ganz in Wonne berauschten Volks.

Im Traume sah sie das Reich des allerliebsten Königs Daucus Carota noch einmal und schwamm in lauter Seligkeit.

Der Brief, den sie dem Herrn Amandus von Nebelstern gesendet, hatte auf den armen Jüngling eine fürchterliche Wirkung gemacht. Nicht lange dauerte es, so erhielt Fräulein Ännchen folgende Antwort:



"Abgott meines Herzens, himmlische Anna!

Dolche, spitze, glühende, giftige, tötende Dolche waren mir die Worte Deines Briefes, die meine Brust durchbohrten. O Anna! Du sollst mir entrissen werden? Welch ein Gedanke! Ich kann es noch gar nicht begreifen, daß ich nicht auf der Stelle unsinnig geworden bin und irgendeinen fürchterlichen grausamen Spektakel gemacht habe! — Doch floh ich, ergrimmt über mein todbringendes Verhängnis, die Menschen und lief gleich nach Tische, ohne wie sonst Billard zu spielen, hinaus in den Wald, wo ich die Hände rang und tausendmal Deinen Namen rief! — Es fing gewaltig an zu regnen, und ich hatte gerade eine ganz neue Mütze von rotem Samt mit einer prächtigen goldnen Troddel aufgesetzt.

Die Leute sagen, daß noch keine Mütze so mir zu Gesicht gestanden als diese. — Der Regen konnte das Prachtstück des Geschmacks verderben, doch was frägt die Verzweiflung der Liebe nach Mützen, nach Samt und Gold! —So lange lief ich umher, bis ich ganz durchnäßt und durchkältet war und ein entsetzliches Bauchgrimmen fühlte. Das trieb mich in das nahgelegene Wirtshaus, wo ich mir exzellenten Glühwein machen ließ und dazu eine Pfeife Deines himmlischen Virginiers rauchte. — Bald fühlte ich mich von einer göttlichen Begeisterung erhoben, ich riß meine Brieftasche hervor, warf in aller Schnelle ein Dutzend herrliche Gedichte hin, und, o wunderbare Gabe der Dichtkunst! — beides war verschwunden, Liebesverzweiflung und Bauchgrimmen. — Nur das letzte dieser Gedichte will ich Dir mitteilen, und auch Dich, o Zierde der Jungfrauen, wird, wie mich, freudige Hoffnung erfüllen!
Winde mich in Schmerzen,
Ausgelöscht im Herzen
Sind die Liebeskerzen,
Mag nie wieder scherzen!
Doch der Geist, er neigt sich,
Wort und Reim erzeugt sich,
Schreibe Verslein nieder.
Froh bin ich gleich wieder,
Tröstend in dem Herzen
Flammen Liebeskerzen,
Weg sind alle Schmerzen,
Mag auch freundlich scherzen.


Ja, meine süße Anna! — bald eile ich, ein schützender Ritter, herbei und entreiße Dich dem Bösewicht, der Dich mir rauben will! — Damit Du indessen bis dahin nicht verzweifelst, schreibe ich Dir einige göttliche trostreiche Kernsprüche aus meines herrlichen Meisters Schatzkästlein her; Du magst dich daran erlaben.
Die Brust wird weit, dem Geiste wachsen Flügel?
Sei Herz, Gemüt, doch lust'ger Eulenspiegel!

*

Liebe kann die Liebe hassen,
Zeit auch wohl die Zeit verpassen.

*

Die Lieb ist Blumenduft, ein Sein ohn Unterlaß,
O Jüngling, wasch den Pelz, doch mach ihn ja nicht naß!

*

Sagst du, im Winter weht frostiger Wind?
Warm sind doch Mäntel, wie Mäntel nun sind!

Welche göttliche, erhabene, überschwengliche Maximen! — Und wie einfach, wie anspruchslos, wie körnicht ausgedrückt! — Nochmals also, meine süßeste Maid! Sei getrost, trage mich im Herzen wie sonst. Es kommt, es rettet Dich, es drückt Dich an seine im Liebessturm wogende Brust

Dein getreuester

Amandus von Nebelstern.

N. S. Herausfordern kann ich den Herrn von Corduanspitz auf keinen Fall. Denn, o Anna! jeder Tropfen Bluts, der Deinem Amandus entquillen könnte bei dem feindlichen Angriff eines verwogenen Gegners, ist herrliches Dichterblut, der Ichor der Götter, der nicht verspritzt werden darf. Die Welt hat den gerechten Anspruch, daß ein Geist wie ich sich für sie schone, auf alle mögliche Weise konserviere. — Des Dichters Schwert ist das Wort, der Gesang. Ich will meinen Nebenbuhlern auf den Leib fahren mit tyrtäischen Schlachtliedern, ihn niederstoßen mit spitzen Epigrammen, ihn niederhauen mit Dithyramben voll Liebeswut - das sind die Waffen des echten wahren Dichters, die, immerdar siegreich, ihn sicherstellen gegen jeden Angriff, und so gewaffnet und gewappnet werde ich erscheinen und mir Deine Hand erkämpfen, o Anna!

Lebe wohl, nochmals drücke ich Dich an meine Brust! — Hoffe alles von meiner Liebe und vorzüglich von meinem Heldenmut, der keine Gefahr scheuen wird, Dich zu befreien aus den schändlichen Netzen, in die Dich allem Anschein nach ein dämonischer Unhold verlockt hat!"



Fräulein Ännchen erhielt diesen Brief, als sie gerade mit dem bräutigamlichen König Daucus Carota dem Ersten auf der Wiese hinter dem Garten Haschemännchen spielte und große Freude hatte, wenn sie sich in vollem Lauf schnell niederduckte und der kleine König über sie wegschoß. Aber nicht wie sonst steckte sie das Schreiben des Geliebten, ohne es zu lesen, in die Tasche, und wir werden gleich sehen, daß es zu spät gekommen.

Gar nicht begreifen konnte Herr Dapsul von Zabeithau, wie Fräulein Ännchen ihren Sinn so plötzlich geändert und den Herrn Porphyrio von Ockerodastes, den sie erst so abscheulich gefunden, liebgewonnen hatte. Er befragte darüber die Gestirne, da diese ihm aber auch keine befriedigende Antwort gaben, so mußte er dafürhalten, daß des Menschen Sinn unerforschlicher sei als alle Geheimnisse des Weltalls und sich durch keine Konstellation erfassen lasse. —Daß nämlich bloß die höhere Natur des Bräutigams auf Ännchen zur Liebe gewirkt haben solle, konnte er, da es dem Kleinen an Leibesschönheit gänzlich mangelte, nicht annehmen. War, wie der geneigte Leser schon vernommen, der Begriff von Schönheit, wie ihn Herr Dapsul von Zabelthau statuierte, auch himmelweit von dem Begriff verschieden, wie ihn junge Mädchen in sich tragen, so hatte er doch wenigstens so viel irdische Erfahrung, um zu wissen, daß besagte Mädchen meinen, Verstand, Witz, Geist, Gemüt seien gute Mietsleute in einem schönen Hause, und daß ein Mann, dem ein modischer Frack nicht zum besten steht, und sollte er sonst ein Shakespeare, ein Goethe, ein Tieck, ein Friedrich Richter sein, Gefahr läuft, von jedem hinlänglich angenehm gebauten Husarenleutnant in der Staatsuniform gänzlich aus dem

Felde geschlagen zu werden, sobald es ihm einfällt, einem jungen Mädchen entgegenzurücken. — Bei Fräulein Ännchen hatte sich nun zwar das ganz anders zugetragen, und es handelte sich weder um Schönheit noch um Verstand, indessen trifft es sich wohl selten, daß ein armes Landfräulein plötzlich Königin werden soll, und konnte daher von dem Herrn Dapsul von Zabeithau nicht wohl vermutet werden, zumal ihn auch hier die Gestirne im Stich ließen.

Man kann denken, daß die drei Leute, Herr Porphyrio von Ockerodastes, Herr Dapsul von Zabeithau und Fräulein Ännchen, ein Herz und eine Seele waren. Es ging so weit, daß Herr Dapsul von Zabeithau öfter, als sonst jemals geschehn, den Turm verließ, um mit dem geschätzten Eidam über allerlei vergnügliche Dinge zu plaudern, und vorzüglich pflegte er nun sein Frühstück jedesmal unten im Hause einzunehmen. Um diese Zeit kam denn auch Herr Porphyrio von Ockerodastes aus seinem seidenen Palast hervor und ließ sich von Fräulein Ännchen mit Butterbrot füttern. "Ach, ach", kicherte Fräulein Ännchen ihm oft ins Ohr, "ach, ach, wenn Papa wüßte, daß Sie eigentlich ein König sind, bester Corduanspitz." —"Halt dich, Herz", erwiderte Daucus Carota der Erste, "halt dich, Herz, und vergeh nicht in Wonne. — Nah, nah ist dein Freudentag!"

Es begab sich, daß der Schulmeister dem Fräulein Ännchen einige Bund der herrlichsten Radiese aus seinem Garten verehrt hatte. Dem Fräulein Ännchen war das über alle Maßen lieb, da Herr Dapsul von Zabeithau sehr gern Radiese aß, Ännchen aber aus dem Gemüsegarten, über den der Palast erbaut war, nichts entnehmen konnte. Überdem fiel ihr aber auch jetzt erst ein, daß sie unter den mannigfaltigsten Kräutern und Wurzeln im Palast nur allein Radiese nicht gewahrt hatte.

Fräulein Ännchen putzte die geschenkten Radiese schnell ab und trug sie dem Vater auf zum Frühstück. Schon hatte Herr Dapsul von Zabeithau mehreren unbarmherzig die Blätterkrone weggeschnitten, sie ins Salzfaß gestippt und

vergnüglich verzehrt, als Corduanspitz hereintrat. "0 mein Ockerodastes, genießen Sie Radiese!" so rief ihm Herr Dapsul von Zabeithau entgegen. Es lag noch ein großer, vorzüglich schöner Radies auf dem Teller. Kaum erblickte Corduanspitz aber diesen, als seine Augen grimmig zu funkeln begannen und er mit fürchterlich dröhnender Stimme rief: "Was, unwürdiger Herzog, Ihr wagt es noch, vor meinen Augen zu erscheinen, ja Euch mit verruchter Unverschämtheit einzudrängen in ein Haus, das beschirmt ist von meiner Macht? Habe ich Euch, der mir den rechtmäßigen Thron streitig machen wollte, nicht verbannt auf ewige Zeiten? — Fort, fort mit Euch, verräterischer Vasall!" Dem Radies waren plötzlich zwei Beinchen unter dem dicken Kopf gewachsen, mit denen er schnell aus dem Teller hinabsprang, dann stellte er sich dicht hin vor Corduanspitz und ließ sich also vernehmen: "Grausamer Daucus Carota der Erste, der du vergebens trachtest, meinen Stamm zu vernichten! Hat je einer deines Geschlechts einen solchen großen Kopf gehabt als ich und meine Verwandten? — Verstand, Weisheit, Scharfsinn, Courtoisie, mit allem dem sind wir begabt, und während ihr euch herumtreibt in Küchen und in Ställen und nur in hoher Jugend etwas geltet, so daß recht eigentlich der diable de la jeunesse nur euer schnell vorüberfliehendes Glück macht, so genießen wir des Umgangs hoher Personen, und mit Jubel werden wir begrüßt, sowie wir nur unsere grünen Häupter erheben! — Aber ich trotze dir, o Daucus Carota, bist du auch gleich ein ungeschlachter Schlinge! wie alle deinesgleichen! — Laß sehen, wer hier der Stärkste ist!" — Damit schwang der Radiesherzog eine lange Peitsche und ging ohne weiteres dem König Daucus Carota dem Ersten zu Leibe. Dieser zog aber schnell seinen kleinen Degen und verteidigte sich auf die tapferste Weise. In den seltsamsten tollen Sprüngen balgten sich nun die beiden Kleinen im Zimmer umher, bis Daucus Carota den Radiesherzog so in die Enge trieb, daß er genötigt wurde, mit einem kühnen Sprung durchs offne Fenster das Weite zu suchen. König Daucus Carota, dessen ganz ungemeine Behendigkeit dem geneigten Leser schon bekannt ist, schwang sich aber nach und verfolgte den Radiesherzog über den Acker. — Herr Dapsul von Zabeithau hatte dem schrecklichen Zweikampf zugeschaut in dumpfer lautloser Erstarrung. Nun brach er aber heulend und schreiend los: "0 Tochter Anna! — o meine arme unglückselige Tochter Anna! — verloren - ich - du — beide sind wir verloren, verloren." — Und damit lief er aus der Stube und bestieg, so schnell als er es nur vermochte, den astronomischen Turm.

Fräulein Ännchen konnte gar nicht begreifen, gar nicht vermuten, was in aller Welt den Vater auf einmal in solch grenzenlose Betrübnis versetzt. Ihr hatte der ganze Auftritt ungemeines Vergnügen verursacht, und sie war noch in ihrem Herzen froh, bemerkt zu haben, daß der Bräutigam nicht allein Stand und Reichtum, sondern auch Tapferkeit besaß, wie es denn wohl nicht leicht ein Mädchen auf Erden geben mag, die einen Feigling zu lieben imstande. Nun sie eben von der Tapferkeit des Königs Daucus Carota des Ersten überzeugt worden, fiel es ihr erst recht empfindlich auf, daß Herr Amandus von Nebelstern sich nicht mit ihm schlagen wollen.

Hätte sie noch geschwankt, den Herrn Amandus dem Könige Daucus dem Ersten aufzuopfern, sie würde sich jetzt dazu entschlossen haben, da ihr die ganze Herrlichkeit ihres neuen Brautstandes einleuchtete. Sie setzte sich flugs hin und schrieb folgenden Brief:



"Mein lieber Amandus!

,Alles in der Welt kann sich ändern, alles ist vergänglich', sagt der Herr Schulmeister, und er hat vollkommen recht. Auch Du, mein lieber Amandus, bist ein viel zu weiser und gelehrter Student, als daß Du dem Herrn Schulmeister nicht beipflichten und Dich nur im mindesten verwundern solltest, wenn ich Dir sage, daß auch in meinem Sinn und Herzen sich eine kleine Veränderung zugetragen hat - Du kannst

es mir glauben, ich bin Dir noch recht sehr gut und kann es mir recht vorstellen, wie hübsch Du aussehen mußt in der roten Samtmütze mit Gold, aber was das Heiraten betrifft -sieh, lieber Amandus, so gescheut Du auch bist und so hübsche Verslein Du auch zu machen verstehst, König wirst Du doch nun und nimmermehr werden, und - erschrick nicht, Liebster - der kleine Herr von Corduanspitz ist nicht der Herr von Corduanspitz, sondern ein mächtiger König namens Daucus Carota der Erste, der da herrscht über das ganze große Gemüsreich und mich erkoren hat zu seiner Königin! — Seit der Zeit, daß mein lieber kleiner König das Inkognito abgeworfen, ist er auch viel hübscher geworden, und ich sehe jetzt erst recht ein, daß der Papa recht hatte, wenn er behauptete, daß der Kopf die Zierde des Mannes sei und daher nicht groß genug sein könne. Dabei hat aber Daucus Carota der Erste - Du siehst, wie gut ich den schönen Namen behalten und nachschreiben kann, da er mir ganz bekannt vorkommt - ja, ich wollte sagen, dabei hat mein kleiner königlicher Bräutigam ein so angenehmes allerliebstes Betragen, daß es gar nicht auszusprechen. Und welch einen Mut, welche Tapferkeit besitzt der Mann! Vor meinen Augen hat er den Radiesherzog, der ein unartiger, aufsässiger Mensch zu sein scheint, in die Flucht geschlagen und hei! wie er ihm nachsprang durchs Fenster! Du hättest das nur sehen sollen! — Ich glaube auch nicht, daß mein Daucus Carota sich aus Deinen Waffen etwas machen wird, er scheint ein fester Mann, dem Verse, sind sie auch noch so fein und spitzig, nicht viel anhaben können. — Nun also, lieber Amandus, füge Dich in Dein Schicksal wie ein frommer Mensch und nimm es nicht übel, daß ich nicht Deine Frau, sondern vielmehr Königin werde. Sei aber getrost, ich werde immer Deine wohlaffektionierte Freundin bleiben, und willst Du künftig bei der Karottengarde oder, da Du nicht sowohl die Waffen als die Wissenschaffen liebst, bei der Pastinakakademie oder bei dem Kürbisministerium angestellt sein, so kostet Dich's nur ein Wort, und Dein Glück ist gemacht. Lebe wohl und sei nicht böse auf Deinesonstige Braut, jetzt aber wohlmeinendeFreundin und künftige KöniginAnna von Zabeithau(bald aber nicht mehr von Zabelthau,sondern bloß Anna).

N. S. Auch mit den schönsten virginischen Blättern sollst Du gehörig versorgt werden, Du kannst Dich darauf festiglich verlassen. So wie ich beinahe vermuten muß, wird zwar an meinem Hofe gar nicht geraucht werden, deshalb sollen aber doch sogleich nicht weit vom Thron unter meiner besondern Aufsicht einige Beete mit virginischem Tabak angepflanzt werden. Das erfordert die Kultur und die Moral, und mein Daucuschen soll darüber ein besonderes Gesetz schreiben lassen."


Fünftes Kapitel



in welchem von einer fürchterlichen Katastrophe Nachricht gegeben und mit dem weitern Verlauf der Dinge fortgefahren wird

Fräulein Ännchen hatte gerade ihr Schreiben an den Herrn Amandus von Nebelstern fortgesendet, als Herr Dapsul von Zabeithau hereintrat und mit dem weinerlichsten Ton des tiefsten Schmerzes begann: "0 meine Tochter Anna! auf welche schändliche Weise sind wir beide betrogen! Dieser Verruchte, der dich in seine Schlingen verlockte, der mir weismachte, er sei der Baron Porphyrio Ockerodastes, genannt Corduanspitz, Sprößling jenes illüstren Stammes, den der überherrliche Gnome Tsilmenech im Bündnis schuf mit der edlen corduanischen Äbtissin, dieser Verruchte - erfahr es und sinke ohnmächtig nieder! er ist selbst ein Gnome, aber jenes niedrigsten Geschlechts, das die Gemüse bereitet! — Jener Gnome Tsilmenech war von dem edelsten Geschlecht, nämlich von dem, dem die Pflege der Diamanten

anvertraut ist. Dann kommt das Geschlecht derer, die im Reich des Metallkönigs die Metalle bereiten, dann folgen die Blumisten, die deshalb nicht so vornehm sind, weil sie von den Sylphen abhängen. Die schlechtesten und unedelsten sind aber die Gemüsegnomen, und nicht allein daß der betrügerische Corduanspitz ein solcher Gnome ist, nein, er ist König dieses Geschlechts und heißt Daucus Carota!"

Fräulein Ännchen sank keinesweges in Ohnmacht, erschrak auch nicht im allermindesten, sondern lächelte den lamentierenden Papa ganz freundlich an, der geneigte Leser weiß schon warum! Als nun aber der Herr Dapsul von Zabeithau sich darüber höchlich verwunderte und immer mehr in Fräulein Ännchen drang, doch nur um des Himmels willen ihr fürchterliches Geschick einzusehn und sich zu grämen, da glaubte Fräulein Ännchen nicht länger das ihr anvertraute Geheimnis bewahren zu dürfen. Sie erzählte dem Herrn Dapsul von Zabelthau, wie der sogenannte Herr Baron von Corduanspitz ihr längst selbst seinen eigentlichen Stand entdeckt und seit der Zeit ihr so liebenswürdig vorgekommen sei, daß sie durchaus gar keinen andern Gemahl wünsche. Sie beschrieb dann ferner all die wunderbaren Schönheiten des Gemüsreichs, in das sie König Daucus Carota der Erste eingeführt, und vergaß nicht die seltsame Anmut der mannigfachen Bewohner dieses großen Reichs gehörig zu rühmen.

Herr Dapsul von Zabelthau schlug ein Mal über das andere die Hände zusammen und weinte sehr über die tückische Bosheit des Gnomenkönigs, der die künstlichsten, ja für ihn selbst gefährlichsten Mittel angewandt, die unglückselige Anna hinabzuziehen in sein finstres dämonisches Reich.

So herrlich, erklärte jetzt Herr Dapsul von Zabelthau der aufhorchenden Tochter, so herrlich, so ersprießlich die Verbindung irgendeines Elementargeistes mit einem menschlichen Prinzip sein könne, sosehr die Ehe des Gnomen Tsilmenech mit der Magdalena de la Croix davon ein Beispiel

gebe, weshalb denn auch der verräterische Daucus Carota ein Sprößling dieses Stammes zu sein behauptet, so ganz anders verhalte es sich doch mit den Königen und Fürsten dieser Geistervölkerschaften. Wären die Salamanderkönige bloß zornig, die Sylphenkönige bloß hoffärtig, die Undinenköniginnen bloß sehr verliebt und eifersüchtig, so wären dagegen die Gnomenkönige tückisch, boshaft und grausam; bloß um sich an den Erdenkindern zu rächen, die ihnen Vasallen entführt, trachteten sie darnach, irgendeines zu verlocken, das dann die menschliche Natur ganz ablege und, ebenso mißgestaltet wie die Gnomen selbst, hinunter müsse in die Erde und nie wieder zum Vorschein komme.

Fräulein Ännchen schien all das Nachteilige, dessen Herr Dapsul von Zabeithau ihren lieben Daucus beschuldigte, gar nicht recht glauben zu wollen, vielmehr begann sie noch einmal von den Wundern des schönen Gemüsreichs zu sprechen, über das sie nun bald zu herrschen gedenke.

"Verblendetes", rief aber nun Herr Dapsul von Zabeithau voller Zorn, "verblendetes törichtes Kind! —Trauest du deinem Vater nicht so viel kabbalistische Weisheit zu, daß er nicht wissen sollte, wie alles, was der verruchte Daucus Carota dir vorgegaukelt hat, nichts ist als Lug und Trug? — Doch du glaubst mir nicht, um dich, mein einziges Kind, zu retten, muß ich dich überzeugen, diese Überzeugung verschaffe ich dir aber durch die verzweifeltsten Mittel. — Komm mit mir!"

Zum zweitenmal mußte nun Fräulein Ännchen mit dem Papa den astronomischen Turm besteigen. Aus einer großen Schachtel holte Herr Dapsul von Zabeithau eine Menge gelbes, rotes, weißes und grünes Band hervor und umwickelte damit unter seltsamen Zeremonien Fräulein Ännchen von Kopf bis zu Fuß. Mit sich selbst tat er ein Gleiches, und nun nahten beide, Fräulein Ännchen und der Herr Dapsul von Zabeithau, sich behutsam dem seidnen Palast des Königs Daucus Carota des Ersten. Fräulein Ännchen mußte auf Geheiß des Papas mit der mitgebrachten feinen

Schere eine Naht auftrennen und durch die Öffnung hineingucken.

Hilf Himmel! was erblickte sie statt des schönen Gemüsegartens, statt der Karottengarde, der Plümagedamen, der Lavendelpagen, der Salatprinzen und alles dessen, was ihr so wunderbar herrlich erschienen war? — In einen tiefen Pfuhl sah sie hinab, der mit einem farblosen ekelhaften Schlamm gefüllt schien. Und in diesem Schlamm regte und bewegte sich allerlei häßliches Volk aus dem Schoß der Erde. Dicke Regenwürmer ringelten sich langsam durcheinander, während käferartige Tiere, ihre kurzen Beine ausstreckend, schwerfällig fortkrochen. Auf ihrem Rücken trugen sie große Zwiebeln, die hatten aber häßliche menschliche Gesichter und grinsten und schielten sich an mit trüben gelben Augen und suchten sich mit den kleinen Krallen, die ihnen dicht an die Ohren gewachsen waren, bei den langen krummen Nasen zu packen und hinunterzuziehen in den Schlamm, während lange nackte Schnecken in ekelhafter Trägheit sich durcheinanderwälzten und ihre langen Hörner emporstreckten aus der Tiefe. — Fräulein Ännchen wäre bei dem scheußlichen Anblick vor Grauen bald in Ohnmacht gesunken. Sie hielt beide Hände vors Gesicht und rannte schnell davon.

"Siehst du nun wohl", sprach darauf der Herr Dapsul von Zabeithau zu ihr, "siehst du nun wohl, wie schändlich dich der abscheuliche Daucus Carota betrogen hat, da er dir eine Herrlichkeit zeigte, die nur ganz kurze Zeit dauert? — Oh! Festkleider ließ er seine Vasallen anziehen und Staatsuniformen seine Garden, um dich zu verlocken mit blendender Pracht! Aber nun hast du das Reich im Negligé geschaut, das du beherrschen wirst, und bist du nun einmal die Gemahlin des entsetzlichen Daucus Carota, so mußt du in dem unterirdischen Reiche bleiben und kommst nie mehr auf die Oberfläche der Erde! — Und wenn - ach - ach! was muß ich erblicken, ich unglückseligster der Väter!"

Der Herr Dapsul von Zabelthau geriet nun plötzlich so

außer sich, daß Fräulein Ännchen wohl erraten konnte, es müsse noch ein neues Unglück im Augenblick hereingebrochen sein. Sie fragte ängstlich, worüber denn der Papa so entsetzlich lamentiere; der konnte aber vor lauter Schluchzen nichts als stammeln: "0 — o - To - ch - ter -wie - si - ehst — d - u - a - u - s!" Fräulein Ännchen rannte ins Zimmer, sah in den Spiegel und fuhr zurück, von jähem Todesschreck erfaßt.

Sie hatte Ursache dazu, die Sache war diese: Eben als Herr Dapsul von Zabeithau der Braut des Königs Daucus Carota die Augen öffnen wollte über die Gefahr, in der sie schwebe, nach und nach ihr Ansehen, ihre Gestalt zu verlieren und sich allmählich umzuwandeln in das wahrhafte Bild einer Gnomenkönigin, da gewahrte er, was schon Entsetzliches geschehen. Viel dicker war Ännchens Kopf geworden und safrangelb ihre Haut, so daß sie jetzt schon hinlänglich garstig erschien. War nun auch Fräulein Ännchen nicht gar besonders eitel, so fühlte sie sich doch Mädchen genug, um einzusehen, daß Häßlichwerden das allergrößeste entsetzlichste Unglück sei, das einen hienieden treffen könne. Wie oft hatte sie an die Herrlichkeit gedacht, wenn sie künftig als Königin mit der Krone auf dem Haupt in atlassenen Kleidern, mit diamantnen und goldnen Ketten und Ringen geschmückt, in der achtspännigen Karosse an der Seite des königlichen Gemahls sonntags nach der Kirche fahren und alle Weiber, des Schulmeisters Frau nicht ausgenommen, in Erstaunen setzen, ja auch wohl der stolzen Gutsherrschaft des Dorfs, zu dessen Kirchsprengel Dapsulheim gehörte, Respekt einflößen werde; ja! — wie oft hatte sie sich in solchen und andern exzentrischen Träumen gewiegt! — Fräulein Ännchen zerfloß in Tränen!

"Anna - meine Tochter Anna, komme sogleich zu mir herauf!" So rief Herr Dapsul von Zabeithau durch das Sprachrohr herab.

Fräulein Ännchen fand den Papa angetan in einer Art von Bergmannstracht. Er sprach mit Fassung: "Gerade

wenn die Not am größten, ist die Hülfe oft am nächsten. Daucus Carota wird, wie ich soeben ermittelt, heute, ja wohl bis morgen mittag nicht seinen Palast verlassen. Er hat die Prinzen des Hauses, die Minister und andere Große des Reichs versammelt, um Rat zu halten über den künftigen Winterkohl. Die Sitzung ist wichtig und wird vielleicht so lange dauern, daß wir dieses Jahr gar keinen Winterkohl bekommen werden. Diese Zeit, wenn Daucus Carota, in seine Regierungsarbeit vertieft, auf mich und meine Arbeit nicht zu merken vermag, will ich benutzen, um eine Waffe zu bereiten, mit der ich vielleicht den schändlichen Gnomen bekämpfe und besiege, so daß er entweichen und dir die Freiheit lassen muß. Blicke, während ich hier arbeite, unverwandt durch jenen Tubus nach dem Gezelt und meld es mir ungesäumt, wenn du bemerkst, daß jemand hinausschaut oder gar hinausschreitet." — Fräulein Ännchen tat, wie ihr geboten, das Gezelt blieb aber verschlossen; nur vernahm sie, unerachtet Herr Dapsul von Zabelthau wenige Schritte hinter ihr stark auf Metallplatten hämmerte, oft ein wildes verwirrtes Geschrei, das aus dem Gezelt zu kommen schien, und dann helle klatschende Töne, gerade als würden Ohrfeigen ausgeteilt. Sie sagte das dem Herrn Dapsul von Zabelthau, der war damit sehr zufrieden und meinte, je toller sie sich dort drinnen untereinander zankten, desto weniger könnten sie bemerken, was draußen geschmiedet würde zu ihrem Verderben.

Nicht wenig verwunderte sich Fräulein Ännchen, als sie gewahrte, daß der Herr Dapsul von Zabelthau ein paar ganz allerliebste Kochtöpfe und ebensolche Schmorpfannen aus Kupfer gehämmert hatte. Als Kennerin überzeugte sie sich, daß die Verzinnung außerordentlich gut geraten, daß der Papa daher die den Kupferschmieden durch die Gesetze auferlegte Pflicht gehörig beobachtet habe, und fragte, ob sie das feine Geschirr nicht mitnehmen könne zum Gebrauch in der Küche. Da lächelte aber Herr Dapsul von Zabeithau geheimnisvoll und erwiderte weiter nichts als:

"Zur Zeit, zur Zeit, meine Tochter Anna, gehe jetzt herab, mein geliebtes Kind, und erwarte ruhig, was sich morgen weiteres in unserm Hause begeben wird."

Herr Dapsul von Zabeithau hatte gelächelt, und das war es, was dem unglückseligen Ännchen Hoffnung einflößte und Vertrauen.

Andern Tages, als die Mittagszeit nahte, kam Herr Dapsul von Zabeithau herab mit seinen Kochtöpfen und Schmorpfannen, begab sich in die Küche und gebot dem Fräulein Ännchen nebst der Magd hinauszugehen, da er allein heute das Mittagsmahl bereiten wolle. Dem Fräulein Ännchen legte er es besonders ans Herz, gegen den Corduanspitz, der sich wohl bald einstellen werde, so artig und liebevoll zu sein als nur möglich.

Corduanspitz oder vielmehr König Daucus Carota der Erste kam auch wirklich bald, und hatte er sonst schon verliebt genug getan, so schien er heute ganz Entzücken und Wonne. Zu ihrem Entsetzen bemerkte Fräulein Ännchen, wie sie schon so klein geworden, daß Daucus sich ohne große Mühe auf ihren Schoß schwingen und sie herzen und küssen konnte, welches die Unglückliche dulden mußte trotz ihres tiefen Abscheus gegen den kleinen abscheulichen Unhold.

Endlich trat Herr Dapsul von Zabelthau ins Zimmer und sprach: "0 mein vortrefflicher Porphyrio von Ockerodastes, möchten Sie sich nicht mit mir und meiner Tochter in die Küche begeben, um zu beobachten, wie schön und wirtlich Ihre künftige Gemahlin alles darin eingerichtet hat?"

Noch niemals hatte Fräulein Ännchen in des Papas Antlitz den hämischen schadenfrohen Blick bemerkt, mit dem er den kleinen Daucus beim Arm faßte und beinahe mit Gewalt hinauszog aus der Stube in die Küche. Fräulein Ännchen folgte auf den Wink des Vaters.

Das Herz kochte dem Fräulein Ännchen im Leibe, als sie das herrlich knisternde Feuer, die glühenden Kohlen, die schmucken kupfernen Kochtöpfe und Schmorpfannen auf

dem Herde bemerkte. Sowie der Herr Dapsul von Zabelthau den Corduanspitz dicht heranführte an den Herd, da begann es stärker und stärker in den Töpfen und Pfannen zu zischen und zu brodeln, und das Zischen und Brodeln wurde zu ängstlichem Winseln und Stöhnen. Und aus einem Kochtöpfe heulte es heraus: "0 Daucus Carota! o mein König, rette deine getreuen Vasallen, rette uns arme Mohrrüben! —Zerschnitten, in schnödes Wasser geworfen, mit Butter und Salz gefüttert zu unserer Qual, schmachten wir in unnennbarem Leid, das edle Petersilienjünglinge mit uns teilen!" Und aus der Schmorpfanne klagte es: "0 Daucus Carota! o mein König! rette deine getreuen Vasallen, rette uns arme Mohrrüben! — in der Hölle braten wir, und so wenig Wasser gab man uns, daß der fürchterliche Durst uns zwingt, unser eignes Herzblut zu trinken." Und aus einem andern Kochtopf wimmerte es wieder: "0 Daucus Carota! o mein König! rette deine getreuen Vasallen, rette uns arme Mohrrüben! —Ausgehöhlt hat uns ein grausamer Koch, unser Innerstes zerhackt und es mit allerlei fremdartigem Zeug von Eiern, Sahne und Butter wieder hineingestopft, so daß alle unsere Gesinnungen und sonstige Verstandeskräfte in Konfusion geraten und wir selbst nicht mehr wissen, was wir denken!" Und nun heulte und schrie es aus allen Kochtöpfen und Schmorpfannen durcheinander: "0 Daucus Carota, mächtiger König, rette, o rette deine getreuen Vasallen, rette uns arme Mohrrüben!" Da kreischte Corduanspitz laut auf: "Verfluchtes dummes Narrenspiel!", schwang sich mit seiner gewöhnlichen Behendigkeit auf den Herd, schaute in einen der Kochtöpfe und plumpte plötzlich hinein. Rasch sprang Herr Dapsul von Zabeithau hinzu und wollte den Deckel des Topfs schließen, indem er aufjauchzte: "Gefangen!" Doch mit der Schnellkraft einer Spiralfeder fuhr Corduanspitz aus dem Topfe in die Höhe und gab dem Herrn Dapsul von Zabeithau ein paar Maulschellen, daß es krachte, indem er rief: "Einfältiger naseweiser Kabbalist, dafür sollst du büßen! —Heraus, heraus, ihr Jungen allzumal!"

Und da brauste es aus allen Töpfen, Tiegeln und Pfannen heraus wie das wilde Heer, und hundert und hundert kleine fingerlange garstige Kerlchen hakten sich fest an dem ganzen Leibe des Herrn Dapsul von Zabeithau und warfen ihn rücklings nieder in eine große Schüssel und richteten ihn an, indem sie aus allen Geschirren die Brühen über ihn ausgossen und ihn mit gehackten Eiern, Muskatenblüten und geriebener Semmel bestreuten. Dann schwang sich Daucus Carota zum Fenster hinaus, und seine Vasallen taten ein Gleiches.

Entsetzt sank Fräulein Ännchen bei der Schüssel nieder, auf der der arme Papa angerichtet lag; sie hielt ihn für tot, da er durchaus nicht das mindeste Lebenszeichen von sich gab. Sie begann zu klagen: "Ach, mein armer Papa - ach, nun bist du tot, und nichts rettet mich mehr vom höllischen Daucus!" Da schlug aber Herr Dapsul von Zabeithau die Augen auf, sprang mit verjüngter Kraft aus der Schüssel und schrie mit einer entsetzlichen Stimme, wie sie Fräulein Ännchen noch niemals von ihm vernommen: "Ha, verruchter Daucus Carota, noch sind meine Kräfte nicht erschöpft! — Bald sollst du fühlen, was der einfältige naseweise Kabbalist vermag!" — Schnell mußte Fräulein Ännchen ihm mit dem Küchenbesen die gehackten Eier, die Muskatenblüten, die geriebene Semmel abkehren, dann ergriff er einen kupfernen Kochtopf, stülpte ihn wie einen Helm auf den Kopf, nahm eine Schmorpfanne in die linke, in die rechte Hand aber einen großen eisernen Küchenlöffel und sprang, so gewaffnet und gewappnet, hinaus ins Freie. Fräulein Ännchen gewahrte, wie Herr Dapsul von Zabelthau im gestrecktesten Lauf nach Corduanspitzes Gezelt rannte und doch nicht von der Stelle kam. Darüber vergingen ihr die Sinne.

Als sie sich erholte, war Herr Dapsul von Zabelthau verschwunden, und sie geriet in entsetzliche Angst, als er den Abend, die Nacht, ja den andern Morgen nicht wiederkehrte. Sie mußte den noch schlimmem Ausgang eines neuen Unternehmens vermuten.


Sechstes Kapitel



welches das letzte und zugleich das erbaulichste ist von allen

In tiefes Leid versenkt, saß Fräulein Ännchen einsam in ihrem Zimmer, als die Türe aufging und niemand anders hineintrat als der Herr Amandus von Nebelstern. Ganz Reue und Scham, vergoß Fräulein Ännchen einen Tränenstrom und bat in den kläglichsten Tönen: "0 mein herzlieber Amandus, verzeihe doch nur, was ich dir in meiner Verblendung geschrieben! Aber ich war ja verhext und bin es wohl noch. Rette mich, rette mich, mein Amandus! — Gelb seh ich aus und garstig, das ist Gott zu klagen, aber mein treues Herz habe ich bewahrt und will keine Königsbraut sein!"

"Ich weiß nicht", erwiderte Amandus von Nebelstern, "ich weiß nicht, worüber Sie so klagen, mein bestes Fräulein, da Ihnen das schönste, herrlichste Los beschieden." — "0 spotte nicht", rief Fräulein Ännchen, "ich bin für meinen einfältigen Stolz, eine Königin werden zu wollen, hart genug bestraft!"

"In der Tat", sprach Herr Amandus von Nebelstern weiter, "ich verstehe Sie nicht, mein teures Fräulein! — Soll ich aufrichtig sein, so muß ich bekennen, daß ich über Ihren letzten Brief in Wut geriet und Verzweiflung. Ich prügelte den Burschen, dann den Pudel, zerschmiß einige Gläser - und Sie wissen, mit einem racheschnaubenden Studenten treibt man keinen Spaß! Nachdem ich mich aber ausgetobt, beschloß ich, hierherzueilen und mit eignen Augen zu sehen, wie, warum und an wen ich die geliebte Braut verloren. — Die Liebe kennt nicht Stand, nicht Rang, ich wollte selbst den König Daucus Carota zur Rede stellen und ihn fragen, ob das Tusch sein solle oder nicht, wenn er meine Braut heirate. — Alles gestaltete sich hier indessen anders. Als ich nämlich bei dem schönen Gezelt vorüberging, das draußen aufgeschlagen, trat König Daucus Carota aus demselben

heraus, und bald gewahrte ich, daß ich den liebenswürdigsten Fürsten vor mir hatte, den es geben mag, wiewohl mir bis jetzt noch eben keiner vorgekommen; denn denken Sie sich, mein Fräulein, er spürte gleich in mir den sublimen Poeten, rühmte meine Gedichte, die er noch nicht gelesen, über alle Maßen und machte mir den Antrag, als Hofpoet in seine Dienste zu gehen. Ein solches Unterkommen war seit langer Zeit meiner feurigsten Wünsche schönes Ziel, mit tausend Freuden nahm ich daher den Vorschlag an. O mein teures Fräulein! mit welcher Begeisterung werde ich Sie besingen! Ein Dichter kann verliebt sein in Königinnen und Fürstinnen, oder vielmehr, es gehört zu seinen Pflichten, eine solche hohe Person zur Dame seines Herzens zu erkiesen, und verfällt er darüber in einigen Aberwitz, so ergibt sich eben daraus das göttliche Delirium, ohne das keine Poesie bestehen mag, und niemand darf sich über die vielleicht etwas seltsamen Gebärden des Dichters wundern, sondern vielmehr an den großen Tasso denken, der auch etwas am gemeinen Menschenverstande gelitten haben soll, da er sich verliebt hatte in die Prinzessin Leonore d'Este. — Ja, mein teures Fräulein, sind Sie auch bald eine Königin, so sollen Sie doch die Dame meines Herzens bleiben, die ich bis zu den hohen Sternen erheben werde in den sublimsten göttlichsten Versen!"

"Wie, du hast ihn gesehen, den hämischen Kobold, und er hat -" — so brach Fräulein Ännchen los im tiefsten Erstaunen, doch in dem Augenblick trat er selbst, der kleine gnomische König, hinein und sprach mit dem zärtlichsten Ton: "0 meine süße liebe Braut, Abgott meines Herzens, fürchten Sie ja nicht, daß ich der kleinen Unschicklichkeit halber, die Herr Dapsul von Zabeithau begangen, zürne. Nein! — Schon deshalb nicht, weil eben dadurch mein Glück befördert worden, so daß, wie ich gar nicht gehofft, schon morgen meine feierliche Vermählung mit Ihnen, Holdeste, erfolgen wird. Gern werden Sie es sehen, daß ich den Herrn Amandus von Nebelstern zu unserm Hofpoeten erkoren, und

ich wünsche, daß er gleich eine Probe seines Talents ablegen und uns eins vorsingen möge. Wir wollen aber in die Laube gehen, denn ich liebe die freie Natur, ich werde mich auf Ihren Schoß setzen, und Sie können mich, geliebteste Braut, während des Gesanges etwas im Kopfe krauen, welches ich gern habe bei solcher Gelegenheit!"

Fräulein Annchen ließ, erstarrt vor Angst und Entsetzen, alles geschehen. Daucus Carota setzte sich draußen in der Laube auf ihren Schoß, sie kratzte ihn im Kopfe, und Herr Amandus von Nebelstern begann, sich auf der Guitarre begleitend, das erste der zwölf Dutzend Lieder, die er sämtlich selbst gedichtet und komponiert und in ein dickes Buch zusammengeschrieben hatte.

Schade ist es, daß in der Chronik von Dapsulheim, aus der diese ganze Geschichte geschöpft, diese Lieder nicht aufgeschrieben, sondern nur bemerkt worden, daß vorübergehende Bauern stehengeblieben und neugierig gefragt, was für ein Mensch denn in der Laube des Herrn Dapsul von Zabeithau solche Qualen litte, daß er solch entsetzliche Schmerzeslaute von sich geben müsse.

Daucus Carota wand und krümmte sich auf Fräulein Ännchens Schoß und stöhnte und winselte immer jämmerlicher, als litte er an fürchterlichem Bauchgrimmen. Auch glaubte Fräulein Ännchen zu ihrem nicht geringen Erstaunen zu bemerken, daß Corduanspitz während des Gesanges immer kleiner und kleiner wurde. Endlich sang Herr Amandus von Nebelstern (das einzige Lied steht wirklich in der Chronik) folgende sublime Verse:

"Ha! wie singt der Sänger froh!
• Blütendüfte, blanke Träume
          Ziehn durch ros'ge Himmelsräume,
Selig, himmlisch Irgendwo!
Ja, du goldnes Irgendwo
Schwebst im holden Regenbogen,
Hausest dort auf Blumenwogen,
Bist ein kindliches so so! Hell Gemüt, ein Herz so so, Mag nur lieben, mag nur glauben, Tändeln, girren mit den Tauben, Und das singt der Sänger froh. Sel'gem fernem Irgendwo Zieht er nach durch goldne Räume, Ihn umschweben süße Träume, Und er wird ein ew'ges So! Geht ihm auf der Sehnsucht Wo, Lodern bald die Liebesflammen, Gruß und Kuß, ein traut Zusammen Und die Blüten, Düfte, Träume, Lebens, Liebens, Hoffens Keime, Und -"

Laut kreischte Daucus Carota auf, schlüpfte, zum kleinen, kleinen Mohrrübchen geworden, herab von Ännchens Schoß und in die Erde hinein, so daß er in einem Moment spurlos verschwunden. Da stieg auch der graue Pilz, der dicht neben der Rasenbank in der Nacht gewachsen schien, in die Höhe, der Pilz war aber nichts anders als die graue Filzmütze des Herrn Dapsul von Zabelthau, und er selbst steckte darunter und fiel dem Herrn Amandus von Nebelstern stürmisch an die Brust und rief in der höchsten Ekstase: "0 mein teuerster, bester, geliebtester Herr Amandus von Nebelstern! Sie haben mit Ihrem kräftigen Beschwörungsgedicht meine ganze kabbalistische Weisheit zu Boden geschlagen. Was die tiefste magische Kunst, was der kühnste Mut des verzweifelnden Philosophen nicht vermochte, das gelang Ihren Versen, die wie das stärkste Gift dem verräterischen Daucus Carota in den Leib fuhren, so daß er trotz seiner gnomischen Natur vor Bauchgrimmen elendiglich umkommen müssen, wenn er sich nicht schnell gerettet hätte in sein Reich! Befreit ist meine Tochter Anna, befreit bin ich von dem schrecklichen Zauber, der mich hier gebannt

hielt, so daß ich ein schnöder Pilz scheinen und Gefahr laufen mußte, von den Händen meiner eignen Tochter geschlachtet zu werden! — Denn die Gute vertilgt schonungslos mit scharfem Spaten alle Pilze in Garten und Feld, wenn sie nicht gleich ihren edlen Charakter an den Tag legen wie die Champignons. Dank, meinen innigsten, heißesten Dank und - nicht wahr, mein verehrtester Herr Amandus von Nebelstern, es bleibt alles beim alten rücksichts meiner Tochter? — Zwar ist sie, dem Himmel sei es geklagt, um ihr hübsches Ansehn durch die Schelmerei des feindseligen Gnomen betrogen worden, Sie sind indessen viel zu sehr Philosoph, um -" — "0 Papa, mein bester Papa", jauchzte Fräulein Ännchen, "schauen Sie doch nur hin, schauen Sie doch nur hin, der seidne Palast ist ja verschwunden. Er ist fort, der häßliche Unhold, mitsamt seinem Gefolge von Salatprinzen und Kürbisministern und was weiß ich sonst alles!" —Und damit sprang Fräulein Ännchen fort nach dem Gemüsegarten. Herr Dapsul von Zabeithau lief der Tochter nach, so schnell es gehen wollte, und Herr Amandus von Nebelstern folgte, indem er für sich in den Bart hineinbrummte: "Ich weiß gar nicht, was ich von dem allem denken soll, aber soviel will ich fest behaupten, daß der kleine garstige Mohrrübenkerl ein unverschämter prosaischer Schlingel ist, aber kein dichterischer König, denn sonst würde er bei meinem sublimsten Liede nicht Bauchgrimmen bekommen und sich in die Erde verkrochen haben."

Fräulein Ännchen fühlte, als sie in dem Gemüsegarten stand, wo keine Spur eines grünenden Hälmchens zu finden, einen entsetzlichen Schmerz in dem Finger, der den verhängnisvollen Ring trug. Zu gleicher Zeit ließ sich ein herzzerschneidender Klagelaut aus der Tiefe vernehmen, und es guckte die Spitze einer Mohrrübe hervor. Schnell streifte Fräulein Ännchen, von ihrer Ahnung richtig geleitet, den Ring, den sie sonst nicht vom Finger bringen können, mit Leichtigkeit ab, steckte ihn der Mohrrübe an, diese verschwand, und der Klagelaut schwieg. Aber o Wunder! sogleich

war auch Fräulein Ännchen hübsch wie vorher, wohlproportioniert und so weiß, als man es nur von einem wirtlichen Landfräulein verlangen kann. Beide, Fräulein Ännchen und Herr Dapsul von Zabelthau, jauchzten sehr, während Herr Amandus von Nebelstern ganz verdutzt dastand und immer noch nicht wußte, was er von allem denken sollte.

Fräulein Ännchen nahm der herbeigelaufenen Großmagd den Spaten aus der Hand und schwang ihn mit dem jauchzenden Ausruf: "Nun laß uns arbeiten!" in den Lüften, aber so unglücklich, daß sie den Herrn Amandus von Nebelstern hart vor den Kopf (gerade da, wo das Sensorium commune sitzen soll) traf, so daß er wie tot niederfiel. Fräulein Ännchen schleuderte das Mordinstrument weit weg, warf sich neben dem Geliebten nieder und brach aus in verzweifelnden Schmerzeslauten, während die Großmagd eine ganze Gießkanne voll Wasser über ihn ausgoß und Herr Dapsul von Zabeithau schnell den astronomischen Turm bestieg, um in aller Ei! die Gestirne zu befragen, ob Herr Amandus von Nebelstern wirklich tot sei. Nicht lange dauerte es indessen, als Herr Amandus von Nebelstern die Augen wieder aufschlug, aufsprang, so durchnäßt, wie er war, Fräulein Ännchen in seine Arme schloß und mit allem Entzücken der Liebe rief: "0 mein bestes, teuerstes Ännchen! Nun haben wir uns ja wieder!"

Die sehr merkwürdige, kaum glaubliche Wirkung dieses Vorfalls auf das Liebespaar zeigte sich sehr bald. Beider Sinn war auf eine seltsame Weise geändert.

Fräulein Ännchen hatte einen Abscheu gegen das Handhaben des Spatens bekommen und herrschte wirklich wie eine echte Königin über das Gemüsreich, da sie dafür mit Liebe sorgte, daß ihre Vasallen gehörig gehegt und gepflegt wurden, ohne dabei selbst Hand anzulegen, welches sie treuen Mägden überließ. Dem Herrn Amandus von Nebelstern kam dagegen alles, was er gedichtet, sein ganzes poetisches Streben, höchst albern und aberwitzig vor, und vertiefte

er sich in die Werke der großen, wahren Dichter der ältern und neuem Zeit, so erfüllte wohltuende Begeisterung so sein Inneres ganz und gar, daß kein Platz übrigblieb für einen Gedanken an sein eignes Ich. Er gelangte zu der Überzeugung, daß ein Gedicht etwas anderes sein müsse als der verwirrte Wortkram, den ein nüchternes Delirium zutage fördert, und wurde, nachdem er alle Dichtereien, mit denen er sonst, sich selbst belächelnd und verehrend, vornehm getan, ins Feuer geworfen, wieder ein besonnener, in Herz und Gemüt klarer Jüngling, wie er es vorher gewesen.

Eines Morgens stieg Herr Dapsul von Zabeithau wirklich von seinem astronomischen Turm herab, um Fräulein Ännchen und Herrn Amandus von Nebelstern nach der Kirche zur Trauung zu geleiten.

Sie führten nächstdem eine glückliche vergnügte Ehe, ob aber später aus Herrn Dapsuls ehelicher Verbindung mit der Sylphide Nehahilah noch wirklich etwas geworden, darüber schweigt die Chronik von Dapsulheim.



Die Freunde hatten, während Vinzenz las, mehrmals hell aufgelacht und waren nun darin einig, daß, wenn die Erfindung des Märchens auch nicht eben besonders zu rühmen, doch das Ganze sich nicht sowohl im wahrhaft Humoristischen als im Drolligen rein erhalte ohne fremdartige Beimischung und ebendaher ergötzlich zu nennen sei.

"Was die Erfindung betrifft", sprach Vinzenz, "so hat es damit eine besondere Bewandtnis. Eigentlich ist der Stoff mir gegeben, und ich darf euch nicht verschweigen, wie sich das begab. Nicht gar zu lange ist es her, als ich mich an der Tafel einer geistreichen fürstlichen Frau befand. Es war eine Dame zugegen, die einen goldnen Ring mit einem schönen Topas am Finger trug, dessen ganz seltsame altväterische Form und Arbeit Aufmerksamkeit erregte. Man glaubte, es sei ein altes, ihr wertes Erbstück, und erstaunte

nicht wenig, als die Dame versicherte, daß man vor ein paar Jahren auf ihrem Gute eine Mohrrübe ausgegraben, an der jener Ring gesessen. Tief in der Erde hatte also wahrscheinlich der Ring gelegen, war bei dem Umgraben des Ackers heraufgekommen, ohne gefunden zu werden, und so die Mohrrübe durchgewachsen. Die Fürstin meinte, das müsse ja einen herrlichen Stoff geben zu einem Märchen, und ich möge nur gleich eins ersinnen, das eben auf den Mohrrübenring basiert sei. Ihr seht, daß mir nun der Gemüskönig mit seinen Vasallen, dessen Erfindung ich mir zuschreibe, da ihr im ganzen Gabalis oder sonst in einem andern Buche der Art keine Spur von ihm finden werdet, ganz nahe lag."

"Nun", nahm Lothar das Wort, "an keinem Serapionsabend ist wohl unsre Unterhaltung krauser und bunter gewesen als eben heute. Gut ist es aber, daß wir aus dem graulichen Dunkel, in das wir, selbst weiß ich nicht wie, hineingerieten, uns wieder hinausgerettet haben in den klaren heitern Tag, wiewohl uns ein etwas zu ernster, zu vorsichtiger Mann mit Recht den Vorwurf machen würde, daß all das von uns hintereinander fortgearbeitete phantastische Zeug den Sinn verwirren, ja wohl gar Kopfschmerz und Fieberanfälle erregen könne."

"Mag", sprach Ottmar, "mag jeder tragen, was er kann, jedoch nur nicht das Maß seiner Kraft für die Norm dessen halten, was dem menschlichen Geist überhaupt geboten werden darf. Es gibt aber sonst ganz wackre Leute, die so schwerfälliger Natur sind, daß sie den raschen Flug der erregten Einbildungskraft irgendeinem krankhaften Seelenzustande zuschreiben zu müssen glauben, und daher kommt es, daß man von diesem, von jenem Dichter bald sagt, er schriebe nie anders, als berauschende Getränke genießend, bald seine phantastische Werke auf Rechnung überreizter Nerven und daher entstandenen Fiebers setzt. Wer weiß es denn aber nicht, daß jeder auf diese, jene Weise erregte Seelenzustand zwar einen glücklichen genialen Gedanken,

nie aber ein in sich gehaltenes, geründetes Werk erzeugen kann, das eben die größte Besonnenheit erfordert."

Theodor hatte die Freunde mit einem sehr edlen Wein bewirtet, den ihm ein Freund vom Rhein her gesendet. Er schenkte den Rest ein in die Gläser und sprach dann: "Ich weiß in der Tat nicht, wie mir die wehmütige Ahnung kommt, daß wir uns auf lange Zeit trennen, vielleicht niemals wiedersehen werden, doch wird wohl das Andenken an diese Serapionsabende in unserer Seele fortleben. Frei überließen wir uns dem Spiel unsrer Laune, den Eingebungen unserer Phantasie. Jeder sprach, wie es ihm im Innersten recht aufgegangen war, ohne seine Gedanken für etwas ganz Besonderes und Außerordentliches zu halten oder dafür ausgeben zu wollen, wohl wissend, daß das erste Bedingnis alles Dichtens und Trachtens eben jene gemütliche Anspruchslosigkeit ist, die allein das Herz zu erwärmen, den Geist wohltuend anzuregen vermag. Sollte das Geschick uns nun wirklich trennen, so laßt uns, auch geschieden, die Regel des heiligen Serapion treu bewahren und, dies einander gelobend, das letzte Glas leeren."

Es geschah, wie Theodor geboten.



Ende des vierten und letzten Bandes

Anmerkungen


Fünfter Abschnitt

.7 Theodor, den ein lange bekämpftes Übel doch zuletzt auf das Lager gebracht, - Anspielung auf Hoffmanns Krankheit im März und April 1819, während der er sechs Wochen lang "nicht aus dem Zimmer" gekommen war. Vgl. die Entstehungsgeschichte der "Serapionsbrüder" (Band 4 unserer Ausgabe).8 das Leben ekel, schal und oberflächlich - Anspielung auf Shakespeares "Hamlet" I, 2: "Wie ekel, schal und flach und unersprießlich / Scheint mir das ganze Treiben dieser Welt" (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel).11 alte Chroniken. - Hoffmann selbst verwandte für seine Erzählungen mit Vorliebe Stoffe aus alten Chroniken; vgl. die Anmerkungen zu "Der Kampf der Sänger" (Band 4 unserer Ausgabe) und zu der Kriminalnovelle "Das Fräulein von Scudéri"(S .627 f.).12 Erzählung "Der Kampf der Sänger", die ich damals.., mit allerlei Scheingründen schützte - Vgl. Band 4 unserer Ausgabe, S. 383f.Advocatum diaboli - advocatus diaboli: (lat.) Anwalt des Teufels; Bezeichnung für den Gegenanwalt bei der Heiligsprechung in der katholischen Kirche, der die Bedenken und Einwände vorträgt.Aide de camp - (franz.) Adjutant.Jokusstab - Narrenstab."Nußknacker und -Mausekönig" - Vgl. Band 4 unserer Ausgabe.13 ,Hafftitii Microchronicon berolinense' — (lat.) "Hafftiz' kleine berlinische Chronik". Gemeint ist das von dem Berliner Schulrektor Peter Hafftiz (um 1525 bis um 1602) stammende, seit

1595 in verschiedenen handschriftlichen Fassungen kursierende "Microchronicon Marchicum", eine durch eigene Zugaben vermehrte Kompilation aus einer anderen zeitgenössischen und einer heute verschollenen älteren Chronik der Mark Brandenburg. Hoffmann benutzte die sogenannte "Magdeburger Fassung" von 1600 in einer Abschrift aus dem 18. Jahrhundert. (Zum erstenmal gedruckt wurde die Chronik - nach der Templiner Originalhandschrift von 1599 — erst in dem von Adolph Friedrich Riedel herausgegebenen "Codex diplomaticus Brandenburgensis", IV. Hauptteil, ,.Band, Berlin 1862.)13 "In diesem Jahr wandelte auch der Deuvel - Vgl. die Anm. zu S. 64.Mißgeburt -Hexenprozeß - Diese Motive stammen ebenfalls aus der Chronik des Hafftiz.,Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes', - Vgl. die folgende Entstehungsgeschichte.[Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes]Der im Frühjahr 1819 entstandene Schwank erschien zum erstenmal in zwei Folgen (25. und 27. Mai 1819) unter dem Titel "Aus dem Leben eines bekannten Mannes (nach einer alten märkischen Chronik)" in der von dem Schriftsteller Friedrich August Kuhn herausgegebenen Berliner Zeitschrift "Der Freimütige oder Unterhaltungsblatt für gebildete, unbefangene Leser" (Jahrgang XVI, Nr. 104 undHoffmann kompilierte in dieser Teufelsposse - als spielerisch-ironisierende Variante zu seinem "feindlichen Prinzip" — mehrere Motive, die er einer Abschrift (18. Jahrhundert) des "Microchronicon Marchicum" von Peter Hafftiz (vgl. die erste Anm. zu S. 13) entnahm. Es handelt sich dabei um dieselbe Quelle (Folio-Handschrift Nr. 23), die er bereits während seiner Vorarbeiten für die Erzählung "Die Brautwahl" (vgl. S. 605) unter den "Manuscripta borussica" der Königlichen Bibliothek zu Berlin entdeckt und für dieses Stück benutzt hatte.Vor der Aufnahme in den Dritten Band der "Serapionsbrüder" (1820) ist der Text des Erstdrucks im wesentlichen nur stilistisch überarbeitet worden (vgl. aber die erste Anm. zu S. 20).16 Barbara Rolof fin - Von Hoffmann erfundene Gestalt, auf die der Dichter alle bei Hafftiz vorgefundenen Umstände von Hexenerscheinungen übertragen hat.17 Das Ding war ganz kastanienbraun... - Hoffmann folgt bei der Beschreibung der Mißgeburt fast wörtlich seiner Quelle.19 scharfen Frage - Gemeint ist die Folter.20 und kluge Frauen betrogen - Im Erstdruck folgt als Schlußabsatz: "Ganz unerträglich war der abscheuliche Gestank, der sich auf dem Neumarkt verbreitete, und unerachtet der hohe Rat mit den auserlesensten Spezereien räuchern ließ, wollte des Teufels Witterung doch in langer Zeit nicht vergehen, ja man sagt, daß noch zuweilen in der Papengasse, durch die der Teufel mit der Hexe gefahren, sich ein sehr übler Geruch verspüren lassen soll."glauer - gescheit, sauber, nett.23 "Liebeszauber" - Von Hoffmann sehr geschätzte Erzählung aus Ludwig Tiecks "Phantasus. Eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen" (3 Bände; 1812-1816), an die bereits der Schluß des "Nachtstückes" "Der Sandmann" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) erinnert und die der Dichter in einem späteren Gespräch der Serapionsbrüder noch einmal ausdrücklich nennt (vgl. S. 514f.).Während meines Aufenthalts in W. besuchte ich das reizende Lustschloß L. . .. - Autobiographische Reminiszenz Hoffmanns an seinen Aufenthalt in Warschau (als preußischer Regierungsrat; Frühjahr 1804 bis Juni 1807), von wo aus er am 14. Mai 1804 einen Ausflug zu dem nahe gelegenen, "höchst brillant ausgestatteten, im herrlichsten Stil erbauten" Lustschloß Lazienki unternommen hatte. Im Brief an den Jugendfreund Theodor Gottlieb von Hippel vom ii. bis 54. Mai 1804, auf den der Dichter mit der Bemerkung vom "spiegelhellen See. ." anspielt, heißt es: "Ein heiliger Hain umfing mich mit seinen Schatten! — ich war in Lazienki! — Jawohl, ein jungfräulicher Schwan, schwimmt der freundliche Palast auf dem spiegelhellen See! Zephire wehen wollüstig durch die Blütenbäume - wie lieblich wandelt's sich in den belaubten Gängen!. — Das Schloß gehörte dem letzten polnischen König Stanislaw 11. August Poniatowski (1732-1798; Monarch seit 1764), der 1795 nach der dritten Teilung Polens (durch Rußland, Österreich und Preußen) abdanken mußte; auf ihn beziehen sich auch die Andeutungen über die "verworrenen Schicksale".26 neue Teufelsspukgeschichten - Gemeint sind die zahlreichen trivialen Schauergeschichten, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden.Fouqués meisterhafte Erzählung "Das Galgenmännlein" - Sie war zuerst im März 1810 unter dem Titel "Eine Geschichte vom Galgenmännlein" im ersten Band des "Pantheon. Eine Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst", später in Fouqués "Kleinen Romanen" (Teil 3, Berlin 1814) erschienen.gern einige Harnischmänner eintauschen - Kritische Anspielung auf die zahlreichen pathetischen, altertümelnden Ritter- und Heldenromane Fouqués.die Geschichte vom Halbheller, - Die "höllische" Bedingung in dieser Geschichte war, daß das Galgenmännlein (ein "schwarzes Teufelchen, in ein Gläslein eingeschlossen"), dessen Besitzer dem Satan ausgeliefert war, nur jeweils für einen geringeren Betrag als die Kaufsumme wieder veräußert werden durfte. Der Held der Fouquéschen Erzählung, dem zuletzt das Männlein für die kleinste Münze (einen Heller) wieder zugefallen war, steht damit vor der ausweglosen Situation, halbe Heller auftreiben zu müssen.27 den Stoffaus irgendeinem alten Buch - entnommen - Möglicherweise aus "Simplicissimi Galgen-Mannlin" (1673) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1621 oder 1622-1676). Kleist ... Erzählung von dem Roßbändler Kohlbaas - Gemeint ist die von Hoffmann sehr geschätzte Erzählung "Michael Kohlhaas", die 1808 als Fragment und zum erstenmal vollständig 1810 in "Kleists Erzählungen" (Band 1) erschienen war.Die BrautwahlDie phantastische Berliner Geschichte entstand zwischen Herbst 1818 und Frühjahr 1819. Hoffmann verfaßte sie als Auftragsarbeit für den von der Königlich Preußischen Kalender-Deputation herausgegebenen "Berlinischen Taschenkalender", in dessen Ausgabe "auf das Schaltjahr 1820" sie im Herbst 1819 erschien.

Den Stoff für die Erzählung entnahm Hoffmann wiederum der "Märkischen Chronik" von Peter Hafftiz (vgl. die Entstehungsgeschichte der "Nachricht aus dem Leben eines bekannten Mannes" und die erste Anm. zu S. 13), der seine Darstellung weitgehend folgt. Die historischen Spezialkenntnisse bezog der Dichter aus dem "Versuch einer historischen Schilderung der Hauptveränderungen der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Künste, Wissenschaften usw. der Residenzstadt Berlin seit den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1786" (s Teile, Berlin 1792-1799) von Anton Balthasar König (1755-1814). Auch zwei Hauptfiguren der Geschichte sind "Revenants" aus dem Personenbestand dieser Quellen. So ist der Goldschmied Leonhard der Gestalt des Alchimisten Leonhard Thurneysser zum Thurn (vgl. die dritte Anm. zu Seite 48) nachgebildet, wie sie Hafftiz beschreibt, und für die Charakterisierung des Juden Manasse diente der "Münzjude" Lippold (vgl. die erste Anm. zu S. 40) als historisches Vorbild.

Die Erstveröffentlichung der "Brautwahl" enthielt eine Vielzahl direkter (zum Teil pikanter) Anspielungen auf zeitgenössische Berliner Örtlichkeiten, Ereignisse und Personen, die ein mit den lokalen Verhältnissen vertrautes Leserpublikum voraussetzten. Diesen Umstand mußte Hoffmann berücksichtigen, als er seine Geschichte im Frühjahr 1820 für den Abdruck im Dritten Band der in sich geschlossenen Erzählungssammlung überarbeitete: Er strich die ihm entbehrlich erscheinenden Partien sowie die für Nichteingeweihte unverständlichen "lokalen Spezialitäten" und übersandte Georg Reimer, dem Verleger der "Serapionsbrüder", am 6. Juni 1820 — nicht ohne, wie immer bei solchen Gelegenheiten, auf eine "versprochene Remesse" hinzuweisen - eine "rektifizierte" Fassung des Textes.

Trotz der Tilgung einer ganzen Reihe von Details enthält auch die Zweitfassung noch Bezüge auf lokale Umstände und Zeitgenossen. So ist die Gestalt des Malers Lehsen ein literarisches Porträt des Malers Wilhelm Hensel (vgl. die Anm. zu S. 44), und der pedantisch-skurrile Geheime Kanzleisekretär Tusmann trägt Züge des Publizisten und Akademieprofessors Friedrich Wilhelm Gubitz (1786-1870). Gewiß gab es auch für den geschäftstüchtigen "Kommissionsrat, Stadtverordneten und Feuerherren" Melchior Voßwinkel sowie für die "Jungfer" Albertine historische Vorbilder, jedoch sind sie heute nicht mehr zu identifizieren.

Die wichtigsten der in der Buchausgabe weggelassenen Passagen aus dem Erstdruck werden im folgenden Zeilenkommentar mitgeteilt.

28 Äquinoktiums - Die Tagundnachtgleiche am Frühlings- und am Herbstanfang (um den 21. März bzw. 23. September).Marien- und Nikolai-Kirchen - Die beiden ältesten Kirchen Berlins.alten Rathauses - Das alte Rathaus befand sich an der Ecke der Spandauer- und der ehemaligen Königsstraße (der heutigen Rathausstraße).Reverberen - Straßenlaternen.29 Ladentüre des Kaufmanns Warnatz - Der Laden des Eisenwarenhändlers Warnatz befand sich damals tatsächlich im Uhrturm des alten Berliner Rathauses.31 das neue Weinstübchen auf dem Alexanderplatz - Im Erstdruck findet sich der ironische Zusatz: ..das. irre ich mich nicht, das sechs- oder siebenundneunzigste ist, welches in unserer guten Stadt seit kurzer Zeit aufgegangen".Juden, - ums Jahr eintausendsiebenbundertundzwanzig bis -dreißig - Anspielung auf den "Münzjuden" Veit, der der Unterschlagung von ioo 000 Talern bezichtigt worden war, woraufhin der preußische König Friedrich Wilhelm I. 1721 einen Bann über die gesamte jüdische Bürgerschaft des Landes verhängt hatte. Hoffmann deutet hier eine mysteriöse Identität seiner "aus längst vergangener Zeit zurückgekehrten" Gestalt mit Veit (wie später mit dem "Münzjuden Lippold"; vgl. S. 40 und die erste Anm. dazu) und zugleich mit dem sagenhaften Ewigen Juden (vgl. die dritte Anm. zu S. 46) an.32 des ältesten Franzweins, der im Keller vorhanden - Im Erstdruck folgte die den Berliner Schriftsteller, Publizisten und Holzschneider Friedrich Wilhelm Gubitz (vgl. S. 605) noch deutlicher verspottende Passage: "Dem Geheimen Kanzleisekretär Tusmann wurde bei der Bestellung des Fremden angst und bange. Er fand sich überzeugt, daß, wenn zwei Personen sich an eine Flasche Wein machen, nach der richtigen Berechnung jeder von ihnen die Hälfte davon trinken müsse, in seinem ganzen Leben hatte er aber doch nicht eine halbe Flasche Wein auf einmal, am wenigsten von solch starker Sorte, getrunken." deprezierend - abbittend.33 Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über! - Nach dem Neuen Testament, Matthäus 12,34: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über."34 Tage des heiligen Dionysius - Gemeint ist der Gedenktag für den ersten Bischof von Paris, Dionysius (Saint-Denis), der 273 enthauptet und später heiliggesprochen wurde.35 "Kurzer Entwurff der politischen Klugheit, - Hoffmann gibt den umständlichen deutschen Titel der ursprünglich in lateinischer Sprache erschienenen Schrift des Aufklärungsphilosophen und Rechtsgelehrten Christian Thomasius (1655-1728) um der parodistischen Wirkung willen in vollem Wortlaut wieder. Der Aufsatz, zwischen 5707 und 1744 in zahlreichen Auflagen erschienen, gehört zu den späten Schriften Thomasius', in denen der wegen seines Kampfes gegen Aberglauben und Hexenwahn verdiente Gelehrte in pedantischer Weise für seine bürgerlichen Leser praktische Lebensregeln zu geben und Normen des "gesunden Menschenverstandes" im Interesse eines "möglichst langen und glücklichen Lebens" aufzustellen suchte. — Die folgenden Auszüge sind weitgehend originalgetreu zitiert.Conduite - (franz.) Verhalten, Benehmen.36 regardieren - sehen, achten.37 nach Thomasii Rat... - Im "Kurzen Entwurf. . .", Kap. 5, Paragraph 26.38 Ich will nur daran denken... - Hoffmann schildert die Hoffestlichkeiten anläßlich der Taufe Christians (I.) von Sachsen (1560-1591; Kurfürst seit 1586) in enger Anlehnung an den Bericht in Hafftiz' Chronik (vgl. die erste Anm. zu S. 13).Okuli - Der vierte Sonntag vor Ostern.Kurfürst Augustus - August I. (1526-1586), seit 1553 Kurfürst von Sachsen.Graf Jost zu Barby - Name nach Hafftiz.39 Bernhard Pasquino Grosso aus Mantua - Der Name ist, wie aus einer Notiz Hoffmanns hervorgeht, Anton Balthasar Königs "Versuch..." (vgl. S. 605) entnommen.unsere Theatersängerinnen, - besser placiert - Im Erstdruck heißt es statt "Theatersängerinnen" konkret: "Madame Milder oder Madame Seidler". Die Sängerinnen Anna Milder (1785 bis 1838) und Caroline Seidler (um 1790-1872), seit 1816 Mitglieder des Königlichen Theaters in Berlin, erhielten Höchstgagen (3000 bzw. 2500 Taler), worauf Hoffmann mit der ironischen Bemerkung "besser placiert"anspielt.Zindel - Dünner Seidentaft.40 Geschichte vom Münzjuden Lippold... - Nach dem Tode Joachims II. Hektor (1505-1571; Kurfürst von Brandenburg seit 1535) machte dessen Nachfolger Johann Georg (1525-1598) den Münzmeister Lippold für die verschwenderische Finanzpolitik seines Vaters verantwortlich. Lippold wurde gefangengesetzt und, nachdem er unter der Folter gestanden hatte, seinen Herrn verhext und zu schädlichen Unternehmungen verleitet zu haben, im Jahre 1572 hingerichtet. (Vgl. auch die zweite Anm. zu S. 31.) Hoffmanns Darstellung folgt wiederum der Chronik von Hafftiz, die Historisches und Legendäres vermischt.die beim Herrn Tun und Lassen waren - Aus dem ..Microchronicon Marchicum" übernommene Redewendung in der Bedeutung: Einfluß haben auf das Tun und Lassen des (Landes-) Herrn.mit der silbernen Büchse geschossen - bestochen.44 Lehsen - Anagramm für Hensel (vgl. S. 605). Der Berliner Maler und Schriftsteller Wilhelm Hensel (1794-1861), Schwager Felix Mendelssohn Bartholdys, schuf u. a. die Einbandzeichnungen zum Ersten Teil von Ernst Moritz Arndts "Märchen und Jugenderinnerungen" (1818) sowie mehrere Radierungen zu Ludwig Tiecks Dichtungen; er hinterließ über tausend Bleistifiporträts berühmter Zeitgenossen, darunter auch jene Hoffmann darstellende Zeichnung (Sommer 1821), die dem im Band I unserer Ausgabe als Frontispiz abgebildeten Stich zugrunde gelegen hat.45 nach dem Ausspruch der neuesten Ärzte... - Das Vorurteil, Neugeborene vor dem vollen Tageslicht schützen zu müssen, war noch zu Hoffmanns Lebzeiten weit verbreitet."Bei Männern, welche Liebe fühlen" - Duett aus Mozarts Oper "Die Zauberflöte" (1,14).46 Müncheberg - Märkischer Ort im Landkreis Strausberg. funkelnagelneue Antiken aus der Tiber gefischt und hieher transportiert - Wahrscheinlich ironische Anspielung auf die seinerzeit zahlreichen Ankäufe von Antiken-Fälschungen in Berlin.Ahasverus, der Ewige Jude - Nach der spätmittelalterlichen christlichen Legende muß der Schuhmacher Ahasverus aus Jerusalem zur Strafe dafür, daß er Jesus auf dem Wege zur Hinrichtung eine kurze Rast vor seinem Hause verweigerte, bis zum Jüngsten Gericht als der sogenannte Ewige Jude ruhelos in der Welt umherirren.46 der alte Überall und Nirgends - Bezeichnung für Ritter Georg von Hohenstaufen, die Hauptfigur in dem Ritter- und Schauerroman "Der alte Überall und Nirgends. Geistergeschichte" (1792/93) von Christian Heinrich Spieß (1755-1799). Er ist dazu verurteilt, nach seinem Tode so lange in den verschiedensten Gestalten umherzuwandeln, bis es ihm gelingt, fünf gute Taten zu vollbringen.Petermännchen - Der in einer Ritterfamilie als Hausgeist agierende Teufel ("Meister Peter") in dem Schauerroman "Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem dreizehnten Jahrhundert" (1791/92) von Christian Heinrich Spieß.47 Sie sagen mir das so geradezu ins Gesicht? Sie - - Im Erstdruck findet sich an dieser Stelle eine längere Passage, in der Hoffmann zur dominierenden zeitgenössischen Malerei kritisch Stellung nimmt und dabei ganz direkt auf die Schaffensmethode Wilhelm Hensels (vgl. die Anm. zu S. 44) anspielt. Sie lautet: "Sie scheuen sich nicht, mir eine Sottise ins Gesicht zu sagen? Sie -' — ,Still', fiel ihm der Goldschmied ins Wort. ,still, das ist keine Sottise, das ist die alte deutsche ehrliche Biederkeit. die aus mir spricht und die Sie vertragen müssen, da Sie mit einem altdeutschen Rock angetan sind und sich die Haare nicht verschneiden. Das Wort Sottise sollten Sie gar nicht kennen, viel weniger brauchen. Sie laufen Gefahr, von irgendeinem Professor der Turnkunst [vgl. die zweite Anm. zu S. 50] stracks zu Boden geturnt zu werden, vernimmt er solches aus Ihrem Munde. — Doch den Beweis meines Ausspruchs! — Sie haben recht, jeder Maler, sei er Landschafter oder Historikus, muß zugleich ein Dichter sein, denn Gemälde sind Gedichte, mit dem Pinsel ausgeführt; aber nennen Sie das Dichten, wenn Bäume mit ihrem Laube, Stamm und ihren Wurzeln zugleich aussehen sollen wie Menschen, Tiergestalten, ja wenn selbst Figuren zusammengestellt sind, nicht nur eine bestimmte Handlung, sondern nur eine außerhalb des Bildes liegende phantastische Idee auszudrücken? Da kommen wir in die Allegorie hinein, den ärmlichsten, unkünstlerischsten Teil der Malerei. Hüten Sie sich vor dem Nebeln und Schwebeln! — Sie verfertigen bisweilen miserable Sonette und gefallen sich darin, seltsame Arabesken und Grotesken zusammenzustoppeln, und schwatzen von Ahnung und Sehnsucht und Lebenstiefe, die in den abgeschmackten Zerrbildern liegen soll.' — ,In der Tat', brach Edmund im höchsten Unwillen los, ,in der Tat, mein Herr! Ihr Horoskop bewährt sich in diesem Augenblick, denn ich bin wirklich ein großer ausgemachter Narr, daß ich hier stehe und mir von einem Mann, dem es an allem poetischen Sinn gebricht, Grobheiten ins Gesicht sagen lasse. Gott befohlen.' — Und damit rannte der Jüngling spornstreichs durch das Gebüsche von dannen. / Edmund Lehsen hielt den Genius, der nach seiner Meinung ihm innewohnte, so hoch in Ehren, daß er selbst gar nicht begriff, wie er mit diesem überirdischen Insassen so ruhig auf Erden unter seinesgleichen wandeln könne und nicht vielmehr in den hohen Lüften schwebe. Schon darum mochte der Goldschmied recht haben mit seinem schlimmen Horoskop. Edmund arbeitete an einem großen Bilde, das der Triumph der Kunst sein sollte. Als es endlich vollendet, war es jedoch dermaßen mißraten, daß es auf der Ausstellung [vgl. die Anm. zu S. 51] bei den Kennern Lachen, bei den meisten aber Unwillen erregte. Dieser böse Umstand erzeugte in dem Innern des Jünglings einen harten Kampf, in dem aber das bessere Prinzip siegte. Er sah es nämlich ein, daß er sich wohl auf falschem Wege befunden, und gedachte des alten Goldschmieds und seiner Warnung. Sowie er recht lebhaft wünschte ihn wiederzusehen, fand er sich wirklich ein in der Werkstatt. / Merkwürdig war es, daß der Goldschmied von des Jünglings Sinnesänderung ganz unterrichtet zu sein schien. Er wünschte ihm Glück zu dem mißratenen Bilde und meinte, es habe ganz mit Recht den großen Rumor herbeigeführt, da es, was Abgeschmacktheit der Idee, Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit des Kolorits anlange, kaum zu übertreffen. / Edmund hörte mit niedergeschlagenen Augen, hohe Röte auf den Wangen, des alten Goldschmieds herben Tadel an; er schämte sich in der Tat seines törichten Beginnens, das er nun in seinem ganzen Umfange fühlte. / Als der Goldschmied dies gewahr wurde, änderte er indessen sogleich seinen Ton und richtete den niedergeschlagenen, ja zerknirschten Jüngling wieder auf mit trostreichen Worten."48 die jungen Leute - geistestote Nachäbmier - Anspielung auf bestimmte Auswüchse und Übertreibungen in den Werken der sogenannten Nazarener, einer in Italien lebenden Gruppe romantischer deutscher Künstler im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, die die religiöse Malerei der deutschen und italienischen Meister des Mittelalters zu erneuern suchten. Hoffmann stand dieser Kunstrichtung prinzipiell nicht ablehnend gegenüber, wie aus der Bemerkung über Peter Cornelius in der Erzählung "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe) hervorgeht.48 Bauerjungen - der.., bei dem Vaterunser den Hut vor die Nase hielt - Die Anekdote findet sich in dem damals viel gelesenen "Humoristikum" "Der junge Antihypochondriakus oder Etwas zur Erschütterung des Zwerchfells und zur Beförderung der Verdauung" (Lindenstadt 1798). Dort ist es ein Bauer, der statt des Textes "nur die Weise" des Gebetes kannte. "Da der Prediger wissen wollte, was er damit meinte, schrie der Bauer: ,Frau, gib mir einmal meinen Hut von der Wand!' Als er diesen hatte, richtete er sich im Bette auf, hielt den Hut einige Minuten vor das Gesichte und stöhnte etlichemal recht kräftig dazu. ,Das ist', fuhr er fort, ,die Weise vom Vaterunser" ("Drittes Portiönchen", Nr. 2, S. 4).Turnhäuser zum Thurm, - Leonhard Thurneysser zum Thurn (1530-1595), aus der Schweiz stammender Mediziner, Metallurg, Alchimist, Astrologe, Goldschmied, Buchdrucker, Mineralien- und Pflanzensammler. Als Leibarzt des Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg (1571-1598) erwarb er sich in kurzer Zeit einen solchen Ruf, daß zahlreiche Fürsten seinen medizinischen Rat suchten. — Im Gegensatz zu Hafftiz, der Thurneysser in seiner Chronik als "durchtriebenen, verschmitzten und unverschämten" Scharlatan, Zauberer und Wucherer darstellt, begreift Hoffmann ihn als verdienstvollen und integren Gelehrten. (Gesichertes Tatsachenmaterial ist nicht überliefert.)50 "Hofjäger" im Tiergarten - Ein damals beliebtes Kaffeehaus mit Gartenrestaurant.Puristen - Gemeint sind die sogenannten "Sprachreiniger", insbesondere die Repräsentanten der 1815 in Berlin gegründeten "Gesellschaft für deutsche Sprache", die Fremd- und Lehnwörter aus dem deutschen Wortschatz zu verbannen suchten und als Ersatz dafür vielfach die wunderlichsten und lächerlichsten Wortkonstruktionen vorschlugen. Eine dominierende Rolle in dieser deutschtümelnden Bewegung spielten u. a. der Geograph August Wilhelm Zeune (1778-1853) und der "Turnvater" Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852; vgl. auch die Anm. zu S. 47). Auch Wilhelm Hensel (vgl. die Anm. zu S. 44), das Urbild des Malers Lehsen, war Mitglied der "Gesellschaft für deutsche Sprache".51 Kunstausstellung - Sinn des phantastischen Gebildes - Anspielung auf ein Prachtgemälde Wilhelm Hensels, das auf der Berliner Kunstausstellung vom Herbst 1816 "Lachen" und "Unmut" hervorgerufen hatte (vgl. die Anm. zu S. 47). Das mit "sinnverwirrenden Höllengebilden" ausstaffierte allegorische Bild, "den Kampf eines Ritters gegen eine Zauberin" darstellend, sollte nach der pathetischen Erklärung des Künstlers im Katalogtext zum Ausdruck bringen, wie "die trügerischen, verwirrenden Gestalten", u. a. die "Zauberin, welche die Sünde bedeuten mag", "in Nichts" zerfließen "und der Regenbogen der Verheißung... sich durch den herüberdämmernden Himmel" wölbt.53 Stobwasserscher Laden...Sala Tarone - Die Berliner Blechwaren- und Lackierfabrik "C. H. Stobwasser und Kompagnie" unterhielt seinerzeit ein Ladengeschäft im selben Hause (Unter den Linden 32 / Ecke Charlottenstraße), in dem sich auch die viel besuchte "Wein- und Italienerwarenhandlung" von J. Sala Tarone befand.54 Zelterschen Akademie - Gemeint ist die von Carl Friedrich Christian Fasch (1736-1800) gegründete Berliner Singakademie, die seit 1800 von dem Musiker und Komponisten Karl Friedrich Zelter (1758-1832), dem Altersfreund Goethes, geleitet wurde. Lauska - Franz Seraphinus Lauska (1764-1825), namhafter Berliner Klavierlehrer und Komponist. (Sein prominentester Schüler war Giacomo Meyerbeer.)Ersten Tänzerin - Im Erstdruck nennt Hoffmann ihren Namen: "Mademoiselle Lemière". Sie war an der Berliner Oper engagiert.Lebenstiefe - Ein damals in den "schöngeistigen" Berliner Bürgersalons häufig gebrauchtes, nichtssagendes Modewort, mit dem Hoffmann das Bildungsbewußtsein seiner jugendlichen Heldin charakterisiert. Vgl. das Gespräch der Serapionsbrüder über die sogenannten "ästhetischen Teegesellschaften", das der Erzählung "Die Königsbraut" vorausgeht (S. 532 ff.); dort trägt eines der persiflierenden Epigramme die ironisch gemeinte Überschrift "Lebenstiefe".54 aus Fouqués Gedichten - Zitiert werden die erste und die dritte Strophe aus dem Gedicht "Waldessprache" (erschienen 1816 im Ersten Band der "Gedichte aus dem Jünglingsalter") von Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué (1777 bis 1843).55 Die Polizei will nicht erlauben, -daß man im Tiergarten wandelnd rauche, - Das Verbot wurde erst 1848 aufgehoben.56 Rosalindens Ausspruch in Shakespeare:"Wie es euch gefällt"- 111.2.57 der junge Sternbald - Edmunds Lieblingsbuch -Ludwig Tiecks in der Dürer-Zeit spielender Künstlerroman "Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte" (1797/98) gehörte zur Lieblingslektüre Hoffmanns, der hier auf die Textstelle anspielt, wo ein Antwerpener Kaufmann dem unsteten, schwärmerischen und kunstbegeisterten Titelhelden die Heirat mit seiner Tochter und eine gesicherte Existenz anträgt, worauf der Jüngling, der sich zum Maler berufen fühlt, mit einer Reflexion über die Ehe als unromantische Lebensform reagiert: "Hier bot sich ihm eine sichere Zukunft an, . man forderte nichts weiter von ihm, als einen Schatten, ein Traumbild aufzuopfern, das nicht sein war (nämlich die ferne romantische Unbekannte). Doch fürchtete er sich wieder, so seinen Lebenslauf zu bestimmen und sich selber Grenzen zu setzen; die Sehnsucht rief ihn wieder in die Ferne hinein, seltsame Töne lockten ihn und versprachen ihm ein goldenes Glück, das weitab seiner wartete" (Zweites Buch, Kap. 5). — Bereits am 26. September 1805 hatte Hoffmann an den Freund Theodor Gottlieb von Hippel geschrieben: "Hast Du schon ,Sternbalds Wanderungen' von Tieck gelesen? lies so bald als möglich dies wahre Künstlerbuch -"58 Kavalleriereglement Friedrich Wilhelms des Ersten - "Reglement vor die Königlich Preuß'schen Kavallerie-Regimenter, worinnen enthalten die Evolutiones zu Pferde und zu Fuß. ." (Berlin 1750)."Cicero, als großer Windbeutel und Rabulist dargestellt in zehn Reden" - Der genaue Titel des von dem Professor der Beredsamkeit Johann Ernst Philippi ('7°, bis um 1750) verfaßten Buches lautet: "Cicero, ein großer Windbeutel, Rabulist und Scharletan; zur Probe aus dessen übersetzter Schutzrede, die er vor dem Quintius gegen den Nervius [Naevius] gehalten hat, klar erwiesen... Samt einem doppelten Anhange: 1. Der gleichen Brüder gleiche Kappen. 2. Von acht Verteidigungsschriften gegen ebensoviel Scharteken" (Halle 1735). Den Verfasser der Schrift hatte der Satiriker Christian Ludwig Liscow (1701-1760) in seiner Abhandlung "Die Vortreiflichkeit und Notwendigkeit der elenden Skribenten" (1736) verspottet.59 der berühmteste Kunstgärtner in Berlin - Im Erstdruck nennt Hoffmann den Namen: "Herr Bouché". Drei Brüder Boucher unterhielten in der damaligen Stralauer Vorstadt (Lehmgasse ii) einen vielbesuchten Gartenbaubetrieb (mit Blumenhandlung), wo besonders im Frühjahr attraktive Blumenschauen veranstaltet wurden.61 Nudows "Theorie des Schlafes" - Heinrich Nudow (geb. 1752), "Versuch einer Theorie des Schlafs" (Königsberg 1791). Eine Erörterung der Frage, "ob aber wohl alle Menschen träumen", und eine Aufzählung von Personen, die nie geträumt haben sollen, finden sich im Dritten Abschnitt (Kap. 2) des Buches, das Hoffmann bereits für das "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" sowie für die "Nachtstücke" "Das Majorat" und "Das öde Haus" (vgl. Band I bzw. Band 3 unserer Ausgabe) als Quelle benutzt hat."Schlafen, vielleicht auch träumen" - Vgl. Shakespeare, "Hamlet" 111,1 (Hamlets Monolog)."Somnium Scipionis" - "Scipios Traum", ein dem Sechsten Buch der Schrift "Dc re publica" (Die beste Staatsform) von Marcus Tullius Cicero (106-43 y. u. Z.) angefügter Abschnitt, auf den Hoffmann in der Erzählung "Der Kampf der Sänger" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe) ausführlicher anspielt.Artemidori berühmtes Werk von Träumen - Gemeint ist die Abhandlung "Oneirocritica" (Traumdeutungen) des aus Ephesos stammenden griechischen Schriftstellers Artemidoros (genannt der Daldianer; 2. Jahrhundert), die unter dem Titel "Traumbuch Artemidori, des griechischen Philosophi, darinnen Ursprung, Unterschied und Bedeutung allerhand Träumen, wie dieselben einem im Schlaf fürkommen mögen, aus natürlichen Ursachen gründlich ausgeleget und erkläret werden. Samt einer Erinnerung Philipp Melanchthonis von Unterscheid der Träume und angehängtem Bericht, was von Träumen zu halten sei" zum erstenmal 1624 (in Straßburg) in deutscher Übersetzung erschienen war.61 Frankfurter Traumbüchlein - Gemeint ist wahrscheinlich das "Verbesserte und vermehrte Traumbuch, darin man allerlei Träume mit ihren Bedeutungen nach alphabetischer Ordnung finden kann..." (Frankfurt und Leipzig o. J.).Janitscharen- oder...Jenjitscherik-Trommel - Militärmusik-Instrument türkischer Herkunft. Die Janitscharenmusik (mit Trommel, Becken, Triangel, Lyra und Schellenbaum) wurde in Europa bis ins 19. Jahrhundert vielfach nachgeahmt. Janitscharen: Infanterie-Kerntruppe der türkischen Sultane (1826 aufgelöst).63 hoch oben auf dem Pferde vor dem Großen Kurfürsten - Gemeint ist das von Andreas Schlüter (1664-1714) geschaffene Reiterstandbild des brandenburgischen Kurfürsten (seit 1640) Friedrich Wilhelm (genannt der Große Kurfürst; 1620-1688) auf der damaligen Langen Brücke.64 noch ganz andere Dinge begeben haben - Im Erstdruck folgt der Zusatz (fast wörtlich nach der Chronik des Hafftiz) ja daß einmal, und zwar im Jahre eintausendfünfhundertundeinundfünfzig, der Teufel an vielen Örtern bei der Nacht sichtlich auf den Gassen in Berlin umherging, an die Türen klopfte, oft weiße Totenhemden anhatte, mit zum Begräbnis ging, sich traurig gebärdete, oft auch andere Gebärden hatte, die Leute damit zu erschrecken." Vgl. auch S. 13.65 ein Zweiter Leander - Vgl. Schillers Ballade "Hero und Leander" (1801), die der griechischen Sage von den treuen Liebenden folgt.ein Zweiter Troilus - Vgl. Shakespeares Griechendrama "Troilus und Cressida" (III, 2), wo der Titelheld als "der Treue höchstes Musterbild" bezeichnet wird.68 "Hofjäger" - Vgl. die erste Anm. zu S. 50.69 Friedrichsdoren, - Preußische Goldmünze, geprägt von 1740 bis 185572 Humanitäts Gesellschaft - Gemeint ist die 1796 gegründete, siebzig Mitglieder zählende Berliner "Gesellschaft der Freunde der Humanität", bei deren wöchentlichen Zusammenkünften im Hause der Freimaurerloge "Royal York", Dorotheenstraße 24, Vorträge über Kunst und Moral gehalten wurden (wogegen Stellungnahmen zu politischen und "fakultätswissenschaftlichen" Themen gemäß den Satzungen untersagt waren).75 nach Thomasii politisch klugem Rat muß ich bleiben - Im Kap. VII des "Kurzen Entwurfs..." (vgl. S. 35 und die erste Anm. dazu) steht die Weisung: "Mit einer närrischen Frauen soll er Geduld haben, solange er kann..."80 verflucht sollst du sein... - Den folgenden metaphernreichen Fluch hat Hoffmann aus einer Passage (S. 18 ff.) des von ihm häufig benutzten Werkes "Die Symbolik des Traumes" (Bamberg 1814) von Gotthilf Heinrich Schubert kompiliert. Dales -In der jüdischen Sage die Personifizierung der Sorge und Armut.81 so erzählt ein Talmudist - Diese talmudische Sage hat Hoffmann wahrscheinlich von seinem Freund Julius Eduard Hitzig mitgeteilt bekommen.82 dahin, wo der Pfeffer wächst - Gemeint ist die Insel Cayenne (Französisch-Guayana), auf deren Doppelbedeutung (als berühmtes Pfeifer-Exportland und als berüchtigte französische Strafkolonie) die bekannte Redensart anspielt.83 Beispiel des jungen Sternbald -Vgl. die Anm. zu S. 57.85 um mit Celia... zu reden - In Shakespeares Komödie "Wie es euch gefällt" (111,2) spricht Celia die Worte: "Ich fand ihn [Orlando] unter einem Baum, wie eine abgefallne Eichel... Da lag er hingestreckt wie ein verwundeter Ritter." (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.)Sagt denn nicht Thomasius - Die folgenden (zum Teil kontaminierten) Sentenzen stammen wiederum aus dem "Kurzen Entwurf..." (Kap. VII; vgl. S. 35 und die erste Anm. dazu). Cleobulus - Kleobulos (um 600 y. u. Z.), Tyrann von Lydos; nach der Legende einer der griechischen Sieben Weisen, dem verschiedene Sinnsprüche zugeschrieben werden.Salvator Rosa -Vgl. die zweite Anm. zu S. 317. Streccius - J. Streccius, damals bekannter Berliner Farbenfabrikant.87 Hufelands "Kunst, das Leben zu verlängern" - Die populärwissenschaftliche Schrift "Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern" (Jena 1796) des Mediziners Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836).88 Weberschen Zeltes - Eines der damals viel besuchten, nach ihren Besitzern (Klaus und Weber) benannten Vergnügungslokale (Zelte) im Berliner Tiergarten.91 Schlemihls berühmte Siebenmeilenstiefel - Der Held in Adelbert von Chamissos (1781-1838) Märchenerzählung "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" (1814) erhält vom Satan, dem er seinen Schatten verkauft hat. Siebenmeilenstiefel, in denen er den Menschen entrinnen und in der stillen Natur Frieden suchen kann.92 Bilderhändler am Bankgebäude in der Jägerstraße - Gemeint ist wahrscheinlich die Kunsthandlung von A. Philipson, die sich in der (Kleinen) Jägerstraße 40, in der Nähe der Königlichen Bank (damals Jägerstraße 34), befand.93 con amore - (ital.) mit Liebe.94 auf irgendeinem Kaffeehause - Im Erstdruck heißt es genauer: "Bei Holzäpfel, Zimmermann oder auf sonst irgendeinem Kaffeehause."96 "Kaufmann von Venedig"- in welchem Herr Devrient einen mordsücbtigen Juden spielt - Die Rolle des Shylock in Shakespeares Tragikomödie "Der Kaufmann von Venedig" gehörte zu den "Glanzrollen" des mit Hoffmann eng befreundeten Schauspielers Ludwig Devrient (1784-1832; seit 1815 an den Berliner Königlichen Schauspielen), dessen ausdrucksvolle Darstellungskunst der Dichter im Dialog-Aufsatz "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) ausführlich würdigt.wie die Prinzen von Marokko und Aragon - Vgl. Shakespeare, "Der Kaufmann von Venedig" 11,7 und 9.99 Goldschmied Leonhard Turnhäuser - Vgl. die dritte Anm. zu S. 48.wie sie nur können - Im Erstdruck schließt sich folgende Persiflage auf einen (bisher nicht identifizierten) "Ästhetiker" der Berliner Spätaufklärung an: "Erst neuerdings hat mich ein tüchtiger, ganz auf- und abgeklärter Ästhetiker im schwarzen Rock für ein Gespenst, ja für eine ganz gespenstische Gattung gehalten und das furchtbare, donnernde Anathema über mich ausgesprochen: Weg mit der Gattung! Dieser Mann hält es mit dem schlauen Fuchs in der ,Donaunymphe' ["Das Donauweibchen", romantisch-komische Oper von Ferdinand Kauer, 1801], welcher singt: ,Was ich nicht seh, das glaub ich nicht, ich glaub an keine Geister!', und würd es lustig sein, wenn es ihm einmal so gehen könnte wie besagtem Fuchs, der, jenes Bekenntnis absingend, eben mit beiden Füßen in einem ganzen Garten voll seltsamer Zauberbilder steht. Du hast, mein liebes Kind, vielleicht mit ganzem, innigem Gemüt Schillers ,Geisterseher' und andere Werke von Goethe, Tieck usw. gelesen, in denen ein höheres, geistiges Reich, bald Schauer, Entsetzen, bald innigste Lust erregend, aufgeht in unserm armen, beengten Leben und uns mit seltsam süßem Weh ferner Ahnungen umfängt. Ich bedauere dich, mein Kind! — Alle diese Werke hat jener grausame schwarze Ästhetiker für nicht geschrieben erklärt, so wie jener Kaiser im Märchen zu Ungebühr gelöste Kanonen durch einen Machtspruch für nicht gelöst erklärte. Er will übrigens den Shakespeare auf der Bühne nur deshalb dulden, weil, fällt einmal Gespenstisches vor, jeder sogleich auf das Theater treten und sich überzeugen kann, daß aller Spuk ganz natürlich zugeht. Wem ist es verwehrt, im ,Hamlet', sowie der Geist erscheint, sogleich hinaufzusteigen oder in die Versenkung zu kriechen, um dessen sich zu vergewissern, daß der Geist kein Geist ist, sondern Herr Mattausch [Franz Mattausch (1767-1833), bis 1827 Schauspieler an den Berliner Bühnen], und ebenso kann ja jeder mit leiblichen Augen sehen, daß die Hexen im ,Macbeth' keinesweges durch die Lüfte fahren, sondern an Stricken hinaufgezogen werden. Weg auch mit der Phantasie! heißt es denn, wir halten es mit dem Handgreiflichen und genießen lieber tüchtiges hausbakkenes Brot als Austern und Champagner."100 Wieglebs ,Natürlicher Magie' - Das von dem Chemiker Johann Christian Wiegleb (1732-1800) in zweiter Auflage neu herausgegebene Werk "Joh[ann] Nic[olaus] Martius, Unterricht in der natürlichen Magie oder zu allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken, völlig umgearbeitet von Johann Christian Wiegleb..." (Berlin und Stettin 5782 ff.) gehörte zur Lieblingslektüre des jungen Hoffmann. ( in Wieglebs ,Magie' gelesen . . .", lautet eine Tagebucheintragung vom 2. Oktober 1803.) Vgl. auch die Entstehungsgeschichte der Erzählung "Die Automate", Band 4 unserer Ausgabe.Philidor - Ein Zauberkünstler und Geisterbeschwörer des 18. Jahrhunderts, der im Februar und März 1789 auch in Berlin "magische Experimente" vorgeführt und damit einen öffentlichen Skandal erregt hatte.Philadelphia - Jacob Philadelphia (geb. 5735), ein bekannter Zauberkünstler und Taschenspieler, dessen Name durch Georg Christoph Lichtenbergs "Anschlag-Zeddel im Namen von Philadelphia vom 7. Jenner 1777" überliefert worden ist.100 Cagliostro - Alessandro Graf Cagliostro (eigentlich Giuseppe Balsamo; 1743-179,), ein sizilianischer Bauer, der in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in ganz Europa als Verkündet von Geheimlehren, Goldmacher und Geisterseher auftrat.101 Antwort Shylocks: "Ja, um Schinken zu riechen..." - Shakespeare, "Der Kaufmann von Venedig" 1,3. Hoffmann zitiert wörtlich nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.103 Ignorantiam - ignorantia: (lat.) Unwissenheit. Sapientiam -sapientia: (lat.) Weisheit.104 Beers ,Musikalischen Krieg - Gemeint ist die aus dem Jahre 1701 stammende Schrift "Bellum Musicum oder Musikalischer Krieg" des Fürstlich Sächsisch-Weißenfelsischen Konzertmeisters Johannes Beet (oder Bähr; 1652-1700), die im Anhang zu dessen "Musikalischen Diskursen, durch die Principia der Philosophie deduziert. (Nürnberg 1719, postum) erneut abgedruckt war, und zwar unter dem Titel: "Der musikalische Krieg oder Die Beschreibung des Haupttreffens zwischen beiden Heroinen, als der Komposition und Harmonie, wie diese gegeneinander zu Felde gezogen, gescharmützieret und endlich, nach blutigem Treffen, wieder verglichen worden. Auf der Krieger-Nicolaischen Hochzeit-Freude den Herren Musicis zur beliebenden Kurzweil übergeben von dem zu Ende genannten Freunde".107 dem Bassanio gleich - Vgl. Shakespeare, "Der Kaufmann von Venedig" 111,2. Dort lauten die letzten beiden Verse auf dem von Bassanio gezogenen Zettel: Müßt Ihr Eurer Liebsten nahn, / Und sprecht mit holdem Kuß sie an!" (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.)109 abwarten, was geschieht! - Im Erstdruck schließt sich folgende Schlußpassage an: "Der alte rätselhafte Goldschmied soll noch in Berlin umherwandeln. Herr Wolf [der Zeichner und Kupferstecher Ulrich Ludwig Friedrich Wolf, 1772-5832] hat ihn in den Küpferchen, die dieser Geschichte [im "Berlinischen Taschenkalender"] einverleibt sind, so überaus gut getroffen, daß du, geliebter Leser, den seltsamen Mann, solltest du ihm irgendwo begegnen, auf der Stelle erkennen wirst. Bestätigen kann er, o mein Leser. dann von Mund zu Mund dir alles, was in der Geschichte von der ,Brautwahl' dir hin und wieder ganz unwahrscheinlich, ganz unglaublich vorgekommen sein sollte, und so würde der Erzähler von dem Vorwurf frei werden, den man ihm schon öfters gemacht, nämlich daß ihm manchmal allerlei närrisches phantastisches Zeug wie ein spukhafter Traum in den Sinn käme, was er denn so aufzutischen wisse, als habe es sich in der Tat begeben."110 die Lokalität noch lokaler zu machen, einige zelebre Namen hinzuzufügen - Vgl. die Entstehungsgeschichte der "Brautwahl" (S. 604 f.) sowie die mitgeteilten Lesarten des Erstdruckes.111 Märchen der Dschehezerade zum Muster zu nehmen - Vor allem in der französischen Literatur war es im 18. Jahrhundert üblich geworden, Märchen und selbst Erzählungen von philosophischer Relevanz ein orientalisches Gepräge zu geben. Vorbild war dabei die arabische Märchensammlung "Tausendundeine Nacht", die auch Hoffmann gekannt hat, und zwar in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1751-1826): "Tausendundeine Nacht. Arabische Erzählungen nach der französischen Übersetzung [Antoine] Gallands" (1781-1785).112 in Cyprians Manier - Cyprians Erzählungen haben sich bisher als diejenigen mit den meisten Wunderlichkeiten bzw. spukhaften Effekten erwiesen. Vgl. die Ottmar in den Mund gelegte Kritik an Cyprians "Hang zur Narrheit" und "wahnsinniger Lust am Wahnsinn" im Ersten Abschnitt der "Serapionsbrüder" (Band 4 unserer Ausgabe).Der unheimliche GastDie Erzählung, die Hoffmann - an die Zeitereignisse anknüpfend - vor dem Hintergrund der Befreiungskriege spielen läßt, ist im Laufe des Jahres 1818 konzipiert und niedergeschrieben worden. Dem abschließenden Rahmengespräch zufolge (vgl. S. 161) liegt dem Handlungsgeschehen eine tatsächliche Begebenheit zugrunde, deren biographischer Bezug jedoch nicht mehr rekonstruierbar ist. Dort wird auch die Ähnlichkeit der Geschichte mit dem 1813 entstandenen "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" (vgl. Band z unserer Ausgabe) ausdrücklich betont, und in der Tat weisen beide Texte nicht nur die gleiche Szenerie und Rollenverteilung auf, sondern auch dasselbe zentrale Motiv: das Gespenstische des Magnetismus als geheimnisvolles "psychisches Prinzip". Lediglich die Schlußpartien sind unterschiedlich: "Der Magnetiseur" endet tragisch, "Der unheimliche Gast" "glücklich".

Hoffmann knüpft mit der erneuten poetischen Gestaltung des damals "vielbesprochenen", aufsehenerregenden Themas - mit dem er sich bereits in mehreren seiner Werke auseinandergesetzt hatte - an das kritische Gespräch über den Magnetismus am Anfang des Dritten Abschnitts der "Serapionsbrüder" an, das auch den Grundtenor der Erzählung bestimmt: die Mystifikation dieser "dunkelsten aller dunklen Wissenschaften", sofern man "überhaupt den Magnetismus eine Wissenschaft nennen" darf, weil er "von der Regel alles menschlichen Seins und Lebens abweicht" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe, S. 315 bis 331 und die Anmerkungen dazu). Als Fachliteratur benutzte der Dichter wiederum, allerdings mit wachsendem Vorbehalt, den "Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel" (Berlin 1811) des Mediziners Karl Alexander Ferdinand Kluge (1782 bis 1844) sowie die Schriften "Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft" (Dresden 1808) und "Die Symbolik des Traumes" (Bamberg 1814) des romantischen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860).

"Der unheimliche Gast" erschien erstmals in "Der Erzähler. Eine Unterhaltungszeitschrift für Gebildete. Herausgegeben von Hartwig von Hundt-Radowsky" (Band 2, Berlin 1819). Das Stück wurde ein Jahr später mit nur geringfügigen Änderungen in den Dritten Band der "Serapionsbrüder"aufgenommen.115 die Strafe der Mutter - entartete Kinder - Hoffmann verwendet im folgenden Sentenzen aus Schuberts "Ansichten.. .", die an die irrationalistischen Tendenzen in den Lehren Schellings und seiner Nachfolger anknüpfen.die Luftmusik oder sogenannteTeufelsstimme auf Ceylon - Hoffmann bringt dieses Beispiel bereits in der Erzählung "Die Automate" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe, S. 422 und die dritte Anm. dazu).in Spanien -unter Wellington . . . Schlacht bei Viktoria - Im spanisch-portugiesischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Napoleonische Fremdherrschaft (1808-18 13) kämpfte auf der Seite der

Aufständischen ein von Sir Arthur Wellesley, Herzog von Wellington (1769-1852) befehligtes englisches Expeditionskorps, das den französischen Besatzungstruppen in der Schlacht bei Vittoria (21. Juni 1813) eine entscheidende Niederlage beibrachte und sie zum Rückzug aus Spanien zwang. Vgl. auch die Parallelstelle in "Der Zusammenhang der Dinge" (S. 474).116 Phänomen...elektrischen Ursprungs - Eine ähnliche nächtliche Naturerscheinung am "Kurischen Haff in Ostpreußen" beschreibt Hoffmann in der Erzählung "Die Automate" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe). Nach Schuberts "Ansichten. . ." werden solche "eigentümlichen Töne" durch "elektrische Meteore" hervorgerufen.119 regno di pianto - (ital.) das Reich der Klage. Vermutlich eine Verschmelzung von zwei Textstellen aus Dantes "Dwina commedia" (1472; Göttliche Komödie): "La regina dell' eterno pianto" ("Inferno" IX,44; Die Königin mit der ewigen Trauer) und doloroso regno" ("Inferno" XXXIV,28; Schmerzensreich).121 wie die Somnambule sich durchaus nicht ihres somnambulen Zustandes erinnert - Nach Kluges "Versuch. . .", wo es heißt: "Von alledem, was während des magnetischen Schlafes mit dem Kranken vorgenommen worden ist und was er in dieser Zeit wahrgenommen, gedacht, gesagt und getan hat, besitzt er im Wachen entweder nur eine sehr dunkle oder gar keine Rückerinnerung" (Paragraph 133).122 Vergebens...,mich auf den Traum zu besinnen - Nach Schuberts "Symbolik des Traumes", wo es heißt: "In einem gewissen Falle begann der innere Kampf beim plötzlichen Aufschrecken aus einem bedeutungsvollen Traume, dessen eigentlichen Inhalt der Erwachende nicht mehr wußte, der aber eine tiefe innere Wirkung zurückgelassen" (a. a. O., S. 180).125 als rafle sich jemand,ächzend und stöhnend, mühsam vom Boden empor - Anklang an Heinrich von Kleists Novelle "Das Bettelweib von Locarno", die Hoffmann, der die Kleistsche Erzählkunst bewunderte, besonders beeindruckt hat und auf die er in seinem Werk mehrfach anspielt. Vgl. auch S. 515.133 Kalaf...Turandot - Anspielung auf das satirische Märchenspiel "Turandot. Ein chinesisches tragikomisches Theatermärchen in fünf Akten" (1764) des italienischen Lustspieldichters Carlo Graf Gozzi (1720-1806), das Hoffmann in seinen Dichtungen mehrfach erwähnt (vgl. den Dialog-Aufsatz "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors"; Band 3 unserer Ausgabe). Hier bezieht er sich auf die Szene (1,3), in der Prinz Kalaf, durch das Bildnis der Prinzessin Turandot fasziniert, diese zu gewinnen beschließt, obwohl sie alle Freier hinrichten läßt, die ihre Rätsel nicht lösen können.135 wunderbaren Baum - Dieses bereits im "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" (Band I unserer Ausgabe) poetisch variierte Kuriosum aus dem Themenkreis des Mesmerismus (vgl. Band 4 unserer Ausgabe, die zweite Anm. zu S. 315) hat Hoffmann wiederum von Kluge übernommen, der in seinem "Versuch.. (Paragraphen 323-327) von der angeblichen Fähigkeit nicht tierischer Körper (Wasser, Glas, Metalle, Bäume) berichtet, magnetische Kräfte aufzunehmen und an dafür empfängliche Personen (Somnambule) weiterzugeben.136 eine schneeweiße Hand wurde sichtbar, die Kreise... beschrieb - Diese Manipulation des Magnetiseurs hat Hoffmann bereits im "Nachtstück" "Das steinerne Herz" (Band 3 unserer Ausgabe) beschrieben. Vgl. auch das Gespräch der Serapionsbrüder über Mesmerismus (Band 4 unserer Ausgabe, S. 315-331 und die Anmerkungen dazu).142 Der Krieg beginnt - von neuem - Napoleon I., nach seiner Abdankung (11. April 1814) auf die Mittelmeerinsel Elba verbannt, war am 1. März 1815 an der südfranzösischen Küste gelandet und am 20. März mit den zu ihm übergelaufenen Truppen wieder in Paris eingezogen. Daraufhin wurde auch die preußische Armee erneut mobil gemacht und unter dem Oberbefehl Blüchers nach Belgien entsandt, wo die französischen Streitkräfte inzwischen standen. Bei Waterloo wurde der Kaiser am 18. Juni 1815 von den vereinigten englischen und preußischen Verbänden vernichtend geschlagen.144 Der Feldzug schien erst dem Feinde günstig zu sein - In der Schlacht bei Ligny (16. Juni 1815), die der Entscheidungsschlacht bei Waterloo vorausging, erlitt die preußische Armee unter Blücher eine Niederlage.Die Hauptstadt des Feindes war genommen - Nach der Kapitulation der Franzosen (3. Juli) rückten die verbündeten Armeen am 7. Juli 5815 in Paris ein,146 als könne ich ohne ihn gar nicht leben, ja nur durch ihn denken empfinden - Nach Kluges "Versuch.. (Paragraph 83) wird durch die Manipulationen des Magnetiseurs bei einer in "magnetischen Schlaf" versetzten Person ein "vollkommener Grad der Unterwerfung" erreicht.149 jede Berührung könne ihr schädlich sein - Nach Kluges "Versuch.. .", wo es heißt (Paragraph 118): "Wird der Somnambul von einer fremden Person, vorzüglich aber von einer solchen, die ihm widrig ist, berührt, so erfolgen darnach mehr oder weniger Lähmungen und Krämpfe mit Blässe und Kälte in dem berührten Teile."158 Die Natur, die grausame Mutter - Vgl. die erste Anm. zu S. 115.wie sie beinahe in jeder Nacht vom dem Grafen sehr lebhaft und angenehm träume - Mit diesem wiederum auf Kluges Materialsammlung zurückgehenden Beispiel eines erzwungenen "Sympathieverhältnisses", das in ähnlicher Weise im "Fantasiestück" "Der Magnetiseur" (vgl. Band unserer Ausgabe) verwendet wird, macht Hoffmann auf die inhumanen Tendenzen des "tierischen Magnetismus" und dessen Fragwürdigkeit als "Heilmethode" aufmerksam.159 P-schen Schule - Puységurische Schule. Gemeint ist die Ende des 18. Jahrhunderts von Armand-Marc-Jacques de Chastenet, Marquis de Puységur (1751-1851) gegründete, aus der Pariser "Mutterschule" des Mesmerismus hervorgegangene sogenannte Dritte magnetische Schule oder "Harmoniegesellschafl der vereinigten Freunde" in Straßburg (vgl. "Der Magnetiseur" und die Anmerkungen dazu; Band unserer Ausgabe). Ähnliche Verbindungen existierten in mehreren französischen Großstädten sowie in Turin und auf Malta.einer Wissenschaft, .. . deren Namen ich aber nicht nennen mag - Gemeint ist die pseudowissenschaftliche Lehre vom "tierischen Magnetismus" (Mesmerismus; vgl. Band 4 unserer Ausgabe, die zweite und dritte Anm. zu S. 355).161 echte Rhadamanthen - Anspielung auf die griechische Sage vom kretischen König Rhadamanthys, der wegen seines unbeugsamen Gerechtigkeitssinnes nach dem Tode Richter in der Unterwelt wird.162 wie Minerva aus Jupiters Haupt - Minerva, die italische Göttin des Handwerks und der Künste, galt im Rom der Kaiserzeit als Entsprechung der griechischen Weisheitsgöttin Athene, die nach mythologischen Vorstellungen aus dem Haupte des Zens (Jupiter) hervorgegangen war.ein Theaterdichter, der nicht mehr auf der Erde wandelt... - Gemeint ist der mit seinen zahlreichen, meist effektvoll angelegten bürgerlichen Rühr- und Unterhaltungsstücken erfolgreiche Bühnenschriftsteller August Kotzebue (geb. 1761), der als angeblicher Agent des russischen Zaren am 23. März 1819 von dem Jenaer Burschenschaftler Karl Ludwig Sand ermordet wurde.Kanevas - In der italienischen Stegreifkomödie Bezeichnung für die Verteilung des Stoffes auf die Akte und Szenen, innerhalb derer die Schauspieler dann frei improvisieren konnten.163 "Deodata"...ein wackrer Komponist - August Kotzebues Singspiel "Das Gespenst. Romantisches Schauspiel in vier Akten, mit Chören und Gesängen" (1808) wurde - in der Vertonung des Berliner Komponisten und Kapellmeisters Bernhard Anselm Weber (1766-1821) - am 10. März 1810 als "heroisches Schauspiel" unter dem Titel "Deodata" in der preußischen Hauptstadt uraufgeführt. Hoffmann selbst hatte (laut Tagebucheintragung vom 2. März 1809) für die ("total mißratene") Bamberger Aufführung des Singspiels eine Ouvertüre und mehrere Gesänge geschrieben, deren Partituren jedoch verlorengegangen sind. Zu seinem kritischen Urteil über den "aus verschiedenen Schauspielen und Tragödien zusammengeflickten Text" des Stückes vgl. die in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" vom 6. Oktober und 2. November 1814 erschienene Rezension über den "Opern-Almanach des Hrn. A. y. Kotzebue. Leipzig... 1815" (Band 9 unserer Ausgabe).in dem Vorwort - Kotzebue schrieb in der Vorrede zu seinem Singspiel: "Das folgende Schauspiel ist ein Versuch, den Gesang so herbeizuführen, daß es wenigstens wahrscheinlich sei, daß die handelnden Personen wirklich in diesem Augenblick hätten singen können. Daher findet man hier weder Arien noch Duetts und dergleichen Lächerlichkeiten, welche nur die Gewohnheit uns erträglich macht.""Laß ruhn, laß ruhn die Toten" - Zitat aus der Ballade "Lenore" (1774) von Gottfried August Bürger (1747-1794).163 wie er es...seinen Rezensenten anzutun pflegte - Bei Kotzebue waren wütende Ausfälle gegen seine Rezensenten keine Seltenheit; darüber hinaus soll es sogar zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Von der außerordentlichen Schärfe. mit der er seine Kritiker abfertigte, zeugt sein "Fragment über den Rezensentenunfug" (1797).Sechster Abschnitt164 ein kleines Theaterstück - Gemeint ist wahrscheinlich eines der beiden einaktigen Lustspiele von Karl Wilhelm Salice-Contessa (1777-1825), die in der Zeit der "Serapionsabende" (vgl. die Entstehungsgeschichte der "Serapionsbrüder", Band 4 unserer Ausgabe) in Berlin uraufgeführt wurden: "Der Schatz" (am 13. Juni 1817; gedruckt 18,8) oder "Ich bin mein Bruder" (am 24. April 1819; gedruckt 1819).166 Schiller...,als er den Wallenstein darstellen sah - Fleck - Schiller war im Mai 1804 nach Berlin gereist und hatte einer Aufführung seiner "Wallenstein"-Trilogie beigewohnt. Der Schauspieler Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757-1801) war damals bereits verstorben, und die Rolle des Wallenstein wurde von August Wilhelm Iffland (1759-1814) gespielt. Gewiß ist Hoffmanns Irrtum darauf zurückzuführen, daß bei ihm noch der Eindruck jener "Wallenstein"-Aufführung nachwirkte, die er während seines ersten Berliner Aufenthaltes (1798-1800) besucht und bei der Fleck in der Hauptrolle agiert hatte. (Vgl. auch den Dialog-Aufsatz "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors"; Band 3 unserer Ausgabe.) Die erwähnte angebliche Äußerung Schillers läßt sich nicht eindeutig belegen.168 Hybla - Im Altertum Beiname mehrerer griechischer Siedlungen in Sizilien (nach Hyblon, König der Sikiler). Die größte von ihnen, Megara Hybla, war berühmt wegen der Vorzüglichkeit des dort gehandelten Honigs.169 die Oper, die er vor ein paar Jahren auf das Theater brachte -Gemeint ist Hoffmanns 1814 beendete Oper "Undine" (nach einem Libretto von Friedrich Heinrich Karl Baron de la Motte Fouqué), die am 3. August 1816 im Königlichen Schauspielhaus in Berlin uraufgeführt wurde.169 Maestro - (ital.) Meister. Gemeint ist der Berliner Hofkapellmeister Bernhard Romberg (1767-1841), der die Uraufführung der "Undine" dirigierte.170 Voltaire Zaire" - Die Tragödie wurde 1732 uraufgeführt.171 Voltaire Siècle de Louis XIV." -Vgl. S. 628.Das Fräulein von ScudériFür die im März 1818 begonnene und wohl in der ersten Hälfte des gleichen Jahres vollendete Kriminalnovelle hat Hoffmann ein umfangreiches Quellenstudium betrieben. Im Anhang der Chronik "Dc sacri Romani imperii libera civitate Noribergensi commentatio" (1697; Bericht über Nürnberg, Freie Stadt des Heiligen Römischen Reiches) des Altdorfer Geschichtsprofessors und Bibliothekars Johann Christoph Wagenseil (1633-1708), die ihm bereits als Materialgrundlage für seine Erzählungen "Der Kampf der Sänger" und "Meister Martin der Küfner und seine Gesellen" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe) gedient hatte, fand der Dichter eine Anekdote, in deren Mittelpunkt die französische Schriftstellerin Madeleine de Scudéry (vgl. die dritte Anm. zu S. 57! und die erste Anm. zu S. 185) stand und die die zahlreichen, von aufsehenerregenden Kriminalprozessen begleiteten Mord- und Skandalaffären in den privilegierten Pariser Adelskreisen zur Zeit Ludwigs XIV. ins Blickfeld rückte. Hoffmann variierte diese Anekdote, baute ihren historischen Hintergrund aus und verknüpfte das Ganze poetisch reizvoll mit der von ihm erfundenen Fabel vom Goldschmied Cardillac, der aus Gier nach den selbstverfertigten kunstvollen Geschmeiden zum Mörder wird.Um eine realistische und möglichst detailgetreue Schilderung der historischen und lokalen Verhältnisse bemüht, hat der Autor nach weiteren "Denkwürdigkeiten" und Hilfsquellen gesucht. So schrieb er am 28. März 1818 an den Berliner Leihbibliothekar Friedrich Kralowsky: "Mit dem verbindlichsten Dank sende ich Ihnen, verehrtester Freund! die ,Meierschen Briefe' und ,Paris, wie es war' pp. zurück, aus denen ich einige Notizen entnommen. — Sollten Sie nicht die Übersetzung von Voltaires ,Siecle de Louis XIV' besitzen, so gibt es ein paar Romane von der Frau von Genus, die im Zeitalter Ludwig des Vierzehnten spielen, der eine ist, ni fallor [wenn ich mich nicht irre], die ,Geschichte der La Vallière' pp. Außerordentlich würden Sie mich verbinden, wenn Sie mich mit einem solchen Werklein aus der Verlegenheit ziehen könnten." Bei den genannten Werken handelt es sich zum einen um Friedrich Lorenz Meyers "Briefe aus der Hauptstadt und dem Innern Frankreichs unter der Konsularregierung" (Stuttgart 1802), zum andern entweder um "Paris, wie es war und wie es ist . . in einer Reihe von Briefen eines reisenden Engländers. Aus dem Englischen übersetzt, mit Erläuterungen und einer Einleitung versehen" (3 Bände, Leipzig 1805/06) oder "Paris, wie es war, oder Gemälde dieser Hauptstadt und ihrer Umgebung in den Jahren 1806 und 1807" (Chemnitz 1810). Am gewinnbringendsten waren für Hoffmann indes die Exzerpte aus Voltaires kulturhistorischem Werk "Siecle de Louis XIV" (zuerst anonym, Frankfurt 1751), wobei nicht mehr feststellbar ist, welche von den zahlreichen Auflagen bzw. Übersetzungen der Dichter benutzt hat. (Nach Carl Georg von Maassen handelt es sich um eine der späteren, mit Zusätzen und Anmerkungen versehenen Editionen. die der in Genf erschienenen französischen Ausgabe von 1778 nachgedruckt waren.) — Die dem Hof- und Salongeschmack entsprechenden sentimentalen Romane der französischen Schriftstellerin Stéphanie-Félicité Gräfin von Genus (1746-18 30), "Duchesse de la Vallière" (Die Herzogin von Lavallière; deutsch 1804) und "L'Histoire de Madame de Maintenon" (Geschichte der Frau von Maintenon; deutsch 5807), lieferten dem Autor lediglich einige Arabesken, u. a. zur Charakterisierung der Mätressen des Königs. — Um die von Gewalttätigkeiten geprägte Atmosphäre noch anschaulicher darstellen zu können, zog Hoffmann außerdem die "Causes célebres et intéressantes" (1734 ff.) des französischen Gelehrten François Gayot de Pitaval (1673-1743) heran, und zwar wahrscheinlich die von Carl Wilhelm Franz besorgte deutsche Ausgabe ("Gayot von Pitaval, Sonderbare und merkwürdige Rechtsfälle"; 4 Teile, Jena 1782-1792); hier fand er alle erforderlichen Informationen über die berüchtigte Giftmischerin Brinvilliers (vgl. die zweite Anm. zu 5. 177).

Die vom Lesepublikum begeistert aufgenommene Pariser Geschichte erschien erstmalig im Herbst 1819 im Frankfurter "Taschenbuch für das Jahr 5820. Der Liebe und Freundschaft gewidmet". Sie wurde mit nur unwesentlichen Änderungen 1820 in den Dritten Band der "Serapionsbrüder" aufgenommen.171 Straße St. Honoré - Rechts von der Seine, in der Nähe des Louvre,

171 Magdaleine von Scudéri, bekannt durch ihre anmutigen Verse - Madeleine de Scudéry (1607-1701), französische Schriftstellerin, die in den Kreisen ihrer Verehrer als "Sappho der Pariser Salons" galt. (Um 5650 eröffnete sie einen eigenen, sogenannten "Blauen Salon".) Bekannt wurde sie vor allem durch ihre umfangreichen, im Stil der preziösen Literatur abgefaßten galanten Gesellschaftsromane, in denen zeitgenössische Personen in historischer Verkleidung agieren. Ihre "gefälligen Verse", die Voltaire in seinem "Siecle de Louis XIV" lobt, sind heute längst vergessen. Maintenon - Françoise d'Aubigné, Marquise de Maintenon (1635 bis 1719), zunächst Ehefrau des Dichters Paul Scarron (1610 bis 1660), später Mätresse und seit 1684 Gemahlin Ludwigs XIV. Sie übte seit 1680 im Sinne einer klerikal-reaktionären Politik bedeutenden Einfluß auf die Staatsgeschäfte aus und war maßgeblich beteiligt an allen wichtigen Entscheidungen der französischen Krone (z. B. an der Aufhebung des Ediktes von Nantes, 1685).172 "Clelia" - "Clélie. Histoire Romaine" (1654-1660), zehnbändiger Römerroman von Madeleine de Scudéry.174 Greveplatz - Der im östlichen Teil von Paris, nahe der Seine gelegene Platz (heute: Place de l'Hotel de Ville) diente damals als Hinrichtungsstätte.Marechaussee - Maréchaussée: Die militärisch organisierte, berittene Polizeitruppe des Ancien régime (1790 aufgelöst).175 Desgrais - Der Name ist historisch belegt in den "Causes célebres . ." des Pitaval (vgl. S. 628).176 Gerade zu der Zeit war Paris der Schauplatz der verruchtesten Greueltaten - Die folgende authentische Schilderung stützt sich auf Voltaires "Zeitalter Ludwigs XIV." (vgl. S. 628).177 GlaserExili - Sowohl der aus Basel stammende Pariser Hofapotheker Christoph Glaser als auch der in Paris ansässige italienische Alchimist Exili (oder Egidi) waren in die skandalösen Giftmordprozesse gegen die Brinvilliers verwickelt. Beide werden bei Voltaire und bei Pitaval mehrfach erwähnt.177 Godin de Sainte Croix - Jean-Baptiste de Godin, genannt Seigneur de Sainte-Croix, Rittmeister im Kavallerieregiment Trossi. Seine Gefangenschaft in der Bastille und die Umstände seines Todes, die zur Aufklärung der ganzen Serie von Verbrechen führten, werden in der Darstellung des Pitaval bezeugt.177 Brinvillier - Marie-Madeleine Marquise de Brinvilliers (geb. 1630), die ihren Vater und ihre zwei Brüder vergiftet hatte, um sich das Familienerbe anzueignen, wurde nach einem aufsehenerregenden Prozeß am 16. Juli 1676 auf dem Greveplatz hingerichtet.Zivil-Lieutnant - Gerichtsbeamter am Königlichen Gerichtshof.178 Hotel-Dieu - (franz.) Krankenhaus. Gemeint ist das Pariser Armen- und Obdachlosenasyl.la Chaussee - Einer der Helfershelfer des Giftmörders Sainte-Croix; er wurde am 4. März 1673 zum Tode verurteilt.poudre de succession - (franz.) Erbschaftspulver. Vgl. die zweite Anm. zu S. 180.180 Chambre ardente - (franz.) Brennende Kammer; 1680 eingesetzter außerordentlicher Gerichtshof für todeswürdige Verbrechen; benannt nach den Fackeln. die den mit schwarzem Tuch ausgeschlagenen Verhandlungssaal (im Arsenal bei der Bastille) beleuchteten.la Voisin - Catherine Voisin, die nach Pitavals Bericht gegen Bezahlung Mordaufträge übernommen und mit Hilfe des sogenannten Successionspulvers zahlreiche Menschen vergiftet hatte, wurde 1680 zusammen mit ihren "Spießgesellen", den Geschwistern Vigoureux und dem Priester le Sage, auf dem Greveplatz verbrannt.Louvois - François-Michel le Tellier, Marquis de Louvois (1641 bis 1691), seit 1668 Kriegsminister Ludwigs XIV.; gewann als Kanzler von Frankreich (seit 1677) mit seiner auf die Stärkung der Zentralgewalt gerichteten Innen- und Außenpolitik (u. a. Militärreformen) einen großen Einfluß auf den König und stand bei diesem in hoher Gunst.182 Argenson - Marc-René de Paulmy, Marquis d'Argenson (1652 bis 1721), seit 1697 Leiter und Reorganisator der Pariser Polizei; er schuf als erster eine straff organisierte und zentral geleitete Polizeitruppe (Wachmannschaften zu Fuß und zu Pferde) im Dienste der absolutistischen Staatsmacht.183 Marquis de la Fare - Ein von Hoffmann willkürlich gewählter Name, der in Voltaires "Siecle de Louis XIV" in anderem Zusammenhang vorkommt.Straße Nicaise - Carl Georg von Maassen vermutet, daß Hoffmann mit der Wahl dieser am rechten Seine-Ufer gelegenen (heute nicht mehr existierenden) Straße als Schauplatz der geheimnisvollen Morde auf ein hier erfolgtes (mißglücktes) Sprengstoff-Attentat auf den Ersten Konsul Napoleon Bonaparte anspielen wollte, das als "Affaire de la rue Nicaise" weithin bekannt geworden war und diese Gegend in Verruf gebracht hatte.185 ein Gedicht ... der gefährdeten Liebhaber ... - In Wagenseils Chronik, der Hoffmann diese Anekdote entnommen hat (vgl. S. 627), heißt es (S. 561 ff.): "Es hatte ein Bel'houmor [Spaßvogel] eine Supplikation in Versen gleichsam an den König aufgesetzet im Namen aller Verliebten zu Paris. ihn bittend: er möchte sich doch gefallen lassen, denen nächtlichen Beuteischneidern einen Einhalt zu tun und sie aus der Stadt zu jagen, damit man ohngehindert denen Mätressen die schuldige Aufwartung leisten könne..." Nachdem "diese Bittschrift. deren Autoren man nicht erfahren können, ... einige Tage in Paris war herumgetragen worden, so kam, als im Namen der Beutelschneider. eben auch an den König, in Versen eine Exzeptionschrift herfür, von der man aber bald in Wissenschaft kommen, daß die Fräulein von Scudéry solche aufgesetzet. Hie wurde nun von den Beutelschneidern eingebracht, daß eben die Galanen keine Ursach hätten, sich groß zu beklagen, sintemalen sie die Zeit wohl wüßten in acht zu nehmen und unter den Fürwand, daß die Gassen zu Nachts wegen der Beutelschneider nicht sicher, nur desto früher zu ihren Mätressen gingen und desto länger bei ihnen blieben. Zudem, wann man einen solchen Galan ohngefähr antreffete, so habe er ganz nichts bei sich als etwan ein Schnupftuch, ein Haarband und einen Beutel, nicht wohl mit schlechter Silbermünz angefüllet. Der Schluß war, daß der König angeflehet wurde, als der allergerechteste Richter dieses billige Urteil zu fällen: ,Un amant, qui craigne [craint] les voleurs, / N'est point digne d'amour [Ein Liebhaber, der die Diebe fürchtet, ist der Liebe nicht würdig]." Wagenseil berichtet weiter, daß wenige Tage später ein Abgesandter der "löblichen Gesellschaft der Beutelschneider" im Haus der Scudéry erschienen sei und sich im Namen seiner Kumpane durch Übergabe eines "Körblein" — ein goldenes Armband, eine goldene Uhr und einen Beutel mit zwölf Pistolen (Goldstücken) enthaltend - "gebührend" dafür bedankt habe, "daß sie ihre Vertretung bei dem König übernehmen und die wider sie eingegebene Klagschrift so nachdrücklich beantworten wollen..185 wie Herkules die Lernäische Schlange - Nach der griechischen Sage mußte der Heros Herakles (lat. Hercules) im Dienste des Königs Eurystheus von Mykene zwölf schwere und gefährliche Arbeiten verrichten, darunter die Tötung der Hydra, einer neunköpfigen Wasserschlange bei der Quelle Lerna in Argos (Lernäische Schlange).wie Theseus den Minotaur - Der sagenhafte Nationalheld der Athener, Theseus, bezwang den im Labyrinth bei Knossos auf Kreta gefangengehaltenen Minotauros, ein Ungeheuer in Gestalt eines Menschen mit Stierkopf.186 Maintenon -Frömmigkeit - Die Marquise de Maintenon (vgl. die dritte Anm. zu S. 171) galt bei ihren Zeitgenossen als strenggläubige (bigotte) Frau."Un amant.. ." -Vgl. die erste Anm. zu S. 585.188 die eitle Montespan - Françoise-Athénais Marquise de Montespan (1641-1707), vor der Herzogin von Fontanges (vgl. die Anm. zu S. 195) und der Marquise de Maintenon (vgl. die dritte Anm. zu S. 171) die Geliebte Ludwigs XIV., war nach der Darstellung der Madame de Genlis (vgl. S. 628) eitel, hochmütig und prunksüchtig.190 René Cardillac - Vgl. S. 627. Der Name kommt in Voltaires "Siecle de Louis XIV" in einem ganz anderen Zusammenhang vor.193 Maintenon - Racine - Die Marquise de Maintenon galt als besondere Gönnerin des klassischen französischen Dramatikers Jean Racine (1639-1699), der ihr zu Ehren die Tragödie "Athalie" (1691) geschrieben hat.195 schön wie die Marquise de Fontange - Marie-Angélique de Scoraille de Roussille, Herzogin von Fontanges (1661-1681), nach der Montespan die Geliebte Ludwigs XIV., wird sowohl von Voltaire als von Genus als auffallende Schönheit ("bei mäßigen Geistesgaben") geschildert.197 Boileau-Despréaux - Nicolas Boileau-Despréaux (1636-1711), einflußreicher Satiriker und Ästhetiker; einer der Repräsentanten der klassischen französischen Literatur.198 Herzogin von Montansier - Julie-Lucine d'Angennes, Herzogin von Montausier (1607-1671), seit 1661 Erzieherin der königlichen Prinzen und Prinzessinnen. In Wagenseils Chronik wird eine Herzogin von Montausier als Urheberin des Streiches bezeichnet, der der Scudéry mit der Übergabe des Schmuckes gespielt worden war (vgl. die erste Anm. zu S. 185).198 Pontneuf - Point Neuf: Seine-Brücke südöstlich vom Louvre.199 la Chapelle - Jean de la Chapelle (eigentlich Claude-Emmanuel Lhuillier; 1628-1686), französischer Dramatiker, der Racine nachzuahmen versuchte.Perrault - Claude Perrault (1613-1688), mit Boileau-Despréaux verfeindeter französischer Arzt und Architekt; Schöpfer der Fassade des Louvre, die Voltaire in seinem "Siecle de Louis XIV" rühmt.201 Olivier Brusson - Hoffmann verlieh dieser von ihm erfundenen Gestalt ebenfalls den Familiennamen einer Person aus Voltaires "Siecle de Louis XIV", die jedoch zu den hier geschilderten Ereignissen in keinerlei Beziehung steht.Conciergerie - Berüchtigtes Pariser Untersuchungsgefängnis am Quai de l'Horloge.202 Serons, des berühmtesten Arztes in Paris - Hierfür gibt es keine exakt auszumachende historische Bezugsperson. Voltaire erwähnt einen Séron, Leibarzt des Kriegsministers Louvois (vgl. die dritte Anm. zu S. 180), der in den Verdacht geraten war, seinem Patron Gift verabreicht zu haben.218 Blenden - Nischen.224 Trianon - Das Lustschloß Grand Trianon im Park von Versailles, das Ludwig XIV., allerdings erst in den Jahren 1686 und 1687, für die Marquise de Maintenon (vgl. die dritte Anm. zu S. 171) erbauen ließ.228 Un amant... - Vgl. die erste Anm. zu S. 185.Henriette von England ... Meuchelmord - Henriette Anna, Herzogin von Orléans (1644-1670), die Tochter des englischen Königs Karl I., soll im Auftrag ihres Gemahls, des Herzogs Philipp von Orléans (des Bruders von Ludwig XIV.), vergiftet worden sein.234 Pierre Arnaud d'Andilly - Wiederum ein aus Voltaires Kulturgeschichte entnommener Name; dort ist die Rede von dem französischen Schriftsteller Robert Arnauld d'Andilly (1588-1674). "Le vrai peut quelquefois n'etre pas vraisemblable" — (franz.) ..Das Wahre muß nicht immer wahrscheinlich sein." Zitat aus dem Werk "L'Art poétique" (1674; Die Dichtkunst) von Boileau-Despréaux (vgl. die Anm. zu S. 197).235 Grafen von Miossens - Auch dieser Name kommt bei Voltaire in einem anderen Zusammenhang vor.237 St. Dionys -Vgl. die Anm. zu S. 34.240 Louvois -Vgl. die dritte Anm. zu S. 180.241 la Vallière - Louise-Françoise de la Baume le Blanc, Herzogin de la Vallière (1644-1710), Geliebte Ludwigs XIV. (vor der Marquise de Montespan; vgl. die Anm. zu S. 188); sie hatte sich 1675 auf Betreiben ihrer Nachfolgerin ins Kloster der Karmeliternonnen zu Paris zurückgezogen.242 Soeur Louise de la miséricorde - (franz.) Schwester Louise von der Barmherzigkeit; Klostername der Vallière.246 Bureau d'esprit - (franz.) Versammlungsort (Salon) geistreicher Menschen. Vgl. auch die zweite Anm. zu S. 171. von einem alten Schuster zu Venedig gelesen - Die Quelle für diese Anekdote konnte bisher nicht ermittelt werden.247 "Un amant qui craint" etc. - Vgl. die erste Anm. zu 5. 185. Besuch... in Paris - Wagenseil berichtet in seiner Chronik (vgl. S. 627) von dem Besuch, den er dem "Fräulein Magdalena de Scudéry zu Paris" abgestattet hat, und teilt den Inhalt des dabei geführten Gespräches mit, das sich mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache (der deutschen und französischen), Problemen der Übersetzung des Romans "Clélie", der Verskunst u. a. m. befaßt habe (a. a. O., S. 452-464).Courtoisie - mit der Wagenseilius von der alten geistreichen Dame spricht - Wagenseil beginnt seinen Bericht mit einer Aufzählung der Vorzüge der französischen Schriftstellerin, die sich durch "Tugend, hohen Verstand, vieler Sprachen Wissenschaft in der Welt" ausgezeichnet habe und die "auch dem Herkommen nach von einem fürnehmen edlen Haus entsprossen" sei.Gestirn der Dioskuren - Kastor und Polydeukes, die unzertrennlichen Zwillingssöhne des Zeus (Dioskuren), gelten nach der griechischen Mythologie u. a. als Beschützer der Seefahrer, denen sie als Zwillingsgestirn ("Gestirn der Dioskuren") hilfreich den Weg weisen.248 Ifflands "Jäger", als Erzählung bearbeitet - Das Schauspiel "Die Jäger. Ein ländliches Sittengemälde in fünf Aufzügen" von August Wilhelm Iffland (1759-1814) erschien 1785 in Berlin. Eine danach verfaßte Erzählung ist heute nicht mehr bekannt.249 eine wirkliche Begebenheit - Vgl. die Entstehungsgeschichte zu "Spielerglück" sowie den Bericht Theodors, S. 281-285 und die Anmerkungen dazu.SpielerglückDie dem "innersten Wesen und Geheimnis" der Spielsucht und ihren Folgen nachspürende Geschichte, deren moralische Tendenz von den zeitgenössischen Kommentatoren übereinstimmend gelobt wurde, ist gegen Ende des Jahres 1818 entstanden, und zwar als Beitrag für den von Friedrich Arnold Brockhaus in Leipzig herausgegebenen Almanach "Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1820". Wie immer arbeitete Hoffmann unter großem Zeitdruck. Die wiederholten Mahnungen des Verlegers beantwortete er am 25. Januar 1819 mit den folgenden Zeilen: "In diesem Augenblick erhalte ich Ew. Wohlgeboren letztes Schreiben und sende auf der Stelle wenigstens den Anfang meiner Erzählung, damit der Druck beginnen kann. — Das folgende gebe ich unfehlbar zur dienstags reitenden Post. — Ich wiederhole, daß meine Säumnis unverschuldet ist."Die prägnante Schilderung der Spielbank-Atmosphäre hat autobiographischen Bezug. Eine "höchst interessante Reise... durch einen Teil des schlesischen Gebürges", im Sommer 1798 von Glogau aus unternommen, hatte Hoffmann - zum ersten und letzten Male in seinem Leben - in Bad Warmbrunn an den Spieltisch gebracht. Die dort gewonnenen Eindrücke schildert er ausführlich in dem Gespräch der Serapionsbrüder, das sich an die Erzählung anschließt (vgl. S. 280 bis 285 und die Anmerkungen dazu). In späteren Jahren mag die Bekanntschaft mit den zum Stammtischkreis bei Lutter & Wegner gehörenden ehemaligen preußischen Offizieren Ferdinand Moritz Freiherr von Lüttwitz (1773-1831) und Friedrich Wilhelm D'Elpons (um 1785-1831), die sich beide als Schriftsteller und Theater- bzw. Literaturkritiker in Berlin betätigten und nach Aussagen von Zeitgenossen dem Glücksspiel verfallen waren, dem Dichter weitere Anregungen und Hinweise für seine Geschichte gegeben haben. Ebenso ist die Erinnerung an den Schauspieler Carl Friedrich Leo (1780-1824), den Hoffmann in seiner Bamberger Theaterzeit kennen- und schätzengelernt und der in Pyrmont, dem Schauplatz der vorliegenden Erzählung, sein gesamtes Vermögen verspielt hatte, nicht ohne Einfluß auf die Charakterisierung seiner literarischen Figur gewesen.

Die in den Dritten Band der "Serapionsbrüder" (1820) aufgenommene Textfassung weist gegenüber dem Erstdruck nur wenige, unwesentliche Veränderungen auf.249 Pyrmont - Hoffmann verlegt sein Spielbank-Erlebnis von Warmbrunn (vgl. die erste Anm. zu S. 282) nach dem niedersächsischen Badeort Pyrmont, wo, wie damals in den meisten repräsentativen Luxusbädern, öffentliche Spielsäle unterhalten wurden, die ihren Besitzern bedeutende finanzielle Gewinne einbrachten. Farobank - Faro, Pharo oder Pharao: Glücksspiel mit zwei französischen Kartenspielen (je 52 Blätter), benannt nach dem ursprünglich auf einem der Kartenbilder dargestellten ägyptischen Pharao. Der Bankhalter spielt mit dem einen Kartenspiel gegen vier Mitspieler (Pointeurs), die auf eine oder mehrere ihrer 13 Karten einen Geldbetrag gesetzt (pointiert) haben, indem er jeweils zwei Blätter seines Spiels (einen "Abzug") aufdeckt. Stimmt die erste aufgedeckte Karte mit einer der Pointeurs überein, so gewinnt der Bankhalter den entsprechenden Einsatz; ist die zweite identisch, gewinnt der betreffende Gegenspieler. Ein Durchgang des Spiels (26 Abzüge) wird als Taille bezeichnet. Das Pharospiel war, obwohl außerhalb der Badeorte verboten, zu Hoffmanns Zeit das am weitesten verbreitete Glücksspiel.anzukörnen - Durch Körner anlocken.251 kabbalistischen Berechnungen - Spekulationen mit Hilfe der Zahlen-und Buchstabensymbolik der Kabbala, einer jüdisch-mystischen Geheimlehre des Mittelalters, die in ihrer volkstümlichen Ausprägung zur Magie tendierte.

Ponteur - Vgl. die zweite Anm. zu 5. 249. Hoffmann schrieb bewußt "Ponteur" und "pontieren" ([die Karten mit Geld] verdecken; setzen) anstatt des gebräuchlicheren "Pointeur" und "pointieren" (punktieren; stechen).252 Taille -Vgl. die zweite Anm. zu 5. 249.Mein Herr, ich muß Sie bitten, sich einen andern Platz zu wählen. .. - Vgl. die Parallelstelle in dem von Hoffmann mehrfach zitierten Romanfragment "Der Geisterseher. Aus den Memoires des Grafen von O*U" von Friedrich Schiller. Dort heißt es: "Der Venetianer, der sie [die Bank] hielt, sagte dem Prinzen mit beleidigendem Ton, er störe das Glück, und er solle den Tisch verlassen" (Erstes Buch).258 gagne - perd - (franz.) gewinnt - verliert.262 Straße St. Honoré -Vgl. die erste Anm. zu S. 171.270 Malmaison - Schloß westlich von Paris; ursprünglich im Besitz des Kardinals von Richelieu. des leitenden Ministers von Ludwig XIII.281 in G. bei einem alten Onkel - Autobiographische Reminiszenz Hoffmanns an seinen Aufenthalt in Glogau (Juni 1796 bis August 1798), wo er im Hause seines Onkels, des Regierungsrates Johann Ludwig Doerffer (1743-1803), lebte und sich auf sein Referendarexamen (20. Juni 1798) vorbereitete. Freund dieses Onkels - Nach Hitzigs Angabe ("Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß", Berlin 1823, Teil I, S. 136) handelt es sich um einen "0. A. R. Rat J." (Oberamtsregierungsrat Jagwitz). amusable - (franz.) leicht zu unterhalten.282 ihn auf einer Reise nach einem Badeort zu begleiten - Hoffmann trat seine Reise ins Riesengebirge zusammen mit dem Oberamtsregierungsrat Jagwitz am 17. August 1798 an; er begleitete den kuriosen Freund seines Onkels bis Bad Warmbrunn, um dann allein nach Dresden weiterzufahren. Vgl. die Beschreibung der Reiseeindrücke und -erlebnisse im Brief an Theodor Gottlieb von Hippel vom 15. Oktober 1798 (Band so unserer Ausgabe).Maitre de plaisir - (franz.) Leiter geselliger Vergnügen; Festordner.283 Karten - biegen - Verschiedene Arten, die Karten zu biegen, symbolisierten beim Pharospiel die jeweilige Höhe des gesetzten Geldbetrages.285 Reise nach Dresden, Prag und Wien - In Wirklichkeit ging die Reise (57.—25. August 1798) nur bis Dresden.286 B. - Wahrscheinlich Bamberg, wo Hoffmann sich von September 1808 bis April 1813 aufgehalten hatte.287 Baron von R. - Eine historische Bezugsperson für die Gestalt dieses Sonderlings ist nicht auszumachen.wie der bekannte Baron Grotthus - Der in Bayreuth im Wahnsinn gestorbene preußische Oberst (seit 1784) Friedrich Wilhelm Carl Ludwig Baron von Grotthus (1747-1801) hatte versucht, die in seiner Familie erbliche Geisteskrankheit durch ständige ausgedehnte Fußmärsche zu bekämpfen. Hoffmann kannte dieses Beispiel aus dem Werk "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803) von Johann Christian Reil (1759-1813), das er oft benutzt hat.287 bekannten Virtuosen - Gemeint ist der Violinvirtuose und Konzertmeister Karl Möser (1774-1851), 1792-1806 und seit 1811 Kammermusiker in der Königlichen Kapelle in Berlin, der sich durch öffentliche Aufführungen von Streichquartetten, Sinfonien und Ouvertüren einen Namen machte.Baron von B., -Vgl. die folgende Entstehungsgeschichte.(Der Baron von B.]Etwa im November 1818 hatte sich Gottfried Härtel. der Inhaber des Leipziger Musikverlages Breitkopf und Härtel, an Hoffmann mit der Bitte gewandt, bald wieder einen Beitrag für die von ihm herausgegebene "Allgemeine Musikalische Zeitung" zu liefern. Als Antwort erhielt er folgendes Schreiben des Autors (vom 52. Januar 1819), dem bereits das Manuskript der Erzählung "Der Baron von B." beigefügt war: "Längst hätte ich, hochverehrtester Freund und Herr, Ihr gütiges Schreiben beantwortet, wäre es mir nicht darum zu tun gewesen, Ihnen gleich mit der Tat zu beweisen, mit welchem Vergnügen ich jetzt, da ich etwas mehr Muße gewonnen, Ihrem Wunsche gemäß bereit bin, für die ,Musikalische Zeitung' Aufsätze zu liefern. — In der Anlage erhalten Sie eine Kleinigkeit, die meines Bedünkens indessen doch Interesse genug hat, um aufgenommen zu werden. Der berühmte Violinspieler, von dem die Rede, ist der Konzertmeister Möser [vgl. die dritte Anm. zu S. 287], der Baron aber der bekannte Baron von Bagge, dessen Namen ich deshalb nicht ausschrieb, weil ich etwas mehr in die Geschichte hineingetragen, als sich historisch verantworten lassen möchte. Die Hauptsache ist buchstäblich wahr."Das um die Jahreswende 1818/19 entstandene humoristische Kabinettstück, in dem Hoffmann ein literarisches Porträt des kauzigen preußischen Kammerherrn Carl Ernst Baron von Bagge (1722-1791) zeichnet, zeugt von der Vorliebe des Dichters für die poetische Gestaltung von Sonderlingen. Seine biographischen Kenntnisse über den skurrilen Baron, der als reicher Kunstliebhaber und Mäzen in Paris und zuletzt in Berlin gelebt hatte, hat der Autor zwei Quellen entnommen: einem in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" vom 16. September 1801 (Nr. 51) veröffentlichten Aufsatz über die neuesten Ereignisse im Pariser Musikleben sowie dem schon öfter verwendeten "Historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler (Leipzig 1790-1792) von Ernst Ludwig Gerber. Der renommierte Musikschriftsteller schildert Bagge - der u. a. auch in dem Werk "Rameaus Neffe. Ein Dialog von Diderot" (von Goethe "aus dem Manuskript übersetzt", 1805) erwähnt wird - als einen "würdigen Dilettanten zu Paris um 1783, dessen Haus schon seit langer Zeit jedem braven Virtuosen offensteht und der die Vorzüge und das Eigene eines jeden aufs genaueste zu bestimmen weiß. Sein Instrument ist die Geige, die er auf seine eigene Art traktiert ." Im "Neuen historisch-biographischen Lexikon der Tonkünstler" (Leipzig 1812-1814) fügt Gerber noch hinzu: "Die eigene Art, womit er die Violin traktierte, bestand darin, daß er mit einem und dem nämlichen Finger auf der Saite herauf-und herunterglitt. Die berühmtesten Violinisten... gab er für seine Schüler aus und bezahlte ihnen die Lektionen, die er ihnen gab, sehr gut, wofür sie dann in seiner Manier spielen mußten

Härtel bestätigte am 10. Februar 1819 den Eingang des Manuskriptes und ließ die Erzählung anonym in der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" (Jahrgang XXI, Nr. so) vom 10. März 1859 drucken.

Bei der Aufnahme des Textes in den Dritten Band der "Serapionsbrüder" (1820) hat Hoffmann den Eröffnungs- und den Abschlußpassus des Zeitschriftendruckes in das vorausgehende bzw. nachfolgende Gesprächsstück eingegliedert, sonst jedoch nur geringfügige stilistische Veränderungen vorgenommen.288 Konzertmeister Haak - Carl Haak(e) (1751-1819), Violinist; 1796-1811 Konzertmeister der Königlichen Kapelle in Berlin. In Gerbers Tonkünstler-Lexikon wird er als "ein ganz vortrefflicher Geiger" bezeichnet, "dessen Intonation ganz rein" und dessen "Vortrag überhaupt von Wahrheit und Ausdruck beseelt" gewesen sei, wobei er sein "Adagio einzig" gespielt habe.Duport - Jean-Louis Duport (1749-1819), französischer Cellist und Violinist; 1789-1806 Mitglied der Königlichen Kapelle in Berlin.Ritter - Wahrscheinlich der Fagottist Georg Wenzel Ritter (1748-1808), der zur gleichen Zeit wie Haak und Duport bei der Königlichen Kapelle in Berlin angestellt war.291 Stamitz - Karl Stamitz (1746-1801), Komponist und Violinist; hervorragender Vertreter der Mannheimer Virtuosenschule, den

Hoffmann bereits in der Erzählung "Rat Krespel" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe) erwähnt. "Stamitz ging... um das Jahr 1770 nach Paris, wählete daselbst auf Anraten des Barons Bagge die Bratsche und Viol d'amour zu seinen Konzertinstrumenten und erhielt sich daselbst viele Jahre nacheinander, teils durch sein ausdrucksvolles und meisterhaftes Spiel und teils durch seine gefälligen Kompositionen, in dem allgemeinen Beifall. .." (Gerber).291 Viol d'amour - Viole d'amour: (franz.) Liebesgeige; ein der sogenannten Altgambe (Viola da gamba) ähnelndes Streichinstrument.einen echten Antonio Stradivari - Die von Antonio Stradivari (1644-1737) aus Cremona gebauten Geigen, Bratschen und Violoncelli genießen den Ruf höchster Vollkommenheit.292 Hochzeitscarmen -Hochzeitsgedicht oder -lied. Granuelo - Italienischer Geigenbauer aus der ersten Hälfte des 57. Jahrhunderts.Tartini -Giuseppe Tartini (1692-1770), italienischer Komponist und Violinvirtuose. Hoffmann erwähnt ihn bereits in der Erzählung "Rat Krespel" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe).Nardini - Pietro Nardini (1722-1793), italienischer Violinvirtuose und Komponist, Schüler Tartinis; 1753-1767 Konzertmeister in Stuttgart, seit 1770 erster Violinist und Hofkapellmeister in Florenz; er gehörte zu den profiliertesten Geigenspielern seiner Zeit.294 Corelli - Arcangelo Corelli (1653-1713), italienischer Violinvirtuose und Komponist musikgeschichtlich bedeutender Violin-Sonaten. Hoffmann erwähnt ihn bereits im ..Kreislerianum" "Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden" (vgl. Band I unserer Ausgabe).Pugnani - Gaetano Pugnani (1731-1798), italienischer Violinvirtuose und Komponist, Schüler Tartinis. Während seiner zahlreichen Konzertreisen (1754-1770) hielt er sich auch kurze Zeit in Deutschland auf.Appoggiamento - Bezeichnung für einen musikalischen Vortrag, bei dem die Töne durch Herüberziehen bzw. Verschmelzung miteinander verbunden werden.Geminiani - Francesco Geminiani (um 1680-1762), italienischer Komponist und Violinvirtuose, Schüler Corellis; Verfasser der ersten bedeutenden Violinschule. In Paris lebte er von 1749 bis 1755.294 tempo rubato - (ital.) geraubtes Tempo. Gemeint sind Veränderungen des vorgeschriebenen Tempos, die den Ausdruck des Stückes steigern sollen.Giardini - Felice Giardini (1716-1796), italienischer Violinvirtuose; gastierte 1750 in Berlin, wo er "durch das Feuer seiner Phantasie und durch seinen leichten und angenehmen Vortrag" begeisterte (Gerber).295 Jomelli - Niccola Jomelli (oder Jommelli; 1714-1774), italienischer Komponist; er schuf Opern und kirchenmusikalische Werke.der ihn aus seinem Wahnsinn weckt durch eine tüchtige Ohrfeige - Die hier berichtete Anekdote fand Hoffmann in Gerbers "Neuem historisch-biographischem Lexikon der Tonkünstler", wo es heißt: "In Neapel erhielt er [Giardini] einen Platz im Opernorchester als Ripienist [Ausfüllen. Hier machte er sich nun zum angelegensten Geschäfte, alles, was ihm vorkam, zu variieren und jeden Satz mit Manieren zu verbrämen. ,Nichtsdestoweniger', erzählte er selbst, ,erwarb ich mir durch diese Ungereimtheiten bei den Unwissenden ungemeine Hochachtung. Eines Abends aber, als eine Oper von Jomelli aufgeführt wurde, kam dieser ins Orchester und setzte sich - neben mich. Ich beschloß sogleich, den Maestro di Cappella eine Probe von meiner Kunst und meinem Geschmacke hören zu lassen, und gab meinen Fingern und närrischen Einfällen in dem nächsten Ritornelle zu einer pathetischen Arie vollen Spielraum. Schon hatte ich eine Zeitlang sein beifälliges Bravo erwartet, als er mir mit einer derben Ohrfeige lohnte. Nie habe ich in meinem Leben von einem großen Meister eine bessere Lektion empfangen."Lolliein fataler Luftspringer, kann kein Adagio spielen - Antonio Lolli (um 1730-1802), technisch versierter italienischer Violinvirtuose. Gerber berichtet in seinem Tonkünstier-Lexikon: "Man nennt ihn nur den musikalischen Luftspringer. Er erklettert Höhen auf seiner Geige, die vor ihm kein Virtuose erreicht hat. Auf der andern Seite ist er durch seine Launen, nach welchen er sich an kein Zeitmaß bindet, für ein Orchester völlig unbrauchbar... Man soll auch noch nie ein regelmäßiges Konzert von ihm gehört haben . ." Die Bitte, ein Adagio zu spielen, soll Lolli einmal mit der Bemerkung ausgeschlagen haben: "Ich muß Ihnen sagen, daß ich aus Bergamo gebürtig bin. In Bergamo sind wir alle geborne Narren, und ich bin einer von den vornehmsten daraus."295 Viotti - Giovanni Battista Viotti (1755-1824), italienischer Violinvirtuose und Komponist, Schüler Pugnanis; nach ausgedehnten Konzertreisen durch Europa 1791/92 Direktor eines eigenen Theaters und 1819-1822 der Großen Oper in Paris.Kreutzer -Rodolphe Kreutzer (1766-1831), französischer Violinvirtuose und Komponist, Schüler von Karl Stamitz; seit 1801 Soloviolinist und Konzertmeister, seit 1816 erster Kapellmeister an der Pariser Großen Oper; Mitherausgeber der von Hoffmann im Auftrag des Leipziger Musikverlages Breitkopf und Härtel übersetzten Violinschule des Pariser Konservatoriums. Durch ausgedehnte Konzertreisen wurde er auch in Deutschland bekannt und gefeiert. Beethoven widmete ihm seine Violinsonate Op. 47, die sogenannte "Kreutzer-Sonate".Giarnovichi -Ivan Marie Jarnovc, genannt Giovanni Mane Giornovicchi (1740 oder 1745-1804), kroatischer Violinvirtuose, Schüler Louis; wirkte hauptsächlich in Paris, vorübergehend auch in Berlin und Potsdam. Nach Gerbers Tonkünstler-Lexikon soll er sich durch streitsüchtiges und anmaßendes Auftreten viele Feinde gemacht haben.Rode - Pierre Rode (1774-1830), französischer Violinist und Komponist, Schüler Viottis; seit 1797 Lehrer am Pariser Konservatorium und Konzertmeister der Großen Oper; Mitherausgeber der von Hoffmann übersetzten Violinschule. Der Dichter erwähnt Rode, der 1811 in Bamberg gastiert hatte, bereits im "Kreislerianum" "Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe).296 Durand -Auguste-Frédéric Durand, eigentlich Duranowski (geb. um 1770), polnischer Violinist, in Paris Schüler Viottis; konzertierte 1794/95 in Deutschland.297 Antonio Amati - Italienischer Geigenbauer (1555-1638), einer der Söhne von Andrea Amati (um 1520 bis um 1578), dem Begründer der berühmten Geigenbauerwerkstatt in Cremona.298 Frosch - Das Griffende beim Bogen der Streichinstrumente, womit die Spannung der Bogenhaare eingestellt wird.300 wie in Fouqués "Undine" der Spukgeist Kübleborn durch das Fenster in die Fischerhütte guckt - Anspielung auf eine Szene am Ende des Sechsten Kapitels von Fouqués Märchenerzählung "Undine" (1811), deren Dialog-Fassung Hoffmann 1812-1814 vertont hatte: Während der Trauung des Ritters Huldbrand mit der Nixe Undine schaut Kühleborn durch das Fenster der Fischerhütte, der die bei den Menschen lebende Undine (seine Nichte) im Auftrag der Wassergeister überwacht.Siebenter Abschnitt305 unser Meteorolog -- bat einen hellen freundlichen Spätherbst verkündigt - Anspielung auf die völlig fehlgeschlagene Wetterprognose des Berliner Professors Dittmar für den Herbst 1820; anstelle der vorausgesagten Schönwetterperiode herrschten abwechselnd heftiger Frost, Tauwetter und Regen.307 einen andern jungen Mann - Theodor = Hoffmann.308 Calembours - Wortwitze bzw. Wortspiele (Kalauer), wobei die Pointe durch die verschiedene Bedeutung gleichlautender Worte zustande kommt.309 Sarastro - in den Wagen zu steigen - In Mozarts Oper "Die Zauberflöte" (1791) erscheint der Oberpriester Sarastro gegen Ende des Ersten Aufzuges (18. Szene) auf einem von sechs Löwen gezogenen Triumphwagen.unser ehrliche D. ... — Wahrscheinlich Anspielung auf den mit Hoffmann befreundeten Schauspieler Ludwig Devrient und dessen Bravourrolle als Stutzer Pastoureau in dem Lustspiel "Die Brüder Philibert" des französischen Bühnendichters Louis-Benât Picard (1769-1828).le rat - (franz.) die Ratte.la roue - (franz.) das Rad.les barbares - (franz.) die Barbaren.310 Pagliasso - pagliaccio: (ital.) Spaßmacher, Hanswurst.wie jener Stutzer in Rabeners "Traum von abgeschiedenen Seelen" -Anspielung auf eine Textstelle in der vierbändigen "Sammlung satirischer Schriften" (1751-1755) von Gottlieb Wilhelm Rabener (1714-1771), wo unter der Überschrift "Ein Traum von der Beschäftigung der abgeschiednen Seelen" u. a. von einem Stutzer die Rede ist, der sich im "Jenseits"unglücklich fühlt, weil "sein Absterben.., so plötzlich und unvermutet gekommen" ist, "daß er in der Ei! weder Uhr noch Stockband, noch Tabaksdose mit sich genommen" hat: jene drei Dinge, denen er zu Lebzeiten seine Beliebtheit in Damengesellschaften und seinen "ganzen Witz" verdankte.311 Spaniol - Eine feine Sorte von Schnupftabak.alten humoristischen Onkel - Gemeint ist Hoffmanns Großonkel, der Justizrat Christoph Ernst Voeteri (1722-1795), dem der Dichter bereits in dem "Nachtstück" "Das Majorat" (vgl. Band 3 unserer Ausgabe) ein Denkmal gesetzt hat.312 Johann, die Teller weg!... - Das Vorbild zu dieser Anekdote findet sich im "Don Quijote" (1605 und 1615) von Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616). Dort wird der Diener Sancho Pansa in ähnlicher Weise um seine Eß- und Trinkfreuden geprellt (Zweiter Teil, Neuntes Buch, Kap. 14; nach der Übersetzung von Ludwig Tieck).313 im nächsten Lustspiel Gebrauch machen - Carl Wilhelm Salice-Contessa (Sylvester) hatte sich in der Zeit der "Serapionsabende" als Lustspieldichter einen Namen gemacht (vgl. die Anm. zu S. 164).Mahl in 'Katzenbergers Badereise' - Gevatter Einnehmer - In Jean Pauls Erzählung "Dr. Katzenbergers Badereise" (1809) verekelt der "um Stand und fremde Urteile unbekümmerte" Chirurg und Universitätslehrer Dr. Katzenberger seinen Tischnachbarn (darunter dem "Umgelder Mehlhorn", dem Taufpaten seiner Tochter) die Mahlzeit durch einen Vortrag über die Tätigkeit der Kauwerkzeuge (Zweite Abteilung, Achtunddreißigste Summula).315 in jenem Lustspiel... - Gemeint ist das Lustspiel "Die deutschen Kleinstädter" (1803) von August Kotzebue (1761-1819), in dem der Bürgermeister die Redewendung "Wiederum auf den besagten Hammel zu kommen. . ." (111,7) stereotyp wiederholt.316 dichterische Maler Salvator Rosa - Vgl. die Entstehungsgeschichte der Novelle "Signor Formica".Novellen der alten Italiener, vorzüglich des Boccaccio - Hoffmann hat wahrscheinlich nur das "Decamerone" (1348-1357) von Giovanni Boccaccio (1313-1375) gekannt, das schon damals in zahlreichen Übersetzungen vorlag. Außer diesem Meisterwerk waren bis dahin lediglich Novellen der Renaissancedichter Matteo Bandello (um 1485-1562) und Giovanni Francesco Straparola (um 5475 bis um 1557) in Deutschland veröffentlicht worden. — Hoffmann macht hier mit Recht seine stilistische Eigenständigkeit gegenüber diesen Musterbeispielen der Literaturgeschichte geltend.316 Captatio benevolentiae - (lat.) flaschen nach Wohlwollen.Signor FormicaDie Erzählung entstand im ersten Quartal 1819. Sie war für das Leipziger "Taschenbuch zum geselligen Vergnügen auf das Jahr 1820" bestimmt, das im Herbst 1819 erschien.Wie "Die Fermate" und "Doge und Dogaresse" spielt auch "Signor Formica" in Italien. Zum Haupthelden wählte Hoffmann den Maler Salvator Rosa, den er bereits im "Nachtstück" "Die Jesuiterkirche in G." (vgl. Band 3 unserer Ausgabe), in der Erzählung vom Einsiedler Serapion (vgl. Band 4 unserer Ausgabe) sowie in der Berliner Geschichte "Die Brautwahl" (vgl. S. 87) erwähnt - denn er fühlte sich diesem Künstler, dessen Werdegang mit dem seinen manche Ähnlichkeit aufwies und der ebenfalls drei Kunstarten (Musik, Dichtung und Malerei) ausübte, wesensverwandt.Das erste Zeugnis für den Beginn der Arbeit an der den Vierten Band der "Serapionsbrüder" eröffnenden Künstlernovelle ist ein Brief Hoffmanns vom 27. Januar 1819 an den mit ihm befreundeten Dichter Adelbert von Chamisso, in dem es heißt: "Ich merke schon, daß aus meinem Besuch der [Königlichen] Bibliothek nichts werden wird, da meine Arbeit, die sich immer mehr häuft, mich jeden Vormittag festhält. Sie, verehrtester Freund, gehen aber wohl gewiß einmal in eignen Angelegenheiten herauf, und dann bitte ich Sie, meiner als eines armen hülfsbedürftigen Schriftstellers in Gnaden zu gedenken! . . Ich wünschte auf das dringendste zu haben.., irgendein Werk, aus dem ich mich näher über Salvator Rosas Leben unterrichten kann, z. B. Jagemanns ,Magazin der ital[ienischen] Literatur' ." Zur Beschaffung weiteren Arbeitsmaterials wandte sich der Autor am 5. Februar 1819 an den Berliner Leihbuchhändler Friedrich Kralowsky, der ihm schon "oft aus der Dichternot" geholfen hatte. "Es ist mir einer Erzählung halber, die ich soeben unter der Feder, sehr wünschenswert, mich in den Straßen und Plätzen Roms ganz zu orientieren", beginnt Hoffmann sein Schreiben an Kralowsky, ohne zunächst eine konkrete Vorstellung über ein bestimmtes Werk zu haben. Er nennt dann zwar Carl Ludwig "Fernows ,Gemälde von Rom'" ("Sitten- und Kulturgemälde von Rom. . .", Gotha 1802), fügt aber sogleich hinzu: oder eine andere Reise durch Italien, in der Rom genau geschildert wird.

Von den verfügbaren Werken kam ihm das "Magazin der italienischen Literatur und Künste", herausgegeben von Christian Joseph Jagemann (Band 4, Weimar 1780), wegen der darin enthaltenen Biographie "Das Leben des berühmten Malers Salvator Rosa, gezogen aus den Noticii appartenenti alla vita di Salvator Rosa [Aufzeichnungen über das Leben Salvator Rosas], welche der florentinischen Herausgabe seiner Satiren vom Jahre 1770 vorgesetzt sind", besonders zustatten. Weitere Informationen gewann er aus dem Werk des Historiographen Antoine-Joseph Dezallier d'Argensville: "Leben der berühmtesten Maler, nebst einigen Anmerkungen über ihren Charakter, der Anzeige ihrer vonehmsten Werke etc. Aus dem Französischen übersetzt. ." (Teil 2: "Von den lombardischen, neapolitanischen, spanischen und genuesischen Malern", Leipzig 1767). Als Hauptquelle gilt jedoch die von dem Göttinger Kunstschriftsteller Johann Dominicus Fiorillo italienisch abgefaßte Einleitung ("Breve notizia della vita di Salvator Rosa, pittore e poeta, tratta da diversi autori") zu der 1785 erschienenen Neuausgabe von Salvator Rosas Satire "La Pittura" (Das Gemälde), in der das Leben des Künstlers als Maler und Dichter nach älteren Quellen dargestellt wird. Johann Rudolf und Hans Heinrich Füßlis "Allgemeines Künstlerlexikon oder Nachricht von dem Leben und den Werken der Maler, Bildhauer.. ." (Zweiter Teil, Zürich 1812) lieferte zusätzlich beträchtliche Anregungen. Informationen über Örtlichkeiten Roms und italienische Sprichworte entnahm Hoffmann den "Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen von Karl Philipp Moritz" (~ Teile, Berlin 1792/93).

Trotz aller historischen Vorarbeiten benutzte Hoffmann die vorliegenden Fakten frei im Interesse der künstlerischen Geschlossenheit seiner Novelle. So verstößt er bewußt gegen die überlieferten Tatsachen, wenn er u. a. den Aufstand von 5647 in Neapel (vgl. die sechste Anm. zu S. 317) schon im Jahre 5639 stattfinden läßt, in welchem

auch der Hauptteil der Handlung spielt. Ähnlich sorglos gegenüber der Chronologie verfährt der Autor mit der zeitlichen Einordnung der Erkrankung des Malers (vgl. die Anm. zu S. 322).

Hoffmann sandte die Novelle am 27. März 1819 an Carl Friedrich Enoch Richter, den Inhaber der Gleditschschen Verlagsbuchhandlung (in der das Taschenbuch erschien), und schrieb dazu im Begleitbrief: "Ew. Wohlgeboren erhalten in der Anlage die versprochene Erzählung mit der gehorsamsten Bitte, es entschuldigen zu wollen, daß sie etwas zu lang geraten, ich hoffe indessen, daß sie nicht langweilig ausgefallen sein wird. Gönnen Sie mir diesmal ein größeres Plätzchen, künftig werd ich mich bescheiden zu beschränken wissen... Meine hiesigen Freunde haben sehr günstig über meine Arbeit geurteilt, und so wird sich wohl ,Signor Formica' doch nicht ohne Not so breit gemacht haben." Gegenüber Georg Reimer äußerte der Dichter am 6. September 1820 seine Absicht, die Künstlernovelle ",Salvator Rosa' oder vielmehr ,Signor Formica" in den Vierten Band der "Serapionsbrüder" aufzunehmen, und sandte dann am 53. November "die Einleitung zum Vierten Band nebst dem [nur wenige Korrekturen enthaltenden] Taschenbuch, worin ,Signor Formica' befindlich", an den Verleger.317 Eine Novelle - "Signor Formica" ist das einzige Stück dieser Sammlung, das Hoffmann selbst ausdrücklich als "Novelle" bezeichnet (vgl. auch S. 407).Salvator Rosa - Salvator Rosa (auch Salvatoriello genannt; 1615 bis 1673), italienischer Maler, Dichter und Komponist; galt als bedeutendster Vertreter der Neapolitanischen Schule im 17. Jahrhundert; er war abwechselnd in Neapel, Viterbo und Rom tätig. Der vielseitige Künstler trat auch als Schauspieler auf (vgl. die zweite Anm. zu S. 366).als die Maler - seinen absonderlichen Stil nachzuahmen streben mußten - Salvator Rosas atmosphärische, "wild-romantische" Naturschilderung fand zahlreiche Nachahmer (darunter jedoch keinen mit originellen Leistungen).allerlei böse Gerüchte - Das Leben Rosas ist, was die meisten Einzelheiten betrifft, weitgehend in Dunkel gehüllt; wahrscheinlich haben die Streifzüge des Achtzehnjährigen durch Apulien und Kalabrien sowie ein längerer Aufenthalt in den Abruzzen den Anlaß zu späterer "übler Nachrede" gegeben.

317 selve selvagge - (ital.) wilde Wälder. Nach Dantes "Dwina commedia" (Göttliche Komödie), "Inferno" 1,5 ("Questa selva selvaggia cd aspera e forte").der berüchtigte Mas'Aniello - Masaniello (eigentlich Tommaso Aniello; 1620-1647), ein Fischer, war der Anführer ("Generalkapitän des Volkes von Neapel") des am 7. Juli 1647 ausgebrochenen Volksaufstandes in Neapel (1647/48) gegen die Tyrannei der einheimischen Feudalherren und die spanische Fremdherrschaft. Am 16. Juli 1647 wurde Masaniello durch gedungene Mörder umgebracht, die Erhebung schließlich im April 1648 mit spanischer Hilfe niedergeschlagen. Während die meisten seiner Biographen die Beteiligung Salvator Rosas an diesem Geschehen verschweigen, bringt das von Hoffmann benutzte Jagemannsche Magazin (vgl. S. 646) in deutscher Übersetzung einen Auszug aus dem Vorwort der florentinischen Ausgabe der "Satiren" (vgl. die erste Anm. zu S. 319), der die Verwicklung des Künstlers in jene Ereignisse beweist. Hoffmann, der sonst seiner Quelle bedenkenlos folgt und auch die reaktionäre Berichterstattung über die "Kompagnie des Todes" ("Compagnia della morte") übernimmt, macht hier von seiner dichterischen Freiheit Gebrauch und spricht in diesem Zusammenhang von einer bloßen "Verleumdung" seines Helden.Falcone - Aniello Falcone (1600-1665), italienischer Schlachtenmaler, Schüler Riberas; er war mit seinem ehemaligen Schüler Salvator Rosa befreundet, wodurch dessen Mitgliedschaft in der "Compagnia della morte" erklärbar wird. Die von Hoffmann mitgeteilten persönlichen Motive von Falcones Empörung und die Umstände der Zusammenrottung bzw. "handfesten Unternehmungen" der mit ihm befreundeten Maler sowie die Verbindung mit Masaniello entsprechen der Darstellung in Jagemanns Magazin.318 mörderischen Haufen - Hoffmann hat hier die Geschichte der spontanen Empörung so vor Augen, wie sie die zeitgenössischen offiziellen Druckerzeugnisse darstellten, die "der Regierung zugunsten geschrieben sein mußten". In der nur wenige Jahre nach den "Serapionsbrüdern" erschienenen Biographie "Salvator Rosa und seine Zeit. Aus dem Englischen der Lady Morgan übersetzt" (Dresden 1824/25) findet sich bereits eine Darstellung der Ereignisse, die auf den wahren Charakter des Volksaufstandes hinweist.318 Taillasson - Jean-Joseph Taillasson (1746-1809), französischer Maler und Kunstschriftsteller, Verfasser einer Geschichte der Malerei mit dem Titel "Observations sur quelques grands peintres, dans lesquelles on cherche a fixer les caracteres distinctifs de leur talent, avec un précis de leur vie" (Paris 1807; Betrachtungen über einige große Maler als Versuch, die unterscheidenden Merkmale ihres Talents herauszustellen, mit einem Abriß ihres Lebens). Hoffmann zitiert hier frei und unter Einbeziehung noch weiterer Urteile nach dem "Allgemeinen Künstlerlexikon..." von Füßli (vgl. S. 646).mag Taillasson sogar recht haben - Straßenräuber - Diese Bemerkung folgt ebenfalls Füßlis Lexikon, das Taillassons Urteil über Salvator Rosa folgendermaßen wiedergibt: "Will er zuzeiten Lieblicheres malen, so hört es durch die Weise, wie er es gibt, auf, solches zu sein. Stellt er uns St. Johann vor, wie er den Erlöser der Welt verkündigt, oder Plato, der durch seine hohe Lehren junge Herzen zur Weisheit und Tugend leiten will, so sehen jener Heilige, dieser Weise und die redliche Einfalt, welche ihnen zuhört, einer wie der andere - Straßenräubern gleich."319 ein ebenso guter Dichter und Tonkünstler als Maler - Nach Hoffmanns Quellen hatte Salvator Rosa "eine natürliche Anlage zur Dichtkunst"; er sang seine Lieder zum Teil nach eigenen Texten und schrieb während seines Florentiner Aufenthaltes (vgl. die erste Anm. zu 5. 396) sechs "Satiren" (1695), die er vor ausgesuchtem Publikum ("Prälaten und andern Größen") vortrug. - Carl Georg von Maassen verweist zudem auf Quellen, die belegen, daß Rosa, bevor er sich der Malerei widmete, intensiv Musikwissenschaft betrieben, eigene Kompositionen verfaßt und mit seinen Liedern solche Popularität errungen hatte, daß er zum beliebtesten Lautenspieler Neapels wurde. In der Maske des Signor Formica feierte er mit seinen Gesangseinlagen Triumphe. von Neapel nach Rom, wo er, ein armer bedürftiger Flüchtling, gerade zu der Zeit ankam, als Mas'Aniello gefallen - Hoffmann kehrt bewußt die zeitliche Reihenfolge um (vgl. S. 646 f.).blassen Zechinen - Die Zechine war eine ursprünglich venezianische Goldmünze, die seit ihrer ersten Prägung im Jahre 1284 schnell in ganz Italien in Umlauf kam. Die Bezeichnung "blaß" spielt auf die helle Färbung der dreiundzwanzigkarätigen Legierung an.319 Platz Navona - Piazza Navona: Damals viel besuchter Schauplatz des Raritätenhandels und Treffpunkt junger Künstler; auch Salvator Rosa hatte hier während seines ersten Rom-Aufenthaltes 1635 als Anfänger seine Skizzen ausgestellt und war 1639, als er zum drittenmal in Rom weilte, als Schauspieler Formica gefeiert worden.320 Korso - Die Promenadenstraße, auf der auch das berühmte Karnevalstreiben stattfand.Straße Bergognona - Die Via Borgognona (Hoffmanns Schreibweise nach Karl Philipp Moritz' "Reisen eines Deutschen in Italien. ."; vgl. S. 646) ist eine der zahlreichen Querstraßen des Korso.kleinen, nur zwei Fenster breiten Hause, - Bei der Beschreibung der Lokalität und der Lebensart der "Hausgenossen" folgt Hoffmann dem Werk von Moritz. Auch darin heißt es: "Das Haus ist schmal und nur zwei Fenster drin321 nozze e magistrati sono da Dio destinati! - (ital.) Ehen und Ämter sind von Gott vorherbestimmt! Diese und die im folgenden zitierten volkstümlichen italienischen Redensarten entnahm Hoffmann der gleichen Quelle, der er auch die Anregung für die vorausgehende Milieuschilderung verdankt (Moritz, "Reisen eines Deutschen in Italien . . .", Teil 3, Berlin 1793, S. 223).Chi va piano, va sano, chi va presto, more lesto - (ital.) Wer langsam geht, geht gesund, wer schnell geht, stirbt geschwind.322 Salvator lag - im stärksten Fieber - Hoffmann verlegt die von den Biographen Salvator Rosas verbürgte mehrmonatige Erkrankung des Malers während seines ersten Rom-Aufenthaltes (1635) in den Zeitraum der Handlung seiner Geschichte (dritter Aufenthalt in Rom, 1639). Zu den chronologischen Unstimmigkeiten vgl. S. 646 f.323 Marionetten-Puicinells - Puicinell: Hanswurst der neapolitanischen Volksposse und der Commedia dell' arte (Stegreifkomödie). Obelisk auf dem Petersplatz - Der große Obelisk war von Kaiser Gaius Caesar Germanicus (genannt Caligula; 37-41) aus Heliopolis nach Rom gebracht und von Papst Sixtus V. im Jahre 1586 aus dem Neronischen Zirkus ins Zentrum des Petersplatzes versetzt worden.327 Begräbnisplatz bei der Pyramide des Cestius - Der im 18. Jahrhundert für Nichtkatholiken am Fuße des Aventin angelegte Friedhof beim Grabmal des um 12 y. u. Z. verstorbenen römischen Prätors C. Cestius Epulo, einer etwa siebenunddreißig Meter hohen, mit weißem Marmor verkleideten Pyramide. Seine Erwähnung durch Hoffmann ist ein Anachronismus.328 Wundarzt - Alte Bezeichnung für Chirurg.Antonio Scacciati - Das Freundschaftsverhältnis Salvator Rosas mit einem "Wundarzt". der darüber hinaus ..einen vortrefflichen Pinsel" führte, sowie die Anekdote von dessen Einführung in die Accademia di San Luca (vgl. die erste Anm. zu S. 334) wird in Jagemanns "Magazin..." als historisch bezeugt; den Namen hat Hoffmann wahrscheinlich frei nach dem Künstlerlexikon von Füßli gewählt.329 Sanzio - Raffaelo Santi (1483-1520).330 der große Annibal - Annibale Carracci (um 1560-1609), italienischer Maler und Kupferstecher; Begründer und Hauptmeister der römischen Barockmalerei. Daß Carracci den malenden Wundarzt als Knaben bei sich aufgenommen habe, ist Hoffmanns Erfindung und stimmt mit der Chronologie nicht überein (die Handlung spielt in den Jahren 1639/40).Guido Renis - Italienischer Maler (1575-1642), bedeutendster Vertreter der Bologneser Schule; seine späte Schaffensweise wurde von den Zeitgenossen, darunter auch Salvator Rosa, als "zierlich" bezeichnet.331 den neidischen Historienmalern -Landschaft - Über den Vorrang zwischen den Gattungen Landschafts- und Historienmalerei (einschließlich der Allegorie) wurde unter den italienischen Malern heftig gestritten. Hoffmann folgt hier und im folgenden vor allem Füßlis Künstlerlexikon (vgl. S. 646), in dem es u. a. heißt: "Seltsam aber war es (doch nicht ungewohnt!), daß er [Salvator Rosa] hauptsächlich ein großer Geschichtsmaler sein und sich in dieser Gattung selbst mit den ersten Kunstlichtern... messen wollte, dagegen aber es ungern hörte, wenn man sein Talent für Landschaftsstücke pries" (a. a. O., 5. 1342). - Über die unterschiedlichen Wesensmerkmale der Historien- und Landschaftsmalerei äußert sich Hoffmann bereits in seinem "Nachtstück" "Die Jesuiterkirche in G." (vgl. Band 3 unserer Ausgabe). In den "Serapionsbrüdern" kommt er in der Geschichte "Die Brautwahl" noch einmal auf die Auseinandersetzung zwischen den Disziplinen zurück (vgl. die Anm. zu 5. 47).332 zeichnet...vor einem großen Spiegel - Bei Füßli heißt es hierzu: "Die Antiken oder auch andre große Meister zu studieren hielt er unter sich und zog selbst die Natur nicht zu Rat. Einzig hatte er einen großen Spiegel, vor den er sich mit den Gebärden stellte, die er eben schildern wollte" (a. a. O., S. 1342).jener Felsen...,jener Baum wie ein riesiger Mensch - Hoffmann geht es bei dieser Gegenüberstellung von Landschafts- und Historienmalerei um die Berechtigung des "Phantastischen in der Landschaft". Daß der Autor auch dem widersprechende Theorien vertrat, belegt der in der Buchfassung weggelassene Text aus der Erzählung "Die Brautwahl"(vgl. die Anm. zu S. 47).333 der unruhige Preti - Matteo Preti (1613-1699), genannt il Cavaliere Calabrese, italienischer Maler des Spätbarock. D'Argensville (vgl. S. 646) verweist in seinem biographischen Abriß über den in Kalabrien geborenen Preti besonders auf dessen unstetes, an Händeln reiches Leben.schwarzen Farbentopf - Füßli zufolge war das Auffallendste am Kolorit der Gemälde Salvator Rosas ein "seltsam schwarzer Farbenton", der den "Menschen, die gewöhnlich alles Wunderbare lieben, am meisten gefallen" habe.334 Akademie San Luca - Die Stiftung und Einrichtung von Malerschulen (Akademien) hatte im 16. und 17. Jahrhundert in Italien als Ausdruck des erstarkenden künstlerischen Selbstbewußtseins bereits eine feste Tradition. Als Musterbeispiel galt die im Jahre 1577 gegründete Accademia di San Luca in Rom, die die Malkunst zur Wissenschaft erhob und deren Satzungen und Regeln als Vorbild für ähnliche künstlerische Vereinigungen und private Ausbildungsstätten in den führenden italienischen Stadtrepubliken dienten.Tiarini - Alessandro Tiarini 1577-1668) italienischer Maler aus Bologna, Schüler Lodovico Carraccis; er hielt sich nur zeitweise in Rom auf.Gessi - Francesco Gessi (1588-1649), italienischer Maler aus Bologna, Schüler Guido Renis; wie Tiarini hielt er sich nur zeitweilig in Rom auf. Gessi galt als "Vielmaler".Sementa - Giovanni Giacomo Sementi oder Semenza (1580 bis nach 1619), italienischer Maler aus Bologna, wie Gessi Reni-Schüler; wurde nach seiner Ausbildung in Rom ansässig, wo er als Altarmaler hervortrat.334 Lanfranco...,der nur auf Kalk zu malen versteht - Die Auskunft über die Technik des Malers Giovanni Lanfranco (1580 bis 1647) und das von ihm verwendete Material verdankt Hoffmann d'Argensvilles Buch (vgl. S. 646).335 Annibal, den ein schurkischer Haufe von Kunstgenossen in Neapel tückisch verfolgte - Hoffmann verwertet hier Berichte seiner Quellen über Äußerungen der Mißgunst (Erfolgsneid) neapolitanischer Maler gegenüber Annibale Carracci (vgl. die erste Anm. ZU S. 330).wie es unserm Domenichino erging - Domenico Zampieri, genannt il Domenichino (1581-1641), italienischer Maler aus Bologna, der auch in Rom tätig war. Die Anekdote fand Hoffmann ebenfalls bei d'Argensville. Daß die Maler Belisario und Ribera die Urheber der Tat waren, ist nicht belegt.Belisario - Belisario Corenzio (1558-1643), aus Spanien stammender Maler; lebte seit 1590 in Neapel.Ribera - Guiseppe Ribera (1588-1656), spanischer Maler; lebte seit 1616 in Neapel. Sein Schaffen gehört zur Blütezeit der neapolitanischen Malerschule. Ribera soll besonders auswärtigen Künstlern gegenüber eine rücksichtslose Unduldsamkeit bewiesen haben.337 antworten wie der Velazquez - Diego Rodriguez de Silva y Velazquez (1599-1660), spanischer Maler; hielt sich 1649-1651 zum zweitenmal in Rom auf. Die Äußerung über Raffael entnahm Hoffmann wiederum d'Argensvilles Buch.das schöne Bild Scacciatis... - Diese Anekdote fand Hoffmann in mehreren seiner Quellen, die sich bei der Wiedergabe des Sachverhalts sämtlich auf die Lebensbeschreibung italienischer Künstler ("Notizie de professori del disegno .", Florenz 1773) des Kunstschriftstellers Filippo Baldinucci (1628-1696) stützen. Die Angaben über den Inhalt des Bildes sowie die Irreführung der "Akademisten" bezüglich des Malers sind Hoffmanns Erfindung.338 Ah carissima - bellissima - (ital.) Ach, Liebste - liebenswerteste - ach. Marianna - kleine Marianna - schönste.339 Ritter Josepin - Giuseppe Cesari, genannt Josepino Cavaliere d'Arpino bzw. Ritter Josepin (1568-1640), italienischer Maler; einer der gefragtesten Maler Roms. Sein Urteil hatte in der Akademie ein besonderes Gewicht.342 Frescobaldi - Girolamo Frescobaldi (1583-1643), italienischer Komponist, virtuoser Orgel- und Cembalospieler; seit 1608 Organist an der Peterskirche. (Seine Erwähnung in diesem Zusammenhang ist ein Anachronismus.)Ceccarelli - Odoardo Ceccarelli da Mevania - nicht: Merania — (gest. um 1655), italienischer Sänger (Tenor) und Musikwissenschaftler; seit 1628 Mitglied der päpstlichen Kapelle (zuletzt Leiter des vatikanischen Orchesters).Cavallis Oper "Le Nozze di Teti e di Peleo" - "Die Hochzeit von Thetis und Peleus", die erste Oper des italienischen Komponisten Francesco Cavalli (eigentlich Caletti-Bruni; 1602-1676), der seit 1668 als Kapellmeister an der Markuskirche in Venedig wirkte, wurde 1639 in Venedig uraufgeführt.343 Martinelli - Gemeint ist wahrscheinlich der auch in Gerbers Lexikon erwähnte "Parmesaner Sänger Giorgio Martinelli".Carissimi - Giacomo Carissimi (1604-1674), italienischer Komponist und Musiker; wirkte an der Kirche St. Apollinare in Rom als Kapellmeister. Die Erwähnung seiner (melodiösen und ausdrucksvollen) Motetten an dieser Stelle soll die Komik der Situation unterstreichen.Quattrinos - Seit Mitte des 14. Jahrhunderts geprägte italienische Kupfermünze von geringem Wert.347 Bravo - Gedungener Mörder.Sbirre - Vollzugsbeamter der italienischen Gerichts- und Polizeibehörden. Die Sbirren hatten beim Volk einen äußerst schlechten Ruf.Dukaten - Eine zuerst 1284 in Venedig geprägte Goldmünze, die später nach der Prägestätte (zecca = Münze) Zechine genannt wurde.352 "Le Nozze di Teti e Peleo" -Vgl. die dritte Anm. zu S. 342.353 auf ebendem Spinettdeckel die wunderbarste Malerei begonnen - Diese Anekdote aus Salvator Rosas Leben wird von mehreren Quellen im wesentlichen übereinstimmend überliefert.354 Grafen Colonna - D'Argensville (vgl. S. 646) erwähnt den Grafen Colonna (Konnetable in Rom) als Besitzer einer der reichsten Gemäldegalerien und besonderen Gönner Salvator Rosas.Rossi - Den Namen fand Hoffmann in seinen Quellen; ein Johann Carl de Rossi wird darin übereinstimmend als Freund Salvator Rosas und Käufer seiner Gemälde erwähnt.356 ogni carne ha il suo osso - (ital.) Jedes Fleisch hat seinen Knochen. Dieses und die folgenden Zitate entnahm Hoffmann Moritz' "Reisen eines Deutschen in Italien..." (vgl. S. 646).Fate il passo secondo la gamba, - (ital.) "Den Schritt nach dem Beine machen' - weil das Bein nicht weiter schreiten kann, als es lang ist" (Moritz).asino punto convien che trotti - (ital.) "Der [mit einem Stecken] gestochene Esel muß wohl traben" (Moritz).chi ha nel petto fiele, non puo sputar miele, - (ital.) "Wer im Herzen Galle hat, aus dessen Munde kann nicht Honig träufen" (Moritz).364 Zio carissimo - (ital.) Der liebste Onkel.Theater vor der Porta dat Popolo...Signor Formica - Vgl. die zweite Anm. zu S. 365 und die zweite Anm. zu S. 366.wenn zur Zeit des Karnevals ... - Die Hauptspielzeit der Theater war die Zeit des römischen Karnevals. der mit dem Feste der Heiligen Drei Könige am 6. Januar begann.Primo tenore - (ital.) Der erste Tenor.Argentina - Gemeint ist das in der Via Torre Argentina gelegene Theater (Teatro Argentina).Primo uomo da donna - (ital.) Der erste Liebhaber.Teatro Valle - Gemeint ist das hinter der Kirche San Andrea della Valle gelegene Teatro della Valle, das (ein weiterer Anachronismus bei Hoffmann) zu Salvator Rosas Zeit noch nicht existiert hat.365 Giovedi grasso - (ital.) Fetter Donnerstag; der letzte Donnerstag vor Fastnacht. Vgl. Band 4 unserer Ausgabe, die Anm. zu S. 460.eröffneteMusso vor der Porta del Popolo ein Theater, - Ein auf Initiative von Salvator Rosa unter Mithilfe seiner Gefährten (darunter der im Text als Direktor des Unternehmens genannte Nicolo Musso) unweit des Stadtzentrums gegründetes Sommertheater für Komödienspiele.Buffonaden. - Possenhafle, komische Gesänge. Hier: Kleinere Dialogspiele in der Tradition der alten Commedia dell' arte (Stegreifkomödie); eine der populärsten Unterhaltungen während der Karnevalszeit.an der das Wappen des Hauses Colonna prangte, - Auch Nobili übernahmen aus Gründen der Popularität wie aus Geschäftsinteresse das Protektorat über einzelne Theaterunternehmen. Die hier genannte Verbindung mit dem Hause Colonna scheint jedoch Hoffmanns Erfindung zu sein.366 Pasquarello - Maskenrolle der italienischen Stegreifkomödie; die Verkörperung des alten Narren, des Narrentyps neapolitanischer Prägung. Die "lächerlichen Personen" waren nach Charakter und Kleidung jeweils einer bestimmten Landschaft oder Stadt zugeordnet.der sich Signor Formica nannte - formica: (ital.) Ameise; das Motiv für die Wahl des Namens ist unbekannt. Sämtliche Quellen stimmen darin überein, daß sich der Maler Salvator Rosa während seines dritten Rom-Aufenthaltes (1639) mit großem Erfolg als Marktschreier beim Karneval und auch als Komödiant in Possen und Buffonaden produziert hat.Doktor Graziano - In der italienischen Stegreifkomödie verkörpert der Dottore (oder seiner Herkunft nach: Dottore gratiano Bolognese) den Typ des pedantischen Vielwissers, selbstgefälligen Schwätzers und Aufschneiders, dem als eitlem altem Gecken zumeist auch noch die Rolle des verschmähten bzw. geprellten Liebhabers zufällt.ein alter Bologneser, Maria Agli mit Namen - Hoffmann übernahm den Namen von Jagemann (vgl. S. 646).Formica benedetto! - (ital.) Lieber Formica!"Scherza coi fanti e lascia star i santi!" - (ital.) Scherze mit den Menschen (mit dem niederen Volk) und lasse die Heiligen (Hochstehenden) in Ruhe! Das Sprichwort entnahm Hoffmann (wie auch das vorhergehende Beispiel einer Beifallsbekundung durch Komparation des Namens) Moritz' Reisebericht (vgl. S. 646).367 Ceccarelli -Vgl. die zweite Anm. zu S. 342.369 Cordier - Küfner... Lier:... Gbigi - Eine Beziehung dieser Namen zu historischen Personen ist nicht nachweisbar.370 Sankt Bernardus - Bernhard von Clairvaux (um 1090-1153), französischer Theologe und Kirchenlehrer, der 1774 heiliggesprochen wurde. Er war als zweiter Gründer des Ordens seit iii Abt des Zisterzienser-Mutterklosters Clairvaux bei Langres und soll nach der christlichen Legende zahlreiche Krankenheilungen vollbracht haben.371 Sbirren -Vgl. die zweite Anm. zu S. 347.373 ein berühmter Arzt, der zugleich ein Heiliger war - Gemeint sein könnte der heilige Pantaleon, Patron der Ärzte und einer der "Vierzehn Nothelfer", der nach der Legende als Leibarzt des Kaisers Gaius Galerius Valerius Maximianus (305-31 Si) zahlreiche Wundheilungen an Kranken durch Auflegen der Hände vollbracht haben soll.373 nach dem Spanischen Platz - Freistatt - Hoffmann folgt hier Moritz (vgl. S. 646), der über das für den Spanischen Platz geltende polizeiliche Ausnahmegesetz u. a. schreibt: "Wie denn zum Beispiel der Spanische Platz, ob er gleich mitten in Rom liegt, dennoch nicht zum Gebiet der Stadt Rom gehört [traditionsgemäß unterstand dieses Territorium der Gerichtsbarkeit des dort residierenden spanischen Gesandten], sondern für den, der sich darauf flüchtet, ebenso sicher ist, als ob er hundert Meilen weit von Rom entfernt wäre."374 Con arte e con inganno... - (ital.) "Mit Betrug und List lebt man das halbe Jahr, mit List und Betrug die andere Hälfte" (Moritz).377 Straße Babuina - In der von der Porta del Popolo zum Spanischen Platz führenden Via del Babuino soll nach historischer Überlieferung Salvator Rosa während seines dritten Rom-Aufenthaltes 1639 gewohnt haben.378 benedettissimo Capuzzi! - (ital.) liebster Capuzzi!382 Teufel Fanfarell - Anspielung auf den Teufel Fanfare!! in Carlo Graf Gozzis Szenarium zum Märchenspiel "L'amore delle tre melarance" (1761; Die Liebe zu den drei Pomeranzen), das Hoffmann sehr schätzte.Bernhardinermönch - Der Name Bernhardiner (nach Bernhard von Clairvaux; vgl. die Anm. zu S. 370) für die Mönche des Zisterzienserordens war besonders in Frankreich üblich.geweihtes Bisamsäckchen - Das Sekret der beutelartigen männlichen Geschlechtsdrüsen des Moschustieres (Bisamsäckchen) war als stark wirkender Duftstoff (Muskon) schon seit dem Altertum bekannt.384 parteilos zwischen Kraft und Willen - Zitat nach Shakespeare, "Hamlet" 11,2.386 sobald ich an eine Verbindung mit ihr denke - Die Problematik der "Liebe des Künstlers" gehört zu den wichtigsten und ständig wiederkehrenden Motiven in Hoffmanns Dichtungen (vgl. "Die Jesuiterkirche in G." sowie "Der Artushof" und "Die Fermate"; Band 3 und 4 unserer Ausgabe).387 Ah Pasquale Capuzzi! -compositore, virtuoso celeberrimo bravo! -(ital.) Hoch Pasquale Capuzzi! - der äußerst berühmte, virtuose, ausgezeichnete Komponist!Der Doktor fragte nun den Pasquarello... - Hoffmann gibt in der folgenden Partie ein Beispiel von einem Szenarium nach der Art des von ihm hochverehrten italienischen Theaterdichters Carlo Graf Gozzi (1720-1806). Pasquarello: vgl. die erste Anm. zu S. 366.388 parla col cuore in mano - (ital.) Er spricht mit dem Herz in der Hand. Hoffmann entnahm die Wendung Gozzis Märchenkomödie "L'augellino belverde" (Das grüne Vögelchen) 11,3.390 Frescobaldis -Vgl. die erste Anm. zu S. 342. Carissimi -Vgl. die zweite Anm. zu S. 343.392 Vetturino - (ital.) Fuhrmann, Droschkenkutscher.394 In der Tat gelang es der neidischen Rotte... - Die Erfolge Rosas forderten den Neid der Akademisten heraus, die sich bei ihren Verleumdungen vor allem auf die fragwürdigen Umstände seines Vorlebens stützten (vgl. die vierte Anm. zu S. 317).die ihm den Wundarzt nicht vergessen konnten - Vgl. die Anekdote um das Gemälde des Wundarztes und Malers Scacciati, S. 337ff.395 Gemälde...die Geliebte eines Kardinals - Hoffmann schildert die beiden Gemälde nach Jagemann (vgl. 5. 646). Daß die weibliche Figur auf dem ersten die Geliebte eines Kardinals sei, ist Hoffmanns Erfindung.396 Er begab sich ...nach Florenz - Nach Hoffmanns Quellen kam die Abreise Salvator Rosas aus Rom im Jahre 1640 einer Flucht vor seinen Feinden gleich. In Florenz blieb der von der am Hofe versammelten Gelehrten- und Künstlergemeinde bewunderte Maler und Dichter bis 1649.Herzogs von Toskana - Ferdinand II. de' Medici (1610-1670), seit 1621 Großherzog von Toskana.die berühmtesten Dichter und Gelehrten der Zeit... - Die namhaften Zeitgenossen Salvator Rosas nennt Hoffmann nach Jagemann (vgl. 5. 646).Toricelli - Evangelista Torricelli (1608-1647), italienischer Philosoph und Mathematiker, Assistent Galileis.Chimentelli - Valerio Chimentelli, Lehrer der schönen Wissenschaften an den Universitäten Florenz und Pisa (seit 1646).396 Ricciardi Giovanni Battista Ricciardi oder Rocciardi (1623 bis 1686), italienischer Gelehrter und Dichter, mit Salvator Rosa befreundet.Cavalcanti - Andrea Cavalcanti (1610-1672 oder 1673), italienischer Schriftsteller und Gelehrter.Salvati - Pietro Salvati oder Salvetti, italienischer Dichter des 17. Jahrhunderts.Apolloni - Filippo Apolloni, italienischer Dramatiker des 17. Jahrhunderts.Bandelli - Volumnio Bandinelli, seit 1658 Kardinal.Rovai - Francesco Rovai, italienischer Schriftsteller des 17. Jahrhunderts."Academia de' Percossi" - (ital.) "Akademie der Geschlagenen" (oder Geprügelten); eine der zahlreichen privaten Institutionen in Italien, die sich der nationalen Überlieferung in Wissenschaft und Kunst widmeten. Einer Zeitmode gemäß gaben sie sich komische Namen.397 Nepote - Neffe, Enkel, Vetter. Die Bevorzugung von Verwandten bei der Ämterbesetzung war ein bei den Renaissancepäpsten übliches Mittel zur Festigung ihrer Herrschaft und zur Gewährleistung ihrer Hausmachtinteressen.398 der Nepote ... unter jenen Tieren auf meinem Gemälde - Die Anspielung auf einen bestimmten Kardinalnepoten (Kardinalstaatssekretär) im Zusammenhang mit dem genannten Gemälde ist Hoffmanns eigene Auslegung.402 "De profundis" - (lat.) "Aus der Tiefe (rufe ich, Herr, zu dir)"; Beginn des Bußpsalms 130.407 Er streckt die offne Brust der Partisane entgegen - Nach Schiller, "Wallensteins Tod" 111,15, wo Wallenstein zu den Kürassieren sagt' Darum werfen wir / Die nackte Brust der Partisan entgegen..." - Partisane: Stoßwaffe mit breiter zweischneidiger Spitze.408 so daß Cervantes es selbst für nötig fand, sich - zu entschuldigen - Im Gespräch zwischen dem Titelhelden und dem Baccalaureus über den Ersten Teil des Romans heißt es: "Dessenungeachtet', antwortete der Baccalaureus, ,behaupten einige, welche die Historie gelesen haben, daß es ihnen lieber sein würde, wenn die Autoren etwelche von den unzähligen Schlägen vergessen hätten, die bei unterschiedlichen Vorfällen dem Herrn Don Quixote zugeteilt wurden." Don Quixote dagegen meint, man habe die Wahrheit der Geschichte zu respektieren (Zweiter Teil, Sechstes Buch, Kap. 3; Übersetzung von Ludwig Tieck).408 in seinen Gedichten ... geplündert - Hoffmann folgt bei der Charakterisierung der Lyrik Rosas vorbehaltlos Jagemann.409 Wohl darum nur, weil Heiland man mich nannte... - Hoffmann gibt das bei Jagemann abgedruckte Sonett Rosas in einer eigenen Übersetzung wieder.Pindus - Pindar oder Pindaros (um 522 bis nach 446 y. u. Z.), griechischer Lyriker.410 der rüstigste Theaterschreiber der letztvergangenen Zeit - Gemeint ist August Kotzebue (1761-1819)."Pagenstreiche" - Posse (1804) von Kotzebue. Vgl. auch die vierte Anm. zu S. 414.Jünger - Johann Friedrich Jünger (1759-1797), am Hoftheater in Wien wirkender Lustspieldichter; war (wie Goethe 1792 bemerkt hat) seiner "anspruchslos einer bequemen Fröhlichkeit Raum" gebenden Stücke wegen beliebt.Bretzner - Christoph Friedrich Bretzner (1748-1807), Handelsangestellter und Theaterschriftsteller in Leipzig; sein Singspiel "Belmont und Konstanze oder Die Entführung aus dem Serail" (1781) hatte Mozart 1782 (gegen den Willen des Autors) als Textgrundlage für seine Oper benutzt. Bretzner verfaßte pedantisch-humoristische Komödien, darunter auch das Lustspiel "Liebe nach der Mode oder Der Eheprokurator" (1781), sowie "Operetten" (1779) und "Singspiele" (1796).Nonens - non-ens: (lat.) das Nicht-Seiende."Still, o still, ihr guten Lent! - ihr sprecht von einem Nichts!" — Zitat nach Shakespeare, "Romeo und Julia", 1,4: "Still, o still, Mercutio! / Du sprichst von einem Nichts" (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel).411 Dixi - (lat.) Ich habe (es) gesagt.Schubladenstückchen - Nach französischen oder italienischen Vorbildern verfertigte einaktige Lustspiele oder Possen, in denen der Hauptdarsteller jeweils mehrere Rollen zu verkörpern hat. (Sie wurden deshalb auch Verkleidungs- oder Proteusstücke genannt.) Vgl. das Beispiel S. 426ff. sowie "Seltsame Leiden eines Theaterdirektors" (Band 3 unserer Ausgabe).411 wie in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" zu lesen... - "Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens Liebling kennen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen paßte, machte die Zuschauer lachen ." (Goethe, "Wilhelm Meisters Lehrjahre", Drittes Buch, Kap. I).412 ein gar absonderlicher Mann ... in einer kleinen süddeutschen Stadt - Der Bezug zu einer historischen Person ist nicht nachweisbar; offenbar ist ein Hoffmann näher bekannter Schauspieler aus seiner Bamberger Theatertätigkeit (1808-1813) gemeint. der Wirt in Tiecks "Verkehrter Welt" klagt - "Ja, sonst waren noch gute Zeiten, da wurde kaum ein Stück gegeben, in welchem nicht ein Wirtshaus mit seinem Wirte vorkam. Ich weiß es noch, in wie vielen hundert Stücken bei mir in dieser Stube hier die schönste Entwickelung vorbereitet wurde. Bald war es ein verkleideter Fürst. der hier sein Geld verzehrte, bald ein Minister oder wenigstens ein reicher Graf, die sich alle bei mir aufs Lauern legten. Ja sogar in allen Sachen, die aus dem Englischen übersetzt wurden, hatte ich meinen Taler Geld zu verdienen. Manchmal mußte man freilich auch in einen sauern Apfel beißen und verstelltes Mitglied einer Spitzbubenbande sein, wofür man dann von den moralischen Personen rechtschaffen ausgehunzt wurde; indessen war man doch in Tätigkeit. — Aber jetzt!" (Ludwig Tieck, "Die verkehrte Welt. Ein historisches Schauspiel in fünf Aufzügen" 11,4).413 Ekhof gesehen, mit Schrödern gespielt - Ekhof: Konrad Dietrich Ekhof (1720-1778), Schauspieler am Hamburger Nationaltheater (1767-1769), dann in der berühmten Seylerschen Truppe; 1774-1778 Leiter des Gothaer Hoftheaters. Schröder: Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816), Schauspieler und Theaterdirektor in Hamburg. Die Leistung der beiden Künstler war richtungweisend für die Entwicklung der bürgerlichen deutschen Schauspielkunst.die Rede des Geistes aus dem ,Hamlet' -nach der Schröderschen Bearbeitung - In der Schröderschen Prosaübersetzung von Shakespeares Tragödie "Hamlet" beginnt der Monolog des Geistes mit den Worten: "Ich bin der Geist deines Vaters, verurteilt, eine bestimmte Zeit bei Nacht herumzuirren und den Tag über eng eingeschlossen in Flammen zu schmachten, bis die Sünden meines irdischen Lebens ausgelöscht sind..." (Friedrich Ludwig Schröder, "Hamburgisches Theater", Band 3, Hamburg 1778).414 die Schlegelsche Übersetzung - Die siebzehn Stücke umfassende Shakespeare-Übersetzung von August Wilhelm Schlegel (1767 bis 1845), in der das Versmaß des Originals beibehalten ist, war in den Jahren 1797-1810 erschienen.Rolle des Oldenholm - In der Übertragung Schröders ist Oldenholm der Name des Oberkämmerers (bei Schlegel Polonius)."Proberollen" - "Die Proberollen" (1815), einaktige Posse von L. Breitenstein, die Hoffmann am 13. Oktober 1815 in Berlin sah.reiche Onkel, die ... die Narrheit züchtigen - Anspielung auf das Lustspiel "Pagenstreiche" von August Kotzebue. Gemeint ist die Lektion, die dem Haupthelden des Stückes, dem Pagen Paul von Husch, durch seinen von ihm geneckten und gepeinigten reichen Onkel zuteil wird.(Zacharias Werner)Der in das Rahmengespräch eingeschaltete Exkurs über den mystisch-romantischen Dramatiker Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768-1823) ist vermutlich zu Anfang des Jahres 1821 entstanden. Hoffmann kannte den Dichter bereits aus seiner frühesten Jugendzeit; beide waren in Königsberg im selben Hause aufgewachsen (die Witwe Werner bewohnte zusammen mit ihrem Sohn das erste Stockwerk des Doerfferschen Anwesens), eine gegenseitige Annäherung hatte sich jedoch damals, wohl mitbedingt durch den Altersunterschied, nicht ergeben. Erst während der gemeinsam verbrachten Zeit in Warschau, wohin Werner schon im Jahre 1796 als preußischer Beamter (Kammersekretär) versetzt und Hoffmann 1804 als Regierungsrat am dortigen Obergericht berufen war, lernten sich beide - mit Julius Eduard Hitzig als Drittem im Bunde - näher kennen. Werner war damals schon als Dichter mit seinem Bühnenwerk "Die Söhne des Tales" (1803/04) hervorgetreten und schrieb derzeit an seinem Doppeldrama "Das Kreuz an der Ostsee" (i 806); für die Bühnenmusik gewann er Hoffmann als Komponisten. Während der Arbeit an dieser Musik hatte Hoffmann die dichterische Intention Werners zu erfassen gesucht. Am 26. September 1805 schrieb er an Theodor Gottlieb von Hippel: "Werner ist unerträglich ängstlich, lag mir immer auf dem Halse und quälte mich, daß ich Tag und Nacht arbeiten mußte, um zu einem bestimmten Termin fertig zu werden." Am 12. Dezember bestätigte er dem Freund gegenüber dann noch einmal, daß er mit Werner "sehr viel in W[arschau] gearbeitet" habe. — Sein späteres Urteil über die Persönlichkeit und das Werk Werners ist vorwiegend negativ. Er kritisiert vor allem die "läppischen Dinge und Geschmacklosigkeiten" in dessen Stücken und wirft ihm "schmutzigen Geiz, der doch in keiner Künstlerseele wohnen sollte", vor (an Hippel, Mai 1808). "Sein [Werners] kleinliches Verfahren gegen Sie, dem er doch sein Aufkommen recht eigentlich zu verdanken hat, hat mich recht sehr indigniert; wie er sich gegen mich benahm, mag ich gar nicht rügen", heißt es zudem in einem Brief an Hitzig vom 25. Mai 1809. Auch in den "Fantasiestücken in Callots Manier" zeichnet Hoffmann Werners "gesprenkelten Charakter" (vgl. die Gesellschaftssatire "Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza"; Band I unserer Ausgabe). Im vorliegenden Gesprächsstück versucht er dagegen, die menschlichen Intentionen und dichterischen Qualitäten Werners aus größerem zeitlichen Abstand und ohne Voreingenommenheit zu analysieren.

Der Gesprächspart erschien zum erstenmal im Vierten Band der "Serapionsbrüder" (1821).418 Räuber Moor, den Ludwig Tieck ... das titanenartige Geschöpf einer jungen und kühnen Imagination nennt - Im Gespräch über das Theater heißt es in Ludwig Tiecks "Phantasus ." im Zusammenhang mit der Würdigung des Schauspielers Fleck (vgl. die dritte Anm. zu S. 425) der Triumph seiner Größe war wohl, so groß er auch in vielem sein mochte, der Räuber Moor. Dieses titanenartige Geschöpf einer jungen und kühnen Imagination erhielt durch ihn solche furchtbare Wahrheit, edle Ergebenheit, die Wildheit mit so rührender Zartheit gemischt, daß ohne Zweifel der Dichter bei diesem Anblick selbst über seine Schöpfung hätte erstaunen müssen" (Band 3, Berlin 1816, S. 509). dieser übermenschliche, fürchterlich grauenhafte Greis - Gemeint ist der Priester Waidewuthis (oder Widewuto bzw. auch Widebord)

aus Zacharias Werners Doppeldrama "Das Kreuz an der Ostsee" (vgl. die zweite Anm. zu S. 419).419 "Söhne des Tales" - Das 1803/04 anonym erschienene Erstlingswerk von Zacharias Werner, "Die Söhne des Tales. Ein dramatisches Gedicht" (Erster Teil: "Die Templer auf Zypern"; Zweiter Teil: "Die Kreuzesbrüder") enthält bereits im Ansatz die phantastischen religiösen Anschauungen des Autors. Im Drama wird dem Templerorden, der die "aufgeklärte" Religion symbolisieren soll, die geheimnisvolle Organisation der Söhne des Tales als höchstes Tribunal (Inquisition) einer schwärmerisch-mystischen Katholizität entgegengestellt."Kreuzes an der Ostsee" - "Das Kreuz an der Ostsee. Ein Trauerspiel. Vom Verfasser der ,Söhne des Tales'. Erster Teil: ,Die Brautnacht" (:806). Diesem "echt katholisch gedachten Stück" (Werner) liegt als Stoff die im 53. Jahrhundert erfolgte Bekehrung der heidnischen Preußen zum Christentum zugrunde. Hauptmotive der Dichtung sind wiederum das Märtyrertum und die "Wunderkraft des Glaubens". Während der Erste Teil lediglich die kriegerische Vorgeschichte bringt (vgl. auch die siebente Anm. zu 5. 425), behandelt der Zweite Teil den Sieg über den Heidenpriester und Gesetzgeber Waidewuthis. Von dem als Doppeldrama geplanten Werk ist der Zweite Teil nie gedruckt worden. Die Arbeit muß jedoch so weit fortgeschritten gewesen sein, daß Texte noch während Hoffmanns Warschauer Aufenthalt (1804-1807) in Freundeskreisen kursieren konnten. Bis heute ist ungewiß, ob das Stück jemals vollendet wurde. Im "Historischen Vorbericht" Werners findet sich die geschichtliche Exposition seines Stoffes. Als Hauptquelle benutzte er die von dem Historiker Christophonus Hartknoch verfaßte Schrift "Alt- und neues Preußen oder Preußischer Historien zwei Teile . ." (Frankfurt und Leipzig [Königsberg] 1684).421 'imperador del doloroso regno' - (ital.)"Beherrscher des Schmerzenreiches"; Dante, "Dwina commedia" (1472; Die göttliche Komödie), "Inferno" XXXIV,28.Calderóns 'Grossen Magus' - Gemeint ist Pedro Calderon de la Barcas (1600-1681) Schauspiel "El magico prodigioso" (deutsch 1816: "Der wundertätige Magus"), in dem zuletzt der Teufel auf einem Drachen über dem Schaffott der enthaupteten Märtyrer erscheint.422 daß der Dichter auf Bahnen geriet, die ihn mir auf immer entrücken mußten - Vgl. S. 663.Beatifikation - Seligsprechung.Vorrede zu dem geistlichen Schauspiel "Die Mutter der Makkabäer" — Werner schrieb zu seiner Tragödie "Die Mutter der Makkabäer" (1820) eine "Vorrede", in der er sich zu rechtfertigen sucht. Er polemisiert zunächst gegen die "schlecht belehrten Journale", die ihn als "finsteren, fanatischen ... Schwärmer" abstempelten, und nimmt für sich in Anspruch, "Vernunft und Verstand als die höchsten Gaben des Menschen zu schützen". Daraufhin wendet er sich direkt an seine Freunde: ..Es ist kein irdisches Interesse, noch eine mir vielfältig angelogene Nebenabsicht... im Spiel bei meinem dermaligen ernstesten, höchsten und reinsten Streben; ich opfere demselben freiwillig .. nicht nur Gesundheit, Heimat und zeitlichen Ruhm und - als wehrlose Zielscheibe jedes Lügners - selbst die mir stets teure Achtung meiner Freunde. . ." Sein dichterisches Wirken, bekräftigt er, habe, "in so seltsamen Fugen es oft auch erklungen sein mag, doch, wo es den Grund des Heiligen und Teutschlands Ehre galt, nie einen Mißlaut" hervorgebracht. "Aber eben dieser mein fester Glaube an teutsche Würde", fährt der Autor fort. "tröstet mich auch in solchen Fällen, wo mein Selbstgefühl durch das Verkennen sogar derer, deren Erkennen mein Teuerstes war, schmerzlichst verwundet wird."423 vom Zweiten Teil des "Kreuzes an der Ostsee" spricht der Dichter in jener Vorrede - In der betreffenden Passage heißt es: "Dieser Zweite Teil ward einst von einigen der edelsten Teutschen, denen ich ihn, wenngleich nur Bruchstück, mitteilte, für mein Gelungenstes anerkannt. Aber eben sie wissen es am besten, daß nur der Trost, von Edlen geliebt zu sein, zur Freudigkeit hilft, etwas der Liebe der Edlen nicht Unwürdiges zu vollbringen! ha, wie der Gischt - emporzischt! - "Ha! wie der Gischt / Emporzischt! / Wie tropfende Perlen / Im Metschaum querlen! / Die Tropfen gerannt, / Gleich den Wogen am Strand, / Dem Riesen Bangputtis aus mächtiger Hand!"; Zacharias Werner, "Das Kreuz an der Ostsee", Erster Teil.424 an einem kleinen Tischchen ... saß der Dichter... - Von Hoffmann stammt eine Zeichnung "Werner, Dichter der ,Söhne des Tales' ", die die hier beschriebene Pose bis ins Detail wiedergibt.424 ,Bankputtis! - Werners Stück beginnt mit der Anrufung des Meeresgottes Bangputtis. Im "Historischen Vorbericht" (vgl. die zweite Anm. zu S. 419) heißt es (nach der von Werner benutzten Quelle: Ludwig von Basko, "Geschichte Preußens", Königsberg 1792), daß die an der Meeresküste wohnenden Sudauer sich diese "Wellengottheit" als einen "geflügelten Riesen, auf dem Meere wandelnd, dachten", von dem sie glaubten, "daß er ihnen den Bernstein durch die Wellen an den Strand spülen ließe".eine Aufforderung Ifflands - Werner hatte "Die Söhne des Tales" am 4. August 1804 dem amtierenden Direktor des Berliner Nationaltheaters, August Wilhelm lifland (1759-1814), zugeschickt und sich zugleich erboten, ihm das Trauerspiel "Das Kreuz an der Ostsee" nach Fertigstellung ebenfalls zu übersenden. Iffland reagierte im Antwortschreiben vom 25. September 1804 äußerst positiv; er erhielt aber den Ersten Teil des zweiten Stücks erst "mit der reitenden Post" am 9. Mai 1805. Nach dreiwöchentlichem Stillschweigen sandte er das Manuskript am 29. Mai zurück, und zwar mit einem ablehnenden Bescheid, der für Hoffmann ein "Meisterwerk der Theaterdiplomatik" ist (vgl. die zweite Anm. zu S. 426). Der Erste Teil der "Söhne des Tales" wurde am 10. März 1807 ohne besonderen Erfolg auf der Berliner Bühne aufgeführt.425 Die "Söhne des Tals" machten gerade damals großes Aufsehen - Die Veröffentlichung des Buches im Jahre 1803/04.Iffland, dem die Trauerspiele Schillers - ein Greuel waren - Das ist eine Unterstellung Hoffmanns.den großen Fleck - Johann Friedrich Ferdinand Fleck (1757 bis 1801), Schauspieler; galt Hoffmann lange Zeit als "ewig unvergeßlicher Heros" der Berliner Bühne (vgl. S. 166). Wie schon bei der Charakterisierung des "Räubers Moor" (vgl. die erste Anm. zu S. 418) schließt sich Hoffmann hier wiederum dem Urteil Tiecks an (mit dem er die kritische Einschätzung von Ifflands schauspielerischen Leistungen teilte): "Viele der Schillerschen Charaktere waren ganz für ihn [Fleck] gedichtet" ("Phantasus . . .", Band 3, Berlin ,8,6, S. 505 ff.).von jener scharfen Geißel, die er schon gefühlt - Anspielung auf die Angriffe der Romantiker gegen den Bühnendichter und Schauspieler, insbesondere auf die Ludwig Tiecks, der Iffland u. a. im "Phantasus ." vorwarf, daß er sich nur von seiner Eitelkeit leiten lasse, sein Talent überschätze und nach Hauptrollen "geize". In Tiecks satirischem Volksmärchen "Die Schildbürger" 1797 werden Ifflands "Haus- und Familiengemälde" verspottet, desgleichen im "Gestiefelten Kater" (5797). Auch August Wilhelm Schlegels Rezensionen der Ifflandschen Schauspiele in den Jahrgängen 1796/97 der "Allgemeinen Literaturzeitung" sind in diesem Zusammenhang zu nennen.425 Trauerspiele mit großen geschichtlichen Akten - Anspielung auf Ifflands Aufsatz "Verhältnisse der gegenwärtigen Theaterdirektionen in Vergleich mit denen, worin die Direktionen der Theater vormals sich befunden haben", der in dem von ihm herausgegebenen Berliner "Almanach fürs Theater" vom Jahre 1811 erschienen war."Dixi et salvavi" - "Dixi et salvavi animam meam": (lat.) "Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet."den Geist des - Bischofs Adalbert ... Zitherspielmann - Nach der christlichen Legende galt der heiliggesprochene Adalbert von Prag (eigentlich Wojtech; geb. um 955) als "erster Apostel der Preußen"; er wurde während seiner Missionstätigkeit am 23. April 997 von einem "heidnischen" Priester in Samland erschlagen. Über die Rolle des Bischofs in Werners Stück, wo sein Geist als Zitherspieler auftritt und die Burg des Deutschen Ritterordens vor der Erstürmung durch die "heidnischen Preußen" rettet, äußert sich Hoffmann ausführlich im Brief an Hippel vom 26. September 1805. Werner hatte Iffiand in seinem Brief vom 10. März 1805 diese Rolle mit den Worten angetragen: "Könnte ich jenen Hauptcharakter (den Adelbert) vom ersten jetzt lebenden Schauspielkünstler, an den diese Zeilen gerichtet sind, dargestellt sehen, so würde mich das äußerst glücklich machen."426 dus minorum gentium - (lat.) den zweitrangigen Göttern.Brief, den Iffland dem Dichter schrieb... - Der Brief Ifflands mit dem diplomatisch verfaßten Ablehnungsbescheid vom 29. Mai 1805 ist verschollen, sein Inhalt flur sinngemäß aus Werners (im Druck zweiundzwanzig Seiten umfassenden) Antwortschreiben vom 15. Juni 1805 sowie aus den Passagen rekonstruierbar, die der Autor am 30. Juni 1805 dem Königsberger Schriftsteller Johann Georg Scheffner mitgeteilt hat. Danach begann das Schreiben mit äußerst schmeichelhaften Lobeserhebungen: "Ich habe mit Innigkeit das herrliche Werk empfunden, was Ihres Geistes so würdig ist und von neuem mir dartut, daß wir in Ihnen Ersatz für den schmerzlichen Verlust [Schillers] finden, der eben alle Welt beugt. Welche Fülle der Empfindungen, welcher Reichtum der Phantasie und welche Tiefe der Menschenkunde bei der sicheren Hand der Charakterzeichnung!..." Nach diesem Zitat heißt es im Brief Werners weiter: "Das Resultat aller dieser Ifflandschen Bemerkungen ist, mein Schauspiel könne nicht gegeben werden, teils weil es der Ärmlichkeit der Bretterbühne nicht zusage, teils weil es in diplomatischer Hinsicht durch (wenngleich sehr sanfte) Seitenhiebe auf monarchische Verfassung überhaupt und durch eine sehr treue (mithin häßliche) Darstellung der Polen Anstoß geben könnte." Ifflands Antwort in bezug auf die ihm zugedachte Rolle wird von Werner im Wortlaut wiedergegeben: "Der Zitherspieler! Ich kann mir ihn denken, ich kann ihn lieben, davon hingerissen werden - ich wüßte ihn nicht darzustellen! Das Abenteuerliche, das Hochheilige muß in der Darstellung nur an uns hinstreifen, es muß uns - daß ich so sage - kurz und allmächtig galvanisieren. Diese Rolle erscheint oft, redet viel und lange, wiederholt oft die nämlichen Gefühle. Mag der Darsteller das Unmögliche tun, sein äußerer Mensch ist zu lange ausgestellt, er sinkt im Fluge, das hohe Gebilde aufzufassen, wiederzugeben. Für das Darstellen - hat der Dichter selbst die Spitze abgebrochen, die erreicht werden soll - es ist nicht möglich!" (Nach S. O. Floeck, "Briefe des Dichters F. L. Z. Werner", München 1914.)426 "ben parlato, ma" - (ital.) "gut gesagt, aber".den Maschinisten angeklagt - Iffland hatte sich in seiner Ablehnung vor allem auf technische Schwierigkeiten berufen.der Hysterismus der Mütter - Anspielung auf Hoffmanns eigene Mutter. "Die Mutter vegetierte nur in immer krankhaftem Zustande. Schon ihr Äußeres war ein Bild der Schwäche und des tiefen Herzenskummers, der sie ganz niederzubeugen schien. Hoffmann sprach nicht gern von ihr; war es aber nicht zu vermeiden, nur in Ausdrücke[n] der Wehmut und Verehrung" (Hitzig, "Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß", Berlin 1823, Teil I, S. 3f.).427 der fixe Wahn einer - geisteskranken Mutter - Werners Mutter galt besonders nach Hoffmanns Zeugnis als Frömmlerin, die schließlich völlig in mystizistischen Wahn verfiel. Bereits im "Fantasiestück" "Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe) schreibt er, aus eigener Erinnerung schöpfend, daß "der Wahnsinn der Mutter den Sohn zum Dichter in der frömmsten Manier gebildet habe. — Die Frau bildete sich ein, sie sei die Jungfrau Maria und ihr Sohn der verkannte Christus, der auf Erden wandle..427 Bursche - Studenten.428 Fuchs - Neuling an der Universität (Student der ersten beiden Semester).Trieb zur Sünde, zu aller bösen Lust der Welt - Über seine jugendlichen "Ausschweifungen" berichtet Werner selbst in seinen "Tagebüchern". Julius Eduard Hitzig spricht von der "ersten Periode" im Leben des Dichters als von einer Zeit, wo dieser sich, "von seinem feurigen Sinne irregeführt, den Ausschweifungen ergab" ("Lebensabriß Friedrich Ludwig Zacharias Werners", Berlin 1823, S. 111).die Mystik eines Religionskultus - Werner trat 1810 zur katholischen Kirche über, studierte Theologie und wurde 1814 in Aschaffenburg zum Priester geweiht. Sein dichterisches Werk bezeichnete er selbst pathetisch als "Vorarbeiten zu der neuen Religion, die der Menschheit gegeben werden muß".429 die furchtbare Mystik des Paters Molinos, - Gemeint ist die Schrift "Guida spirituale" (1675; Geistlicher Wegweiser) des spanischen Mystikers Miguel de Molinos (1640-1696), der seit 1664 als Priester in Rom lebte. Er begründete damit die Lehre des Quietismus, die eine weltabgewandte Lebenshaltung, Unterdrückung des eigenen Willens und rückhaltlose Gottergebenheit vorschreibt. Durch ein Inquisitionsdekret vom Jahre 1687 wurde der Autor zum Widerruf seiner als ketzerisch verurteilten Lehren und zu lebenslänglicher Klosterhaft verurteilt.,II ne faut avoir nul égard aux tentations, -(franz.) "Man muß auf die Versuchungen nicht achtgeben und ihnen keinen Widerstand entgegenstellen. Wenn die Natur sich regt, muß man sie wirken lassen; es ist ja nichts anderes als die Natur."Toute opération active... - (franz.) Jede tätige Einwirkung wird von Molinos durchaus untersagt. Es heißt sogar (nach ihm) Gott beleidigen, wenn man sich ihm nicht derartig überläßt, daß man wie ein lebloser Körper erscheint. Daher kommt es nach diesem Erzketzer, daß das Gelübde, irgendein gutes Werk zu verrichten, ein Hindernis auf dem Wege zur Vollkommenheit ist, weil die natürliche Tätigkeit eine Feindin der Gnade ist; sie ist ein Hindernis gegenüber dem Wirken Gottes und der wahren Vollkommenheit. weil Gott in uns ohne unser Zutun wirken will. Man darf weder Erleuchtung noch Liebe, noch Ergebung kennen. Um vollkommen zu sein, darf man nicht einmal Gott erkennen. Man darf weder an das Paradies noch an die Hölle. noch an den Tod, noch an die Ewigkeit denken. Man darf durchaus nicht zu wissen begehren, ob man innerhalb des göttlichen Willens einherschreitet, ob man (ihm gegenüber) ergeben genug ist oder nicht. Mit einem Worte, die Seele darf weder ihr Sein noch ihr Nichtsein erkennen; sie muß ein lebloser Körper sein. Jedes Nachdenken ist schädlich, selbst das über seine eigenen Handlungen und über seine Fehler. So darf man sich auch keinerlei Gedanken machen über das Ärgernis, das man etwa erregen mag, wenn man nur nicht die Absicht hat, Ärgernis zu erregen. Wenn man einmal Gott seinen freien Willen dahingegeben hat, darf man keinerlei Wunsch mehr empfinden nach seiner Heiligung oder seinem Seelenheil; man muß sogar die Hoffnung von sich abtun, weil man Gott die ganze Sorge für alles, was uns betrifft, überlassen muß, selbst die Sorge darum, daß er seinen göttlichen Willen in uns ohne unser Zutun wirke. So ist es auch eine Unvollkommenheit, wenn man (um etwas) bittet, denn das heißt soviel wie einen eigenen Willen haben und verlangen, daß der Wille Gottes sich dem unsrigen anpasse. Aus demselben Grunde darf man ihm auch nicht für irgend etwas Dank sagen, denn das hieße dafür danken, daß er unsern Willen getan hat, und wir dürfen doch keinen eigenen Willen haben. — Geschichte des Prozesses der Cadière (Berühmte Prozesse, von Richer, Teil II). — Zitat nach François Richers "Causes célèbres et intéressantes" (Berühmte und interessante Rechtsfälle; Neubearbeitung der 1734 von François Gayot de Pitaval begründeten Sammlung), Band z: "L'Histoire du procès de la Cadière contre Girard" (Die Geschichte des Prozesses der Cadière gegen Girard), Amsterdam 1772, S. 212 ff. Die religiöse Schwärmerin Catherine Cadière (erste Hälfte des 18. Jahrhunderts) hatte gegen den Jesuitenpater Girard ausgesagt, der daraufhin als Ketzer verurteilt worden430 Sapienti sat - (lat.) Dem Eingeweihten genügt das; es bedarf keiner weiteren Erklärung.431 et homo factus est - (lat.) und er ist Mensch geworden; Worte aus dem athanasianischen Glaubensbekenntnis, das als "Credo" in die katholische Messe integriert wurde.432 Hamanns - Johann Georg Hamann (1730-1788), philosophischer Schriftsteller aus Königsberg; seiner mystischen Bildersprache wegen der "Magus des Nordens" genannt. Neben Hoffmann hat auch Goethe auf das humoristische Element in den Schriften Hamanns hingewiesen ("Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit", Dritter Teil, Zwölftes Buch).Hippels, - Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796), Schriftsteller aus Königsberg, ein Onkel von Hoffmanns Freund; verfaßte humoristische Abhandlungen, darunter "Lebensläufe nach aufsteigender Linie" (1778-1781).Scheffners - Johann Georg Scheffner (1736-1820), Schriftsteller aus Königsberg, Verfasser satirischer Lyrik.433 in partibus infidelium - (lat.) in den Gebieten der Ungläubigen. Paphos - Das antike Paphos (Palaipaphos), an der Südwestküste der Insel Zypern gelegen, war das Zentrum des Kultes der Aphrodite, der griechischen Göttin der Liebe, die hier nach der Legende dem Meere entstiegen sein soll, weshalb ihr ein prächtiger Tempelbau geweiht war. Mit der Erwähnung dieser Stadt spielt Hoffmann auf die erotischen Neigungen Zacharias Werners an. Zahlreiche Erotika des 18. Jahrhunderts nannten Paphos als fingierten Verlagsort.Sylvester, - eine Erzählung vorzulesen... - Gemeint ist die Erzählung "Der Zusammenhang der Dinge", die zugunsten der "Erscheinungen" verschoben wird.dem längst versprochenen Märchen - Das den Abschluß der "Serapionsbrüder" bildende Märchen "Die Königsbraut" war eigentlich schon als Beitrag für den Dritten Band gedacht.434 mauvais sujet - (franz.) schlechtes Subjekt, Taugenichts.eine Kleinigkeit -, die ich vor mehreren Jahren... niederschrieb - Vgl. die Entstehungsgeschichte zur folgenden ErzählungErscheinungenDiese Prosaskizze über ein Ereignis des Kriegsjahres 1813 trägt autobiographische Züge. Hoffmann läßt den Helden des "Goldnen Topfes", Anselmus, über die Kämpfe im November 1813 zwischen den französischen Truppen in Dresden und den russisch-preußischen Koalitionskorps, die gegen die Stadt vorrückten, berichten.Die Datierung der "Erscheinungen" ist schwierig. Es ist anzunehmen, daß sie ursprünglich zu dem Material für eine geplante "Broschur" gehörte, die Hoffmann in einem Brief vom 28. Dezember 1813 dem Bamberger Verleger Kunz ankündigte und die seine "individuellen Ansichten jener wichtigen Ereignisse in D[resden], auf pittoreske Weise erzählt, enthalten" sollte. Am 16. Januar 1814 stellte er Kunz dann seine "Erinnerungen aus Dresden im Herbst 1813" für den Dritten Band der ,.Fantasiestücke" in Aussicht, verwirklichte das Vorhaben jedoch nicht. (Im Herbst 5855 — ein reichliches Jahr nach dem Erscheinen dieses Bandes - wurde lediglich ein Teil der intendierten Erzählung fragmentarisch ausgearbeitet.)Im Juli 1817 bat der Schriftsteller und Akademieprofessor Friedrich Wilhelm Gubitz den Dichter in einem "Billet" um einen Beitrag für seine "Gaben der Milde. Zweites Bändchen. Für die Buchverlosung ,zum Vorteil hülfloser Krieger'" (Berlin 1817). Es ist sehr wahrscheinlich, daß Hoffmann für den wohltätigen Zweck die Reminiszenz neu aufgearbeitet bzw. das konzipierte Teilstück druckfertig gemacht hat. Mit der Zusage: "Unter dem Titel ,Das Traumbild' [im Druck geändert in "Erscheinungen"] werde ich zu dem bewußten Zweck so bald als möglich eine Kleinigkeit liefern", beantwortete Hoffmann Gubitz' Schreiben am 24. Juni 1817 und übersandte ihm einen Monat später das Manuskript. Nur mit unwesentlichen Änderungen übernahm er die "Erscheinungen" 1821 in den Vierten Band der "Serapionsbrüder".434 Belagerung von Dresden - Gemeint ist die Herbstoffensive der russischen und preußischen Truppen gegen die strategisch wichtige Stellung der Franzosen in und um Dresden (29. Oktober bis 11. November 1813), die Hoffmann als Augenzeuge miterlebte (vgl. die Tagebucheintragungen aus dieser Zeit). Anselmus - Hauptfigur des Märchens "Der goldne Topf" (vgl. Band 1 unserer Ausgabe).435 Parapets, - Brustwehr.Sternschanzen, - Befestigung mit sternförmigem Grundriß.Roux' Dictionnaire - Philibert-Joseph le Roux, "Dictionnaire comique, satirique, critique, burlesque, libre et proverbial..." (Amsterdam 1718, danach Lyon 1735; Komisches, satirisches, kritisches, burleskes, freies und Sprichworte enthaltendes Wörterbuch). Das amüsante Lexikon erschien in zahlreichen Auflagen.Spenzer - Bezeichnung für die Anfang des 19. Jahrhunderts in Mode gekommene frackartige Überjacke mit kleinem Schoß.Archivarius Lindhorst - Gestalt aus dem Märchen "Der goldne Topf". Lindhorst ist dort der Beschützer des Anselmus.Agafla - Agaphia: Weibliche Hauptfigur in Zacharias Werners "Kreuz an der Ostsee" (vgl. die zweite Anm. zu S. 419).Astrallampe - Eine 1809 von dem Franzosen Bordier-Marcet in Paris erfundene Leuchte, die aus einem rings um ihren Schirm befindlichen kranzförmigen Ölbehälter gespeist wurde.436 "Morgen früh um acht Uhr sind es gerade zwei Jahre her - Der Ausfall der Franzosen unter Führung des Brigadegenerals Georges Mouton (1770-1838), den Napoloen 1809 zum Grafen von Lobau erhoben hatte, fand am 6. November 1813 statt. Hoffmann schreibt am 1. Dezember 1813 an Hitzig, daß er "mittelst eines sehr guten Glases vom Turm der Kreuzkirche sah, wie der Hr. Graf von der Lobau... sich... nach Torgau durchschlagen wollte, von den Boksdorfer Höhen herabgetrieben und bis unter die Kanonen von Dresden getrieben wurde".,Noli turbare' - "Noli turbare circulos meos": (lat.) "Störe meine Kreise nicht." Mit diesem Ausspruch soll der griechische Mathematiker Archimedes nach der Eroberung seiner Vaterstadt Syrakus den auf ihn eindringenden römischen Soldaten zurückgewiesen haben, der seine in den Sand gezeichneten geometrischen Figuren zerstören wollte.jene Schlacht aller Schlachten - Die "Völkerschlacht" bei Leipzig (16.—19. Oktober 1813), in der die französische Armee unter Napoleon von den russischen, preußischen, österreichischen und schwedischen Koalitionstruppen entscheidend geschlagen wurde.437 Kaffeehause auf dem Altmarkt, - Vgl. S. 444 und die erste Anm. dazu.Schlachten an der Katzbach, bei Kulm - In der Schlacht an der Katzbach siegten am 26. August 1813 die vereinigten russischpreußischen Truppen über die Bataillone des französischen Marschalls Macdonald. - Bei Kulm und Nollendorf wurde am 29. und 30. August 1813 ein französisches Korps, das den Rückzug der Hauptarmee der Koalitionstruppen nach Nordböhmen (nach der Niederlage am 26. und 27. August) abschneiden sollte, vernichtend geschlagen.unser R. - Nach Carl Georg von Maassen ist hier der Advokat Conradi gemeint, der zum Dresdener Kreis um Hoffmann gehörte (vgl. S. 444 f.).der Marschall - Laurent Gouvion, Marquis de Saint-Cyr (1764 bis 1830), der damalige französische Stadtkommandant von Dresden.438 den damals gesprengten Bogen, - Die Elbbrücke war auf Befehl des französischen Marschalls Louis-Nicolas Davoust (1770-1823) am 19. März 1813 gesprengt worden.439 Voila St. Pierre, qui veut pêcher! - (franz.) Hier ist St. Peter, der will fischen!Eh bien, moi pecheur, je lui aiderai a pêcher - (franz.) Nun, ich bin Fischer. ich werde ihm fischen helfen.Qui est cet homme? - (franz.) Wer ist dieser Mensch?C'est un pauvre maniaque... - (franz.) Es ist ein armer Irrer, gut bekannt hier. Man nennt ihn St. Peter, den Fischer.441 dem heiligen Andreas - Apostel Christi, Bruder des Petrus, mit diesem zusammen Fischer zu Kapernaum am See Genezareth. Nach der Legende wurde Andreas zum Apostel von Konstantinopel und ersten Apostel der Russen.Piroggen - Gefüllte russische Teigpasteten.442 Allons! - (franz.) Gehen wir!443 als die Kapitulation geschlossen - Am 11. November 1813 wurden zwischen dem österreichischen General der Kavallerie Johann Graf von Klenau (1758-1819) und dem französischen Marschall Gouvion de Saint-Cyr die Verhandlungen über die Kapitulation Dresdens abgeschlossen.444 in dem Hinterstübchen eines Kaffeehauses versammelten - Hoffmann berichtet im Tagebuch (September bis 29. November 1813) des öfteren über seine Besuche im Stammlokal am Dresdener Altmarkt, Ecke Seegasse, dessen Wirt Eichelkraut hieß (vgl. die Dritte Vigilie des "Goldnen Topfes", Band 1 unserer Ausgabe). Zu Hoffmanns Tischrunde gehörten u. a. die Dresdener Schriftsteller und Redakteure Gottfried Winkler (Pseudonym: Theodor Hell; 1775-1856), Friedrich Kind (1768-1843), der Textdichter des "Freischütz", sowie Friedrich August Schulze.444 Ein sehr gemütlicher, liebenswürdiger Dichter - Friedrich August Schulze (1770-1849), unter dem Namen Friedrich Laun bekannter Schriftsteller, Verfasser zahlreicher Unterhaltungsromane; er zählte eine Zeitlang zu Hoffmanns Tischgefährten im Kaffeehaus von Eichelkraut. "Gemütliche Bekanntschaft mit Laun gemacht", lautet eine Tagebucheintragung vom 1. Oktober 1813 (1. Oktober: "Abends Eichelkraut / Laun sehr gemütliche Unterhaltung"; 25. Oktober' dem Laun die ,Undine' gegeben - gemütliche Stimmung.").auf den obersten Boden des Hauses gestiegen - Laut Tagebucheintragung vom 17. Oktober 1813 verfolgte Hoffmann die Kriegsereignisse des öfteren vom "Bodenfenster des Baumannschen Hauses" aus.(ein Advokat) - Vgl. die dritte Anm. zu S. 437.445 Gouvion St.-Cyr -Vgl. die vierte Anm. zu S. 437.447 wie Junker Tobias vorschlägt - In Shakespeares Komödie "Was ihr wollt" (11,3) begrüßt der Junker Tobias den eintretenden Narren mit den Worten: "Willkommen, du Eselskopf. Laß uns einen Kanon singen." Weiter heißt es im Dialog: "Wollen wir die Nachteule mit einem Rundgesang aufstören, der einem Leinweber drei Seelen aus dem Leibe haspeln könnte?" (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel).Signor Capuzzi - Anspielung auf die komische Figur in Hoffmanns Erzählung "Signor Formica".Terzetto buffo - (ital.) Komisches Gesangsstück für drei Solostimmen.448 Oh dio! addio - lasciami mia vita - (ital.) Oh, Gott! adieu - laß mich, mein Leben.Catalani - Angelica Catalani (1779-1849), italienische Sängerin, die in den Hauptstädten Europas gefeiert wurde. In Deutschland gastierte sie 1816 und 1818."Indice de' teatrali spettacoli" von 1791 - (ital.) "Verzeichnis der Theaterschauspiele" von 1791. Diesem Jahrbuch sind auch die im folgenden genannten Namen von Sängern und Sängerinnen entnommen.448 Oh-dio's und Ah-cielo's - O und Ach-Himmel's."Le Gare generöse" - "Die großartigen Wettbewerbe" (1786), Opera buffa von Giovanni Paisiello (1740-1816).che vedo - (ital.) was sehe ich.,La Donna di spirito' del Maestro Mariello - (ital.) "Die geistreiche Frau" des Meisters Mariello. Ein Komponist dieses Namens ist nicht nachweisbar.briconaccio - (ital.) Gaunerei."Pirro Re di Epiro" - "Pyrrhos, König von Epiros" (1792), Oper von Niccola Antonio Zingarelli (1752-1837).maledetti - maledetto: (ital.) verflucht.449 Rabbia - (ital.) Wut.Achter AbschnittDer Zusammenhang der DingeDer Herausgeber der "Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode", Johann Schickh, hatte sich Ende Februar 1819 an Hoffmann mit der Bitte um einen Beitrag gewandt und in seinem Blatt am 25. März 1819 die Bedingungen eines Preisausschreibens für eingesandte literarische Arbeiten bekanntgegeben. Der Dichter reagierte umgehend und schrieb am 11. März 1819 an seinen Berliner Verleger Georg Reimer: "Wo könnte ich wohl das Wiener Zeitblatt für Kunst, Mode und Literatur zu sehen bekommen? Ich bin gestern zum Mitarbeiter mit 8 Gulden pr. Bogen aufgefordert worden..Hoffmann persifliert in der - wahrscheinlich in der ersten Hälfte des Jahres 1819 entstandenen - Erzählung das in der wissenschaftlichen und belletristischen zeitgenössischen Literatur verbreitete Weltbild des mechanischen Materialismus, der die Ergebnisse der klassischen Physik verabsolutiert und die Gesetzmäßigkeiten der Natur sowie die physischen und geistigen Prozesse auf mechanische Bewegungsformen reduziert. (Ausdruck dieser damals populären Ansichten waren u. a. die in Mode gekommenen mechanischen Kunststücke mit Musikautomaten und Maschinenmenschen, die den Autor mehrfach zur Stellungnahme herausgefordert haben; vgl. "Der Sandmann" in Band 3 und "Die Automate" in Band 4 unserer Ausgabe.)

Die Binnenhandlung verlegt der Dichter in die Zeit des spanischen Befreiungskrieges (1808-1814). Carl Georg von Maassen weist nach, daß Hoffmann Carl Venturinis "Geschichte der spanisch-portugiesischen Thron-Umkehr und des daraus entstandenen Kriegs" (Altona 1813) als Quelle benutzt und daneben zahlreiche Einzelheiten zeitgenössischen Zeitschriften entnommen hat, die viele Aufsätze über die spanischen Kriegsereignisse veröffentlichten, sehr wahrscheinlich auch Vorabdrucke einzelner Abschnitte des erst 1821 gedruckt erschienenen Werkes "Der siebenjährige Kampf auf der pyrenäischen Halbinsel vom Jahre 1807 bis 1814..." von Franz Xaver Rigel. Auch Berichte von Offizieren des Stammtischkreises bei Lutter und Wegner, die im spanischen Befreiungskrieg gekämpft hatten, können Anregungen zur Gestaltung des Sujets gegeben haben.

Am 12. Februar 1820 teilte Schickh den Lesern seines Blattes mit, daß nach dem "einstimmigen Urteile" der Jury "der erste Preis mit fünfundzwanzig Dukaten der Erzählung unter dem Titel ,Der Zusammenhang der Dinge' . - . zuerkannt worden" sei. Sie erschien in den Nummern 20-27 seiner Zeitschrift vom 55. Februar bis 2. März 1820.

In einem Brief an Georg Reimer vom 6. September 1820 äußerte Hoffmann die Absicht, "Der Zusammenhang der Dinge' (die Wiener Preiserzählung)" in den Vierten Band der "Serapionsbrüder" aufzunehmen. Da der Autor nicht im Besitz der vollständigen Belegexemplare war, obwohl er diese bei Schickh angemahnt hatte, bat er am 7. Januar 1821 den Berliner Publizisten und Akademieprofessor Friedrich Wilhelm Gubitz. ihm die fehlenden Hefte der Wiener Zeitschrift zu überlassen - mit der Begründung in diesem Augenblick ist der Druck des Vierten Teils der ,Serapionsbrüder' bis zu der Stelle vorgerückt, wo meine Erzählung ,Der Zusammenhang der Dinge', deren Anfang jene Stücke des Wiener Blattes enthalten, eingerückt werden soll, und vergebens ist all mein und meines Verlegers Mühen geblieben, die Blätter hier irgendwo aufzutreiben." Nach Vervollständigung der Druckvorlage konnten die Setzarbeiten fortgeführt werden, so daß die Erzählung - nur mit geringfügigen stilistischen Änderungen versehen - Ostern 1821 im Band 4 des Werkes erscheinen konnte.

455 Begleiter der holden Glücksgöttin - Anspielung auf das Geschehen im Prolog des Zweiten Teils von Ludwig Tiecks Märchendrama "Fortunat" (1815), in dem die Glücksgöttin Fortuna mit ihrem den Zufall verkörpernden Diener vor Gericht auftritt, wobei dieser die Versammlung mit der von Hoffmann geschilderten Aufführung von seiner Existenz zu überzeugen sucht.451 das ganze Weltsystem - gleicht einem großen, künstlich zusammengefügten Uhrwerk... - Anspielung auf den mechanischen Materialismus (vgl. S. 676).Goethes schönen Gedanken vom roten Faden - Vgl. Goethe, "Die Wahlverwandtschaften", Zweiter Teil, Kap. z.453 tanzte ein Mädchen mit verbundenen Augen... - Parallele zu Goethes Mignon-Erzählung in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (Zweites Buch, Kap. 8); sie wird durch den Ausruf Ludwigs (vgl. S. 456) noch unterstrichen.Fandango - Traditioneller spanischer Nationaltanz, der von Kastagnetten und Gitarre begleitet wird. Spanische Tänze wurden damals in Deutschland als Ausdruck antinapoleonischer Gesinnung bevorzugt.454 mächtiger sauste und brauste das Tambourin, rauschten die Saiten der Chitarre - Anspielung auf eine Textstelle in Clemens Brentanos Singspiel "Die lustigen Muskanten" (1803), das Hoffmann vertont hatte: "Da sind wir Musikanten wieder, / Die nächtlich durch die Straßen ziehn, / Von unsern Pfeifen lust'ge Lieder / Wie Blitze durch das Dunkel fliehn. — / Es brauset und sauset / Das Tamburin, / Es prasseln und rasseln / Die Schellen drin..."457 "Laure l'immortal al gran Palafox...!" - (span.) "Unsterblicher Lorbeer dem großen Palafox, / Spaniens Ruhm und Frankreichs Schrecken!" Anfangszeilen eines spanischen Volksliedes, das dem durch die Verteidigung von Saragossa (August 1808 bis Februar 1809) gegen die französischen Okkupanten berühmt gewordenen spanischen General José Palafox y Melzi (1760-1847), seit 1808 Generalkommandant von Aragonien, gewidmet ist.458 Lorca - Hauptstadt der spanischen Provinz Murcia mit zahlreichen Baudenkmälern aus der Zeit arabischer Herrschaft (vgl. S. 459).461 Grafen Walther Puck! - Carl Georg von Maassen nimmt an, daß der Graf Puck eine Karikatur des Grafen Hermann von Pückler-Muskau ist. Über Hoffmanns Verhältnis zu Pückler vgl. "Das öde Haus" und die Anmerkungen dazu (Band 3 unserer Ausgabe).461 Pikett - Ein französisches Kartenspiel (auch Rummelpikett oder Feldwache genannt) für zwei Personen, wobei der Gewinn demjenigen zufällt, der die meisten Punkte bzw. Partien gewonnen hat.463 Rinaldo in Fesseln -Anspielung auf den Titelhelden in Christian August Vulpius' Erfolgsroman "Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann" (3 Bände, 1797-1800), der damals ein großes Lesepublikum begeisterte.464 ein verschollenes Buch, worin die mechanistische Lehre vom Zusammenhang der Dinge vorgetragen wurde - Carl Georg von Maassen verweist im Zusammenhang mit der Polemik Hoffmanns gegen die mechanischen Materialisten vor allem auf die Werke der Herausgeber der französischen Enzyklopädie (1751-1780). Das ironisch als verschollen ausgegebene Buch könnte das Werk "Systeme de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral" (1770; System der Natur oder Von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt) des französischen materialistischen Philosophen und Mitarbeiters der "Enzyklopädie" Paul Thiry d'Holbach (eigentlich Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach; 1723-1789) sein.Quidproquo - (lat.) Mißverständnis, Verwechslung.465 "Wie sich der Sonne Scheinbild. . ." - Schiller, "Wallensteins Tod" V,3.466 Wellington - Wahrscheinlich Bezeichnung für eine bestimmte Hutform.467 Seite - Ein Contretanz mit sechzehn Personen (acht Paaren). Vestris - Gemeint sein kann sowohl Gaetano Apollino Baldassare Vestris (1729-1808), italienischer Tänzer an der Pariser Großen Oper, wie auch dessen Sohn Marie-Jean-Augustin Vestris-Allard (1760-1842), der ebenfalls ein sehr erfolgreicher Solotänzer war.Gardel -Pierre-Gabriel Gardel (1756-1841), französischer Tänzer.468 der gute Cochenille - Scherzhafte Anspielung auf die Livree des Kammerdieners (vgl. "im roten Rock", S. 470). Cochenille ist der Name für verschiedene Schildlausarten, deren Körperflüssigkeit einen roten Farbstoff enthält, der zum Färben von Wolle und Seide benutzt wurde.Konsistorialpräsident - Nach Friedrich Holtze (",Das Sanctus' und .Die Brautwahl' von E. T. A. Hoffmann", in: "Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins", 1910, Heft 43) der Konsistorialpräsident und spätere Präsident des "Pupillenkollegs" zu Berlin, von Scheve (Veehs ist ein Anagramm). Er und seine Gattin Wilhelmine (vgl. S. 472) sollen wegen ihrer "großen Wohltätigkeit berühmt" gewesen sein; "die steife Geselligkeit, die sie in ihrem Hause, Friedrichstraße 38, pflegten", habe jedoch als "ebenso feierlich wie langweilig"gegolten.468 Conduite - (franz.) Benehmen, Lebensart.469 die Wirkung spanischer Fliegen - Spanische Fliegen (Pflasterkäfer) enthalten den Giftstoff Kantharidin, der besonders im 17. Jahrhundert als Hauptbestandteil der "italienischen Elixiere" und verschiedener Liebestränke verwendet wurde; er erzeugt heftige Entzündungen, besonders in den Harn- und Geschlechtsorganen.472 Schicksalstragödie - Damals sehr beliebte triviale, auf theatralische Effekte angelegte Dramenart (mit Blutschande, Familienfluch, Verwandtenmord usw.).474 im spanischen Freiheitskriege - unter Wellingtons Fahnen - Vgl. die dritte Anm. zu S. 115. Die militärischen Erfolge der Aufständischen förderten die Befreiungsbewegung in ganz Europa.Romanaschen Korps - Der spanische General Don Pedro Caro y Sureda, Marquis de la Romana (1761-1811) befehligte 1806 im Krieg Napoleons gegen Preußen und Rußland ein Korps spanischer Hilfstruppen, das König Karl IV. von Spanien dem französischen Kaiser zur Verfügung gestellt hatte. Nach Beginn des spanischen Befreiungskampfes kehrte Romana in sein Vaterland zurück, um für die Unabhängigkeit Spaniens zu kämpfen.475 ,Profecia del Pirineo' - (span.) "Die Prophezeiung des Pyrenäus". Hoffmann kannte, wie Text und Fußnote (S. Wg) belegen, die in den "Poesias patrioticas" (London 1810; Vaterländische Gesänge) abgedruckten Verse des spanischen Dichters Don Juan Bautista de Arriaza y Superviela (1770-1837) aus der 1814 in Berlin erschienenen zweisprachigen Ausgabe "Profecia del Pinneo de Dn. Juan Bautista de Arriaza. Die Prophezeiung des Pyrenäus, gedichtet bei dem Einbruche der Franzosen in Spanien. Aus dem Span. des Don Juan Baptist de Arriaza, übers. von S. H. Friedländer".Moncayo - Sierra de Moncayo: Gebirge zwischen Altkastilien und Aragonien.477 Vittoria! -Vgl. die dritte Anm. zu S. 115.Suchet - Louis-Gabriel Suchet, Herzog von Albufera (1770 bis 1826), französischer Marschall; befehligte nacheinander zwei französische Korps im Krieg gegen die Spanier. Er eroberte am 28. Juni 1811 Tarragona und besiegte am 9. Januar 1812 den spanischen General Blake bei Valencia (vgl. die dritte Anm. zu S. 478).Sterret - Der Name lautet richtig: Scerret.Contreras -Juan Senen Contreras (1760-1826), spanischer General; leitete die Verteidigung Tarragonas. Die von Hoffmann geschilderten Vorgänge berichtet Heinrich Zschokke in "Der Krieg Napoleons gegen den Aufstand der spanischen und portugiesischen Völker" (Teil I, Aarau 1813, S. 246-249).Man weiß, daß - Suchets Truppen Tarragona im Sturm nahmen - Marschall Suchet belagerte die befestigte Stadt seit dem 24. Mai 1811; erst nach sechsundfünfzigtägiger Belagerung (am 28. Juni) fiel Tarragona bei einem Sturmangriff in die Hand der Franzosen.478 Regiment Almeira - Gemeint ist das nach der spanischen Provinz Almeria benannte Regiment.Guerillas - Die spanischen Freischaren hatten wesentlichen Anteil am Sieg über Napoleon.Joachim Blakes - Joaquino Blake (1759-1827), spanischer General irischer Abkunft; verteidigte als Oberbefehlshaber der Spanier Valencia gegen die unter Suchets Befehl stehenden französischen Streitkräfte. 1812 mußte er die Stadt dem Feind übergeben und wurde als Gefangener nach Frankreich deportiert.479 Alameda - (span.) öffentlicher Spazierplatz; die von drei Baumreihen gesäumte, mit Springbrunnen ausgestattete Promenade Valencias.480 Junta - In Spanien Bezeichnung für jedes politische bzw. Staatsangelegenheiten betreffende Gremium. Die von den Aufständischen im Jahre 1808 gebildete, bis 1813 bestehende Zentraljunta von Sevilla war im Besitz legislativer Vollmachten.Valencia von allen Seiten umzingelt - Die Einzelheiten dieses kriegerischen Ereignisses sowie die Kapitulation durch den Marschall Blake schildert Franz Xaver Rigel (vgl. S. 677).484 Empecinado - (span.) der mit Pech Verhüllte, der Bepichte; Beiname von Don Juan Martin Diaz (1775-1825), dem bedeutendsten Guerillaführer, einem Bauernsohn aus Gastrillo: er wurde später in Verfassungsstreitigkeiten verwickelt, zum Tode verurteilt und hingerichtet.487 Posada - (span.) Gasthaus.490 Isidor Mirr - Venturini (vgl. S. 677) berichtet von einem Gefecht bei Talavera (April 1812), in dem der "Insurgentenchef Isidor Mir" die spanischen Freischärler (eine zweitausend Mann starke "Bande") angeführt habe.492 Moncey -Adrien-Jeannot Moncey, Herzog von Conegliano (1754 bis 1842), französischer Marschall; er rückte 1808 mit einem Armeekorps in Spanien ein, belagerte Valencia, mußte sich aber zurückziehen.494 ,Profecia del Pirineo' - Vgl. die erste Anm. zu S. 475.495 Fandango -Vgl. die zweite Anm. zu S. 453."Laure l'immortal al gran Palafox" - Vgl. die Anm. zu S. 457.496 "Dona, viva listed mil anos!" - (span.) Gnädige Frau, Sie mögen tausend Jahre leben!Trillo - Triller.497 Fiocco - Schleife; tänzerischer Sprung (salto del fiocco), bei dem die Quastenschnüre der Schuhe berührt werden. amön - anmutig.510 einen gewissen Roman einer sonst genugsam geistreichen Frau - Gemeint ist wahrscheinlich der Roman "Corinne ou l'Italie" (1807; Corinna oder Italien) der französischen Schriftstellerin Anne-Louise-Germaine Baronne de Stael-Holstein (1766-1817). Bücher von schrifistellernden Frauen, vor allem historische Romane, wurden damals zahlreich publiziert.Zwar las ich erst seinen "Astrologen" - "Guy Mannering oder Der Astrolog" (1815), Roman von Sir Walter Scott (1771-1832). Hitzig berichtet, daß er dem Freund das Werk des englischen Dichters empfohlen und daß Hoffmann sich gleich am Morgen nach dem Gespräch (8. Januar 1821) in Form einer "sehr merkwürdigen Selbstanschauung" darüber geäußert habe: "Gestern abend war Koreff bei mir und hatte die Güte, mir auf mein Bitten noch ganz spät den ,Astrolog' zu schicken, den ich nächstens lesen werde, da ich ihn in diesem Augenblick -verschlinge. Ein ganz treffliches - treffliches Buch, in der größten Einfachheit reges lebendiges Leben und kräftige Wahrheit! - Aber! - fern von mir liegt dieser Geist, und ich würde sehr übel tun, eine Ruhe erkünsteln zu wollen, die mir, wenigstens zur Zeit noch, gar nicht gegeben ist" ("Aus Hoffmanns Leben und Nachlaß", Berlin 1823, Teil 2, S. 147f.).510 ex ungue leonem - (lat.) An der Klaue (erkennt man) den Löwen.medias in res - (lat.) mitten in die Dinge; zur Sache.511 Smollett - Tobias George Smollett (1721-1771), schottischer Schriftsteller. Auch in seiner Verteidigungsschrift zum Märchen "Meister Floh" vom 23. Februar 1822 (vgl. Band io unserer Ausgabe) verweist Hoffmann auf Smollett, und zwar auf eine humoristische Szene in "The Adventures of Peregrine Pickle" (1751, Die Abenteuer des Peregrinus Pickel).Sternes - Lawrence Sterne (1713-1768), englischer Schriftsteller; er gehörte zu Hoffmanns Lieblingsautoren seit dessen Jugend. Die beiden Romane "The Life and Opinions of Tristram Shandy" (1759-1767; Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy) und "The Sentimental Journey through France and Italy by Mr. Yorick" (1768; Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien) erwähnt der Dichter in seinen Briefen an den Freund Theodor Gottlieb von Hippel (Februar und Mai 1798).Swifts - Jonathan Swift (1667-1745), englischer Schriftsteller und Publizist, Verfasser von "Gullivers Reisen".grauenhaften Zigeunerin - Meg Merillies, hexenartige Gestalt aus Scotts Roman.Die beiden Mädchen im "Astrologen" - Julie Mannering und Mathilde Marchmont, die weiblichen Hauptfiguren des Romans. Hogartbs Milchverkäuferin -Anspielung auf das Blatt "The Enraged Musician" (Der erzürnte Musikus) des englischen Malers und Kupferstechers William Hogarth (1697-1764), das als Mittelpunktsfigur eine Milchverkäuferin zeigt, von der es in Georg Christoph Lichtenbergs "Ausführlicher Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche" (1794) heißt, daß sie "als Schönheit in hoher ländlicher Reinlichkeit" dargestellt sei. Hoffmann erwähnt den Stich bereits in einem Brief an Theodor Gottlieb von Hippel vom 14. Mai 1804.den Weibern eines unserer geistreichsten Dichter -Anspielung auf eine bestimmte Gattung von Frauengestalten im poetischen Werk von Jean Paul (1763-1825). Hoffmann urteilt in Übereinstimmung mit Ludwig Tieck, der in einem Gesprächsteil seines "Phantasus..." schreibt' so vortreiflich er auch einzelne Individuen des weiblichen Geschlechts beobachtet und dargestellt hat, vorzüglich die geringeren Naturen, die höheren erbaut er freilich statt aus Fleisch und Gebein fast nur aus Schwermut und Nebel, doch blitzt oft ein herrliches Wort und tiefe Wahrheit auch aus diesen Wolken heraus" (Band 2, Berlin 1812, S. 386).512 Byron - George Noel Gordon Lord Byron (1788-1824), englischer Dichter; sein episches Gedicht "The Siege of Corinth" (1816) war unter dem Titel "Die Belagerung von Korinth" schon 1817 in deutscher Sprache erschienen.Moore - Thomas Moore (1779-1852), irischer romantischer Dichter, Biograph Byrons.seinen "Vampir" hab ich gar nicht lesen mögen - Das Prosastück "Der Vampir. Eine Erzählung aus dem Englischen des Lord Byron. Nebst einer Schilderung seines Aufenthalts auf der Insel Mitylene" (Leipzig 1819) wurde Byron fälschlicherweise zugeschrieben. Der tatsächliche Verfasser dieser unter dem Titel "The Vampire. A Tale" zuerst im Aprilheft 1819 des Londoner "New Monthly Magazine" erschienenen Gruselgeschichte ist Byrons Arzt und Freund William Polidori, der die ihm vom Dichter mitgeteilte Story frei nacherzählt hat. Rezensionen zum "Vampir" mit dem Hinweis auf Byrons Autorschaft waren im Jahre 1819 u. a. in der "Dresdener Abendzeitung" und in Friedrich Wilhelm Gubitz' "Gesellschafter" erschienen."M. Michael Ranffts, Diaconi zu Nebra, Traktat.. ." - Michael Ranfft (1700-1774), Verfasser historischer und biographischer Werke; der Titel der 1734 in Leipzig erschienenen Schrift wird von Hoffmann nahezu exakt wiedergegeben.nach den Berichten aus Ungarn - Ranfft entnahm sie der Schrift "Aktenmäßige und umständliche Relation von denen Vampiren oder Menschensaugern, welche sich in diesem und vorigen Jahren im Königreich Servien herfürgetan. Nebst einem Raisonnement darüber und einem Handschreiben eines Offiziers des Prinz-Alexandrischen Regiments aus Medvedia in Servien an einen berühmten Doctorem der Universität Leipzig" (Leipzig 1732).514 ,Liebeszaubers' -Vgl. S. 23 und die erste Anm. dazu.was Tieck seinem Manfred -in den Mund legt - Hoffmann rekapituliert im folgenden die Argumente, mit denen Manfred in Ludwig Tiecks "Phantasus ." (Bandi, Berlin 1812, S. 314 ff.) den von den weiblichen Zuhörern gerügten "Ton" der vorgetragenen "gräßlichen" Schauergeschichte rechtfertigt.515 Kleists "Bettelweib von Locarno" - Vgl. Band 4 unserer Ausgabe, die erste Anm. zu S. 127.[Vampirismus]Die "gräßlich gespenstische Geschichte", die Theodor "in einem alten Buche gelesen zu haben" (S. 535) sich erinnert, ist Anfang 1821 entstanden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Erzählung auf heute nicht mehr bekannte Quellen zurückgeht. Carl Georg von Maassen verweist in diesem Zusammenhang auf die "Geschichte Sidi Numans und seiner Stute" in der orientalischen Märchensammlung "Tausendundeine Nacht".Die dem Gespräch über Walter Scott und Byron (zu dessen apokrypher Erzählung "Der Vampir"vgl. die dritte Anm. zu S. 512) folgende Gruselgeschichte erschien im Vierten Band der "Serapionsbrüder" (1821) zum erstenmal.527 Beispiele von den abnormsten Gelüsten, - Eine Sammlung derartiger Beispiele fand Hoffmann in Johann Christian Reils "Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen" (vgl. Band 4 unserer Ausgabe, die zweite Anm. zu S. 394).528 daß sie auch nicht das mindeste an Speise zu sich nahm... - Für die nun folgende Entwicklung des Motivs bringt Maassen eine Aufstellung von Parallelstellen aus der "Geschichte Sidi Numans531 Asa foetida - Stinkender Asant (Teufelsdreck): das unangenehm riechende und schmeckende Gummiharz der Ferula-Pflanze, das als Arzneimittel vor allem bei nervösen Störungen verabreicht wurde und auch (vorwiegend im Orient) zum Würzen der Speisen diente.531 con amore - (ital.) mit Liebe.Höllenbreughel - Der niederländische Maler Pieter Breughel (oder Brueghel) der Jüngere (um 1564-1638) erhielt, weil er häufig Spukszenen und Feuersbrünste darstellte, den Beinamen "Höllenbreughel" (zur Unterscheidung von seinem Vater, der hauptsächlich das Bauernleben schilderte und daher "Bauernbreughel" genannt wurde).[Die ästhetische Teegesellschaft]Mit dieser Anekdote wechselt Hoffmann bewußt das Thema und bringt als Kontrast zur vorausgehenden Schauergeschichte eine Persiflage gewisser Erscheinungsformen der damaligen "besseren Sozietät", die er bei Gelegenheit sogenannter "literarisch-musikalischer Tees" bis zum Überdruß genossen hatte. Bereits in den "Fantasiestücken" nahm er mit ironischen Betrachtungen dazu Stellung (vgl. besonders die "Kreisleriana" Nr. 1 und 3 sowie das Zeitstück "Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza"; Band 1 unserer Ausgabe); seitdem wiederholt sich das Motiv in immer neuen Variationen in seinen Werken.Die im vorliegenden Text abgedruckten vier Gedichte stammen aus der Zeit, als Hoffmann bereits ein arrivierter Dichter und begehrter Gast der Berliner Salons war. Die im Jahre 1819 entstandenen "Pröbchen" seiner parodistischen Kunst sandte der Autor in einer Zuschrift "An die Herausgeber des ,Freimütigen für Deutschland'" ("Der Freimütige für Deutschland. Zeitblatt für Belehrung und Aufheiterung", herausgegeben von Karl Müchler und Johann Daniel Symanski) "mit der Bitte, für ihren Abdruck irgendwo zu sorgen". Sie erschienen am 53. März 1819 (im ersten Jahrgang, Nr. 52) mit der folgenden ironischen Einleitung:"Da besagte Epigramme ganz in dem neuesten Stil, wie man jetzt dergleichen Gedichte zu lesen pflegt, gedichtet sind, so zweifle ich gar nicht daran, daß sie ganz erstaunliche Sensation machen werden, und ersuche daher Ew. Wohlgeboren, die vier Stücke, welche ich als Pröbchen beifüge, gütigst in Ihr Zeitblatt aufzunehmen. Darf ich mir selbst ein Urteil über diese Gedichte anmaßen, so bewundere ich in No. I die funkelnde Spitze, finde No. 2 beinahe zu beißend, fühle mich durch das in No. 3 verkündete Wunder sowie durch das tiefe andächtige Gefühl, das im Ganzen atmet, hingerissen und meine, daß die Wehmut in No. 4 beinahe zu schmerzhaft die Brust zerreißt.

Hochachtungsvoll etc.

Hffmnn."

Im "Freimütigen" erschienen die Gedichte in dieser Reihenfolge: Nr. I "Schlagender Witz", Nr. 2 "Beißende Replik", Nr. 3 "Italiens Wunder", Nr. 4 "Lebenstiefe".

Für den Wiederabdruck im Vierten Band der "Serapionsbrüder" (1821) erfand Hoffmann eine entsprechende anekdotische Einleitung und änderte die Reihenfolge der Gedichte.533 Lebenstiefe -Vgl. S. 54 und die vierte Anm. dazu.535 jenen Ausspruch Hamlets - Shakespeare, "Hamlet" 111,2.Die KönigsbrautDer Plan zu dem ursprünglich für den Dritten Band der "Serapionsbrüder" bestimmten Märchen reicht bis in das Jahr 1819 zurück. "Den Dritten Band schließe ich in diesen Tagen auch mit einem funkelnagelneuen Märlein [analog der Komposition der vorhergehenden Bände], so daß er wohl auch achtunddreißig Bogen stark ausfallen wird", schrieb Hoffmann am 5. September 1820 an den Verleger der Buchausgabe, Georg Reimer. Da jedoch die Zeit drängte, blieb die Absicht unausgeführt.Die poetische Idee des Textes gehört zu den originellsten Erfindungen des Dichters. Als wahrscheinlich einzige, dafür aber um so ausgiebiger benutzte Quelle für die Elementargeister-Szenerie und -Anekdoten hat Hoffmann das Werk "Comte de Gabalis ou Entretiens sur les sciences secrètes" des Abbé Montfaucon de Villars vorgelegen. Nach Carl Georg von Maassen handelt es sich dabei um einen der zahlreichen Nachdrucke der französischen Originalausgabe (Paris 1670). Es ist aber auch möglich, daß der Autor die Übersetzung "Graf von Gabalis oder Gespräche über die verborgenen Wissenschaften" (Berlin :782) benutzt hat. Die Andeutungen über die Herkunft der Ring-Anekdote im nachfolgenden Gespräch der Serapionsbrüder (S. ~f.) sind nicht mehr zu entschlüsseln. Anregungen für die Schilderung der ländlichen Idylle, die Erfindung des seltsamen Schloßbaues, dessen Besitzer in einem runden Wachtturm astrologische

Studien betreibt, gehen auf Reminiszenzen an Walter Scotts Roman "Guy Mannering oder Der Astrolog" (vgl. die zweite Anm. zu S. 510) zurück. Das Vorbild für die Figur des poetisierenden Studenten Amandus von Nebelstern, mit der Hoffmann eine glänzende Parodie zeitgenössischer literarischer Untugenden liefert, ist nicht mehr zu ermitteln.

Der Autor begann mit der Niederschrift dieses Märchens vermutlich Ende des Jahres 1820. Es erschien ohne vorhergehenden Separatdruck erstmals im Vierten Band der "Serapionsbrüder" (1821).537 wie weiland das Schloß des Herrn Baron von Tondertonktonk in Westfalen - Anspielung auf Voltaires satirischen Roman "Candide ou l'optimisme" (1759; Candide oder Der Optimismus), wo es im Kap. 1 heißt: "Der Herr Baron Hans Jost Kurt von Donnertrunkshausen [im französischen Original: "Thunder-tentronkh"] war einer von den Matadoren in Westfalen, denn sein Schloß hatte Tür und Fenster ." (Übersetzung von Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius).rohem Schinken, . in Bayonne bereitet - Die in der französischen Hafen- und Handelsstadt hergestellten Delikateßschinken nach spanischer Art erfreuten sich damals großer Beliebtheit.538 bunter Plümage - Eine Art des grünen und braunen krausartigen Kohls.Rapuntika - Rapunzelwurzel.Turneps - turnip: (engi.) Steckrübe.Grünkopf, Montrue... Mogul ...Prinzenkopf - Arten des Gartensalats.543 Zieh mich heraus...! - Anklang an das Grimmsche Märchen ..Frau Hohe".Das gnomische Prinzip wird widerstehen dem ankämpfendenSalamander -Vgl. S. 551 und die dritte Anm. dazu.Pastinak - Der Möhre ähnliche Gemüsepflanze.546 gelbe Steinkopf -Kopfsalat.Krupbohnen - Busch- oder Staudenbohne.548 die Topasen im Grünen Gewölbe zu Dresden - Die Garnitur auffallend schöner Topase hatte Hoffmann wahrscheinlich schon von der Zeit seines ersten Dresden-Besuches im August 1798 her in Erinnerung. (Die berühmte Kunstsammlung war bis zum zweiten Weltkrieg im königlichen Schloß untergebracht.)

549 Kalmank - Eine atlasartige, heute Lastin oder Prunell genannte Stoffart aus dichtem Kammgarngewebe.ein kleines Eisen... - Parodistische Anspielung auf die Manipulationen bei der magnetistischen Behandlung von Versuchspersonen (vgl. das Gespräch der Serapionsbrüder über Magnetismus, Band 4 unserer Ausgabe, S. 315-331 und die Anmerkungen dazu).551 heiligen Kabbala. -Vgl. die erste Anm. zu S. 251.die, zur höchsten Stufe gelangt, weder essen noch trinken - "Die Weisen essen nur zu ihrem Vergnügen und nie aus Bedürfnis", heißt es (S. 43f.) in der von Hoffmann benutzten Quelle "Graf von Gabalis..." (vgl. S. 687).die tiefe Erde, die Luft, das Wasser, das Feuer erfüllt ... mit geistigen Wesen - Die seit dem Mittelalter im Volksglauben lebendig gebliebenen Vorstellungen von den Elementargeistern gegehören zu den häufig wiederkehrenden Lieblingsmotiven in Hoffmanns Märchendichtung (vgl. auch Band 4 unserer Ausgabe, die Anm. zu S. 600). Im Gespräch der Serapionsbrüder, das dem Märchen folgt, nennt der Autor selbst seine Quelle (S. 596).zwei Priester, -von denen der Fürst -von Mirandola erzählt - Hoffmann bezieht sich hier wiederum auf eine Passage im "Gabalis". wo es heißt: ..Wie barbarisch war es. die beiden Priester zu verbrennen, von denen der Fürst von Miranda [Mirandola] erzählt, welche vierzig Jahr hindurch ihre Sylphiden gehabt hatten" (deutsche Ausgabe, 1782, 5. 43). Der italienische Humanist Giovanni Pico von Mirandola, Fürst von Concordia (1463-1494) versuchte die Herrschaft des Menschen über die Natur mit Hilfe der Magie (u. a. der kabbalistischen Geheimlehren) zu begründen.552 daß die größten Weisen einer solchen Verbindung - entsprossen - Nach "Gabalis" (deutsche Ausgabe, 1782, 5. 78-97).Zoroaster - Zarathustra oder (griech.) Zoroaster (zwischen 1000 und 500 y. u. Z.), altiranischer Religionsstifter; sein Wirken ist nur legendär überliefert.Apollonius, - Apollonius von Tyana (i. Jahrhundert), griechischer neupythagoräischer Philosoph; trat auch als Prophet und Wundertäter auf.Merlin, - Zauberer und Prophet aus dem Sagenkreis um den keltischen König Artus.552 Melusine - Nach der altfranzösischen Sage eine Meernixe, die zur Stammutter des Geschlechts der Grafen von Lusignan wurde.Paracelsus - Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus (eigentlich Theophrast von Hohenheim; 1493-1541), Arzt und Philosoph, zugleich einer der bedeutendsten Naturforscher des späten Mittelalters; sein Leben gab Anlaß zur Entstehung zahlreicher Legenden.553 Jagdknaster - "Es blühe Sachsen" - Zwei damals beliebte Tabaksorten.Denn die Elementargeister lieben die menschlichen Wissenschaften... - Hoffmann unterstreicht, indem er die Phantasiegeschöpfe der Naturgeisterromantik zu den wissenschaftlichen Anspruch erhebenden Manipulationen und Theoremen des Mesmerismus (nach denen alles Leben in der Natur durch geheimnisvolle "sympathetische Kräfte" verbunden ist) in Beziehung setzt, seine kritische Einstellung zu diesem Thema. Vgl. das Gespräch der Serapionsbrüder über Magnetismus (Band 4 unserer Ausgabe, S. 315-331).554 Cassiodorus Remus - Cassiodorus de Reyna oder Reinius (gest. 1594), Prediger aus Sevilla, Verfasser religiöser Schriften und einer spanischen Bibelübersetzung; er wirkte nach mannigfachen Wanderungen in Frankfurt a. M. als Vorsteher der protestantischen niederländischen Gemeinde. Die phantastische Anekdote berichtet Hoffmann nach Gabalis: "Ein kleiner Gnome war der Geliebte der berühmten Magdalena de! Croce, Äbtissin eines Klosters zu Cordova in Spanien; sie machte ihn glücklich in ihrem zwölften Jahr, und sie setzten ihren Umgang fort bis ins dreißigste. Ein unwissender Beichtvater überredet Magdalenen, ihr Geliebter sei ein Poltergeist, und legt ihr auf, Ablaß bei Papst Paul dem Dritten zu suchen. Unterdessen war es unmöglich der Teufel: denn ganz Europa erfuhr, und Cassiodor Rennus [in der von Hoffmann benutzten französischen Fassung: Cassiodorus Remus] lehrte die Nachwelt das Wunder, das sich alle Tage zu Gunst der Heiligen Jungfrau zutrug . . Ich müßte mich sehr irren, wenn er nicht kühnlich behauptet hätte, der Sylphe, der sich bei der jungen Gertrude, einer Nonne aus dem Kloster Nazareth im kölnischen Sprengel, unsterblich machte, sei ein Teufel.. ." (deutsche Ausgabe, 1782, S. 84f.).556 Er schien absteigen zu wollen... - Hoffmann hat diese Szene nach einer Episode des satirischen Romans "Gargantua et Pantagruel" von François Rabelais (1494-15 53) gestaltet. (Er benutzte die deutsche Ausgabe von 1786.)556 Trochäen... -Vgl. die Anm. zu S. 559.Unzialbuchstaben - Die Unziale ist eine wahrscheinlich schon im 2. Jahrhundert gebräuchliche antike Rohrfederschrift (Buchschrift), die sich von der älteren Majuskelschrift Capitales, die im alten Rom vorwiegend für Inschriften an Bauwerken verwandt wurde, durch gefälligere, abgerundetere Formen unterscheidet.557 einige Kapitel aus dem Lactanz oder aus dem Thomas Aquinas - Der zweite Band des siebenbändigen Hauptwerkes des im Jahre 305 zum Christentum übergetretenen lateinischen Kirchenschriftstellers Lucius Caelius Firmianus Lactantius, "Divinae institutiones" (Göttliche Unterweisungen), behandelt Geistererscheinungen und Dämonen. Im "Gabalis", Hoffmanns Quelle, wird Lactantius zusammen mit dem scholastischen Kirchenlehrer Thomas von Aquino (1224-1275) genannt: "Lactantius verstand das Ding besser, und der gründliche Thomas Aquinas erörterte sehr gelehrt, daß nicht nur diese Verbindung [zwischen Elementargeistern und Menschen] fruchtbar, sondern die daraus erzeugten Kinder edler und heroischer sind" (deutsche Ausgabe, 1782, S. 78).elementarischen Knigge - Ein Lehrbuch über den Umgang mit Elementargeistern. Scherzhafte Anspielung auf Adolph von Knigges Buch "Über den Umgang mit Menschen" (1788).559 Trochäen - Daktylen - Die hier zusammengestellten antiken Versfüße unterscheiden sich nach der Anordnung von langen und kurzen Silben: Trochäus (eine lange und eine kurze Silbe), Spondeus (zwei lange Silben), Jambus (eine kurze und eine lange Silbe), Pyrrhichius (zwei kurze Silben), Anapäst (zwei kurze und eine lange Silbe), Tribrachys (drei kurze Silben), Bacchius (eine kurze und zwei lange Silben), Antibacchius (zwei lange und eine kurze Silbe), Choriambus (eine lange und zwei kurze Silben), Daktylus (eine lange und zwei kurze Silben).561 Kreuzwurzel - Gemeines Kreuzkraut, eine verbreitete Unkrautart.562 Pan Kapustowicz - (poln.) Herr Kohlsohn.Signor di Broccoli - (ital.) Herr von Rosenkohl.Monsieur de Roccambolle - (franz.) Herr von Knoblauch.563 Magdalena de la Croix... - Vgl. die Anm. zu S.565 Nehahilah - Ein nach Gabalis gebildeter Name, dem dieser geheime Wunderkräfte zuspricht.567 Chesterfield - Philippe Dorner Stanhope. Earl of Chesterfield (1694-1773), englischer Staatsmann und Schriftsteller; seine "Letters to his Son" (2 Bände, 1774; deutsch 1774-1777: "Briefe an seinen Sohn, Ph. Stanhope") galten als Lehrbuch für Weltgewandtheit und gute Umgangsformen.Knigge -Vgl. die zweite Anm. zu S. 557.Frau von Genus - Stéphanie-Félicité Gräfin von Genus (1746 bis 1830), französische Schriftstellerin, Gouvernante des späteren Königs Louis-Philippe; sie schrieb zahlreiche sentimentale Gesellschaftsromane (vgl. auch die Entstehungsgeschichte zur Erzählung "Das Fräulein von Scudéri") sowie eine große Anzahl pädagogischer Schriften, auf die Hoffmann hier ironisch anspielt.570 Oberhofmarschall Turneps -Vgl. die dritte Anm. zu S. 538. Bollenartillerie - Bolle: Umgangssprachlich für Zwiebel.571 Daucus Carota - Linnés Bezeichnung für die Möhre.einen einzigen Tag im Jahre regiert... der Bohnenkönig - Nach einem aus Frankreich stammenden Volksbrauch wurde am Dreikönigsfest (6. Januar) derjenige zum Bohnenkönig gekrönt, der bei der Aufteilung des sogenannten Königskuchens die darin eingebackene Bohne in seinem Stück vorfand.574 Ichor - (griech.) Götterblut.575 Friedrich Richter - Gemeint ist der Dichter Jean Paul (1763 bis 1825), der eigentlich Johann Paul Friedrich Richter hieß.577 diable de la jeunesse - (franz.) Teufel der Jugend; soviel wie beauté du diable (Teufelsschönheit): die Schönheit, die nur die Jugend verleiht und die rasch verschwindet.579 Pastinakakademie - Vgl. die dritte Anm. zu S. 543.590 Tasso ... verliebt ... in die Prinzessin Leonore d'Este - Das Leben des italienischen Dichters Torquato Tasso (1544-1595) gab Anlaß zu zahlreichen Legenden. So wurde u. a. von seinen Biographen seine angebliche Liebe zur Fürstin Leonore d'Este und die Rolle seiner Gegenspieler am Hofe von Ferrara phantasievoll "memoriert".594 Sensorium commune - (lat.) das allgemeine Bewußtsein.596 der Gemüskönig - dessen Erfindung ich mir zuschreibe...Gabalis - Es ist zutreffend, daß diese Figur aus dem Reiche der Elementargeister Hoffmanns geistiges Eigentum ist, wohingegen zahlreiche andere Namen und Details der genannten Quelle entlehnt sind (vgl. S. 687).597 mit einem sehr edlen Wein bewirtet ... - Eine literarische Reverenz Hoffmanns gegenüber den Frankfurter Verlagsbuchhändlern Friedrich und Heinrich Wilmans, die ihm nach dem Erfolg des Zeitschriflen-Erstdruckes der später in die "Serapionsbrüder" aufgenommenen Kriminalerzählung "Das Fräulein von Scudéri" voller Freude über die dadurch erzielte Absatzsteigerung ihres Taschenkalenders am z z. Februar 1820 fünfzig Flaschen Rheinwein ("Rüdesheimer Hinterhaus") des berühmten Jahrgangs 1811 hatten zukommen lassen.Der Band erschien bereitsinnerhalb einer anders konzipierten Ausgabe (Berlin und Weimar 1976 ff.).Hoffmann, Ges. Werke in Einzelausg. 1-8 ISBN 3-351-02261-1 Bd.4/5 ISBN 3-351-02265-41.Auflage 1994 Alle Rechte an dieser Ausgabe Aufbau-Verlag GmbH, Berlin und Weimar Einband (Figurine) XAGO Satz Offizin Andersen Ncxö GmbH Leipzig Druck und Binden Schauenburg Graphische Betriebe GmbH, Schwanau Printed in Germany